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Der Tag, an dem (m)ein Leben aufhörte, der Tag an dem mein Leben begann - Ende und Anfang – „Du bist tot, ich lebe noch ein bisschen, dann komm ich auch“

Abschied von Willi

Es gibt Tage, an denen man schon früh spürt, dass sie sich schon im Beginnen erschöpfen, Tage, an denen die Nacht nicht die Frische bringt, aus der man die Kraft und die Zuversicht für den neuen Tag schöpfen kann. Und es gibt Tage, an denen einem die Umstände in die Hände spielen, um früh schon der Erschöpfung nachzugehen, sie umzudeuten zu einer Entdeckung der Langsamkeit. Es gibt Tage, an denen man sich anpasst an die träge, schwüle Stimmung; und wenn einem die Umstände in die Hände spielen, lässt man sich vielleicht umfangen vom Unabwendbaren, man ergibt sich schon früh und wehrt nichts ab. Man lässt sich treiben.

Der 21. Juni 1994 war so ein Tag, ein Tag, an dem die Sonne frühmorgens für kurze Zeit dem beginnenden Tag noch verheißt, eine Perle in der Kette jener Sommertage zu werden, die mit einer trockenen Hitze den Sommer erträglich machen und zu einer stillen Sehnsucht werden, wenn er vorüber ist. Dieser Morgen aber war keine Zäsur. Fast übergangslos war der Abend mit seiner lastenden Schwüle in die Nacht übergegangen und übergab das Staffelholz atemlos dem folgenden Tag. Aber mit Vorsorge und Fürsorglichkeit sollte dies sicher ein schöner Tag werden, für mich. Mit meinen Kindern verheißt mir der Nachmittag Entspannung im kühlen Nass des nahen Schwimmbads. Für meine Schulkinder wird dieser Vormittag schon einige Qualen bedeuten; auf der Laufbahn, bei den Wettkämpfen im Stadion Oberwerth. Diese weihe- und ruhmvolle Stätte zeigt sich am Morgen des 21. Juni von ihrer feinen Seite, eingebettet in den zarten Hauch der mittlerweile voll ergrünten Akazien und in die satteren Grüns an den Ufern des Rheins. Die aufgeregten Kinder mit ihren T-Shirts erscheinen während der Riegen-Einteilung wie ein bunter, tanzender Flohzirkus auf dem fetten Grün des Fußballrasens.

Die Umstände meinen es gut mit mir. Die Riegenführer rekrutieren sich ebenso wie die Wettkampfrichter aus dem Kollegenkreis; hier versehen meist die berufeneren Kolleginnen und Kollegen mit Vereinshintergrund oder Fakultas in Sport die Ämter. Bis zur Siegerehrung bin ich also freigestellt, kann schauen, unterstützen, ermuntern; ich kann mir aber auch eine kleine Zeitnische gönnen und meinen Fantasien nachhängen, ein wenig ruhen, dösen bis uns der Bus mittags wieder zur Schule zurückbringt.

Ich finde ein diskretes Plätzchen abseits der Wettkampfstätten im Schatten einer mächtigen Baumkrone. Inmitten einer grünen Hölle überlasse ich mich dem Farbenspiel eines prächtigen Frühsommertags. Selbst die geschlossenen Augenlider bilden nur eine zarte Membrane, die jene Sonnenstrahlen, die mich durch das Blattwerk erreichen, nur abschwächen. Reibt man sich die geschlossenen Augen, regen die Eindrücke der frischen und kräftigen Sommerfarben, alle Schattierungen von Grün und das intensive Azurblau des Himmels, durchflutet von der grellen Strahlung der Sonne, die verrücktesten Farbkonvulsionen an. Mit geschlossenen Augen tauche ich ein in die lebendige Welt der Farben. Von Ferne nehme ich das sonore Geräusch von Flugmotoren wahr. Es erscheint mir - unter dem Eindruck des Kaiserwetters - unfassbar, dass ich im Alter von 42 Jahren noch niemals geflogen bin. Ich verspüre einen Hauch von Neugier; das wäre ein Tag, um die Welt aus der Vogelperspektive zu genießen. Der Schwüle tief im Rheintal entgehen, schweben wie ein Vogel und ein sattes und fettes Land unter sich:

Aufsteigen vielleicht in der Frühe des Morgens in der Nähe von Koblenz, auf einem kleinen Flugplatz; langsam an Höhe gewinnen, die Landskrone voraus, Ort früher Kindheitserinnerungen, unkalkulierbarer Kletterwagnisse; an diesem beeindruckenden Kegelberg, hinter dem sich das Ahrtal hin zum Rhein öffnet. Jetzt lassen wir ihn mühelos hinter uns und ein einzigartiges Panorama öffnet sich vor unseren Augen. Die Sonne steht noch tief im Osten. Bereits auf einer Höhe von drei- bis vierhundert Metern zieht die Maschine in einer weiten Schleife nach rechts. Der Rhein und jenseits die dicht bewaldeten Höhen des Westerwaldes kommen in den Blick. In die Höhenzüge des rheinischen Schiefergebirges hat der Rhein sein Bett gegraben. Das schon gleißende Silberband wird uns die ersten 150 km Orientierung geben. Jetzt im Juni wirkt dieser Graben irgendwie unwirklich. Das kräftige Grün der Plateaus zu beiden Seiten, hoch über dem Rhein geht auf der rechten Rheinseite in ein zartes Grün über, mit dem die gerade den Knospen entwachsenen Weinblätter das Rheinufer malen. Die „Höhenzüge“ von Eifel und Westerwald erscheinen uns von hier oben wie ein lebendiges Legoland. Vertrautes Terrain aus einer fremden, für drei der „Flieger“ ebenso angsteinflößenden wie faszinierenden Perspektive. Gen Süden geht es, zuerst Andernach - zur Rechten - dann Neuwied - zur Linken - ziehen vorbei. Jetzt öffnet sich das Neuwieder Becken und Koblenz, der Knotenpunkt, an dem der Rhein, Mosel und Lahn aufnimmt, lässt sich erahnen. Monoton und sonor brummt der Motor und in Vertrauen erweckender Weise zeichnet der Propeller einen präzisen Kreis in die klare Morgenluft. Die Anspannung ist gewichen und langsam gewinnt eine gleichermaßen angeregte wie euphorische Gemütsverfassung die Oberhand; Vorfreude auf vier schöne Tage in Österreich. Voraus, im enger werdenden Rheintal, regt das hochaufragende Brauhaus der Königsbacher Brauerei zu mancherlei Sehnsüchten und Scherzen an. Vorgelagert das über die Region hinweg bekannte Stadion Oberwerth, Kampfstätte der legendären TUS-Mannschaft der frühen 50er Jahre. Die Sonne steht jetzt schon höher. Im Westen bleibt der Sendeturm auf dem Kühkopf zurück, Hunsrück zur Rechten und Taunus zur Linken. Der Pilot weist auf den Loreley-Felsen hin und verströmt gleichermaßen gute Laune wie unbegrenzte Vertrauenswürdigkeit. 30 Jahre Erfahrung als Pilot, Fluglehrer und zuletzt Bordoffizier auf der Maschine der Bundesluftwaffe, die alle wichtigen Auslandsflüge des Auswärtigen Amts realisiert. Wer Genscher und Kinkel über die Ozeane trägt, dem muss der Flug nach Zell am See in Österreich vorkommen, wie der Ausflug eines Grashüpfers von einer Wiesenscholle zur nächsten. So wirkt die Stimmung gleichermaßen gelassen wie ausgelassen; vier Urlaubstage bei Kaiserwetter, optimale Flugbedingungen, Mainz und Wiesbaden voraus.

Der Pilot erklärt eine Kursänderung, Süd-Südost. Im Norden lassen sich die Bankentürme von Frankfurt erahnen, während jetzt der Main ein Stück weit die Richtung weist. Zwischen Odenwald und Spessart hindurch schlüpft die einmotorige Jodel DR-400 und nimmt Kurs auf Würzburg, das man nordöstlich liegen lässt, immer noch Kurs Süd-Südost. Im gleißenden Sonnenlicht verändert sich die Landschaft; nein nicht so sehr die Landschaft, sondern das, was die Menschen hinzugefügt haben. Die Dörfer haben jetzt rote Mützen und es überwiegen weite, ausgedehnte Getreidefelder. Erst südwestlich von Nürnberg werden die Felder wieder von ausgedehnten Wäldern unterbrochen. Hier wird Hopfen angebaut und weite Kartoffelfelder reichen bis zum Altmühltal. Schon kündigt sich das Donaumoos an. Jetzt sind es vielleicht noch ein bis 1 1/2 Stunden Flug. Dieser Morgen mit einer vielversprechenden Großwetterlage löst ungeahnte Glücksgefühle aus.

Vom Rheinischen Schiefergebirge bis zur Fränkischen Alb eine Tour d’Horizon über deutsche Landschaften. Deutschland ist schön, Bayern ist schön. Es ist, als entdecke man die Welt neu, als bringe man Sonne übers Land. Alle Sorgen und Nöte verblassen. Dies ist ein unglaublich kraftvolles Motiv. Mit den sphärischen Klängen von V’Angelis’ „1492" entschwebt man in eine andere Welt. Im Dahingleiten des leichten Viersitzers verliert sich das monotone Geräusch des Motors zu einem elementaren Daseinsmoment, nur entfernt, eher körperlich in leichten Vibrationen wahrnehmbar. Der Schwebezustand der Jodel (ver)führt bei den Sphärenklängen der Musik fast zu einem Verschmelzen von Körper, Geist und Maschine. Die Landschaft des Voralpenlandes wirkt wie eine riesige Puppenstube. Dies scheint nahezu das Erhabenste, zu dem sich Menschen mit Maschinenkraft aufschwingen können; einem Vogel gleich - und doch so verschieden - als Wesen, das seine Erlebnisfähigkeit zu orgiastischen Gefühls-Konvulsionen zu steigern vermag, in denen sich Fühlen und Denken undifferenziert zu endlosen Implosionen verströmen. Die Ruhe des Schwebens im hellen, unbegrenzten Raum, das Zittern und Beben in einem anderen Daseinszustand geben eine Ahnung davon, wie leicht und unbeschwert, wie losgelöst das Leben sein könnte; die Ungebundenheit bald hier, bald dort zu sein, über sich und die Umstände machtvoll und spielerisch verfügen zu können, hebt einen hinaus aus der Routine und den Beschwernissen des Alltags.

 

Was ich zuerst erinnere war eine Ungläubigkeit, bei aller Realitätsmacht; die deutliche Haltung, dies alles sei ein Irrtum, die Tatbestände, das Geschehen, die darin verwickelten Personen unklar - alles klärt sich auf im Sinne eines tragischen Irrtums. Es sind die Umstände der ersten Berührung mit einer Tatsache, die man nicht zulassen kann, die Traumata bestätigen und mobilisieren, atavistische, ahnungsvolle Motive, die sich im neuzeitlichen Lebensalltag erhalten: Dies kann das nächtliche Telefonklingeln sein, zu einer Zeit, wo nur „Ungewöhnliches“ und Tragisches, Schlimmes mitteilungswürdig sind. Alles andere kann warten. Es waren der weiße Passat und Claudias Gegenwart an einem ungewohnten Ort zu einer ungewohnten Zeit: „Was willst du hier und jetzt, was kannst du mir mitteilen wollen, was nicht per Telefon mitteilungsfähig wäre? Ich habe mein eigenes Auto hier, hier an meinem Arbeitsplatz, und ich wäre eine halbe Stunde später zu Hause gewesen, an einem normalen, nein, an einem ungewöhnlich schönen, heißen Frühsommertag, an einem 21. Juni des Jahres 1994. Also sag, was willst du? Ich bin noch nicht dem Bus entstiegen, ich muss noch meine Kinder abliefern, 200 Meter weiter, in der Willi-Graf-Schule!“

Auch schon hier, wo mit mir noch nichts geschieht, was Irritation schon bestätigen würde, zeigt sich, wie Vorstellungskosmen sich impulsiv ergießen, auch Drüsentätigkeit in Gang setzen, Adrenalin ausschütten, schon aversive, abwehrende körpersprachliche Signale mobilisieren, Gedankenströme in einer synchronen Vielfalt freisetzen: „Ist etwas geschehen? Mit unseren Kindern, mit meiner Mutter, mit anderen mir nahestehenden Menschen?“

Deine Sensoren, deine Schemata deuten Haltung, Mimik, Gestik - und dann ---- stilles Entsetzen, kontrollierte Hilflosigkeit, ängstliches Bemühen, zweihundert Meter Zeit gewinnen - andere Menschen, Kolleginnen einbeziehen in diese Abartigkeit, in dieses sich auftuende Höllental menschlicher Nöte. Wenigstens für eine halbe Stunde in der Gegenwart schockierter, betroffener, vielleicht auch peinlich berührter, überforderter Menschen Haltung und „contenence“ bewahren können. Langsames Eintrimmen der Denk-Fühlwelt auf etwas Unfassbares, suchende, unsichere, panische, flackernde Augenkontakte, geschäftiges Regeln von Belanglosem, vorbereiten auf den Gang nach Nirwana, Luftholen für einen langen, endlosen Tauchgang. Seit dem 21.6.1994 lief der Zeitzünder einer Bombe; der Säurezünder ungeklärter Beziehungen frisst sich in den Schutzmantel. Die Karten werden neu gemischt.

Ich sitze im Passat, werde die B9 entlang gefahren und höre im Radio die Meldung über den Absturz einer viersitzigen Sportmaschine in der Nähe von Landshut. Alle vier Insassen sind tot, tot, tot... Was nun geschieht ist die Zuspitzung und Beschleunigung, aber auch die neu konditionierte Atomisierung eines Familienkomplexes: Elementarteilchen - drohendes, sich erfüllendes Menetekel und Aufbruch zur Menschwerdung zugleich. Im Familienkeller stehen viele Fässer: Guter, alter Wein, in Gärung befindlicher Federweißer, Essig, Verdorbenes. Die Erschütterung lässt viele Fässer zerbersten, manche bekommen Risse, laufen langsam aus - alles vermischt sich zu einer undefinierbaren Brühe. Ein mühsamer, aber auch klärender Prozess kündigt sich an, dies auseinander zu destillieren und den eigenen, unverwechselbaren Charakter zu (re)konstruieren: Und immer auch ein Prozess der Dekonstruktion: Viele Mythen werden von nun an in ihrer Brüchigkeit deutlich, die alten Erzählungen tragen nicht mehr.

Im Gedenken an meinen Bruder Willi

(12.11.1955-21.6.1994)

Als mir einmal in einem Gedicht Jakob van Hoddis begegnete

(übrigens geboren 1887 als Hans Davidsohn, früh sich schizophren zeigend, und am 30. April 1942 aus der Heilanstalt Bendorf-Sayn, abtransportiert, um, man weiß nicht wo, wann und wie, vernichtet zu werden – biographische Angaben aus der „menschheitsdämmerung“, ein dokument es expressionismus, berlin 1920, von kurt pinthus 1959 neu herausgegeben – an Jakob van Hoddis ist just an diesem Ort, der ehemaligen Heilanstalt Bendorf-Sayn, auf der Koblenz-Olper-Straße – unweit des Ortes, an dem unserer Wohngemeinschaft in den siebziger Jahren gelebt hat - im September 2001 mit einer beeindruckenden Ausstellung erinnert worden)

 

Ich bin träge,
Schatten-Schwüle.
Und ich wäge
Die Gedanken-Mühle

Welt verglimmt,
ein endlos Flimmern,
Blut gerinnt,
Konturen schimmern.

Welten-Rauschen
Kinderstimmen.
Hilflos lauschen,
Sinne trimmen.

Sinne schwinden,
schwerer Schlaf.
Ruhe finden –
Schlafes-Schlaf.

Fernes Dröhnen,
Flug-Motoren,
Sinne stöhnen,
Seins-Verloren.

Bin ich wach,
in welchem Raum?
Ist das Krach
In meinem Traum?

Kommt Wirklichkeit
mir wirklich nah?
Vergangenheit,
was auch geschah?

Am Amazonas
Fällt ein Baum!
Ach was!? Und was
ist Deutungsraum?!

Dem Bürger fliegt
Vom spitzen Kopf der Hut.
In allen Lüften hallt es
Wie Geschrei.
Ein Flug-Gerät stürzt ab
und geht entzwei,
und in den Köpfen
- spürt man -
steigt die Flut.
Und die Gezeiten wechseln
Wut-Mut-Wut.
Der Sturm ist da,
die wilden Meere hupfen.
Und die Seele schwillt,
um Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen weinen,
wie bei Schnupfen
und stehn am Abgrund;
suchen Brücken.

Vorwort zu "Papa Anna Bleiben"

 

Fährmann hol mich über! Oder: Der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen (Niklas Luhmann)

Vor ein paar Jahren ritt Jochen Bittner in der Folge 3 der Artikelserie „Wo sind die Kinder?“ in der ZEIT eine heftige Attacke gegen die „Hoffnungsträger der Republik“ (ZEIT 6/04). In Wirklichkeit seien sie eine hoffnungslose Brut, zwischen 25 und 35 Jahre alt, die sich der Reproduktion verweigerten: Eine ganze Generation potenzieller Eltern ziehe es vor zu surfen, zu feiern…, statt auch nur einmal darüber nachzudenken, wer ihnen in vierzig Jahren die Schnabeltasse ans Bett bringen soll. Ein paar Abschnitte weiter wandeln sich die aggressiven Untertöne in ein eher sanftmütiges, von Mitleid getragenes Bedauern. Er beschreibt nämlich, dass die Wahrscheinlichkeit für einen jungen Erwachsenen mindestens einmal zu heiraten, in Deutschland mittlerweile auf 60% abgesunken ist. In den sechziger Jahren betrug sie immerhin noch 90%. Die Scheidungshäufigkeit hingegen – so Bittner - habe sich in den vergangenen Jahren hingegen verdreifacht: „Die Aussicht, dass eine Ehe zerbricht, liegt heute bei 40% (inzwischen sind es nahezu 50%, WR) – in den siebziger Jahren waren es 13%.“ All die Trends, die dahinter stehen, stellt Bittner allerdings auch in den Kontext einer Zunahme von Freiheit. Dabei siege Individualität über alte Konventionen und Moral werde zur Verhandlungssache. Trennung und Scheidung seien keine Schande mehr. Man gewinne den Eindruck, die Deutschen seien freier als je zuvor. Aber – so Bittners Schlüsselfrage: „Sind sie deswegen auch glücklicher?“ Die Antwort ist eindeutig: Nein! Die Ergebnisse vieler empirischer Studien muteten eher paradox an: „Auf der einen Seite gehen Beziehungen immer häufiger in die Brüche, auf der anderen Seite wünschen sich auch die Jüngeren eine lebenslange feste Beziehung, und nicht von vornherein eine auf Zeit: Sie glauben an die große Liebe und träumen davon, dass sie ewig währt.“

 

Vielleicht liegt in diesem Wunsch das universale und Generationen übergreifende Motiv, dass Tina Schneider und mich, eine junge Frau und einen älteren Herrn, die mehr als 30 Lebensjahre trennen, dazu veranlasst, ein gemeinsames Buch zu machen. Ein „gemeinsames Buch“? Es ist Tinas Buch, dem ich lediglich eine Einführung voran schicke und ein Nachwort hintanstelle, um meinerseits zu danken und zu fragen, ob es dieses oben erwähnte Motiv tatsächlich gibt. Daneben muss man sich natürlich fragen, ob es einen halbwegs überzeugenden Grund gibt, der nicht mehr überschaubaren Flut an Büchern über die Liebe ein weiteres hinzuzufügen? Die Begründung ist so schillernd, wie Tinas Geschichte; die Geschichte einer ver-rückten und ent-rückten Tina, die im Prozess des Schreibens langsam wieder Wasser unter den Kiel bekommt, die aus einer Rosamunde-Pilcher-Schmonzette eine Sach- und Lachgeschichte bastelt, an der wir Alte uns gleichermaßen erbauen wie bilden können.

Wir jungen Alten könnten eigentlich ja schon wissen, dass die Liebe möglicherweise erst da beginnt, wo das Verliebtsein endet. Mit solchen Spitzfindigkeiten werden wir uns in Tinas Geschichte zwangläufig beschäftigen müssen, denn die meisten Liebenden waren ja irgendwann auch einmal verliebt; und selbst diejenigen, die irgendwann der Auffassung sind, sich nicht mehr zu lieben, werden im Erinnern ihrer geschwundenen Liebe häufig jenen „Ursprungsmythos“ entdecken, der mit der Erfahrung eines heftigen Verliebtseins verbunden war.

Arnold Retzer (2004) empfiehlt, sich an den Wendepunkten oder gar am vermeintlichen Ende der Liebe dieser Ursprungsmythen zu erinnern. Taub, blind und stumm gegenüber dem verblassten Zauber des Anfangs (re)agieren wir allerdings häufig so, dass wir – vom Eros machtvoll getrieben – einen neuen Mythos begründen (wollen). Wir „fallen in die Liebe“, geraten in orkanartige Turbulenzen und betreten ein Land, in dem – so beschreibt es Arnold Retzer in seiner systemischen Paartherapie – die aktuellen Mythen des Fortschritts, die Autonomie und die vernünftige Beherrschung der eigenen Lebensbedingungen radikal und folgenreich in Frage gestellt werden. Insofern bleibt die Liebe natürlich ein Skandal. Sie ist alles andere als vernünftige Beherrschung, gar Selbstbeherrschung. Was kann die Liebe denn in einer funktional differenzierten Gesellschaft, die den Logiken und Zwängen des Funktionierens unterworfen ist, anderes sein als ein Skandal? Roland Barthes beobachtet 1977 im Kontext seiner „Fragmente einer Sprache der Liebe“ gar, dass wir von einer generellen Abwertung der Liebe ausgehen müssen, von einer Krankheit, von der man geheilt werden müsse. Man schreibe ihr keine bereichernde Kraft mehr zu wie früher. Allerdings hat natürlich eine solche Betrachtungsweise ihren Preis. Arnold Retzer meint, bei dieser Ausgrenzung der „unvernünftigen“ Liebe bestehe natürlich die Gefahr, dass nur noch ein vernünftiger, in keiner Weise mehr liebender Mensch zurückbleibe, für den umgekehrt aber auch die Gefahr nicht allzu groß sei, geliebt zu werden.

Von daher mag es nicht verwundern, dass ich mit David Schnarch (2004) darauf aufmerksam machen möchte, dass die meisten Menschen sich natürlich an Zeiten erinnern – meist eher die jungen Jahre – in ihrem Leben, in denen eine leuchtende und glänzende Erotik die ganze Welt zu durchfluten schien: „Sie erinnern sich an das herrliche Prickeln beim Anblick eines bestimmten Menschen und an ihren sehnlichen Wunsch, dieser möge lächelnd auf sie zukommen; sie erinnern sich an die heftige Gefühlswallung, als eine bestimmte Person ihren Arm berührte; sie erinnern sich an die unerträgliche Freude, dem geliebten Menschen unerschrocken in die Augen zu schauen. Selbst wenn die Menschen älter werden, heiraten, Kinder haben und in verantwortungsvoller Position sind, durchzuckt diese sexuelle Elektrizität sie immer wieder… Das kribbelnde Versprechen des Erotischen rüttelt einen immer noch auf, schenkt immer noch Lebenskraft und das innere freudige Erwachen, das nicht unerheblich zu dem Vergnügen und der Lust beiträgt, die man im Leben empfindet.“

Da strahlt es uns also mit der Leuchtkraft von tausend Sonnen an; das Urmotiv sich zu Erinnern, zu Erzählen, Mythen zu begründen, den eigenen VER-RÜCKTHEITEN auf der Spur zu bleiben, sich nicht gänzlich zu verlieren; die Fähre zwischen Skylla und Charybdis hindurchzusteuern, ohne dass sie zerschellt. Also schreib dein Buch, Tina! Du hast es schon geschrieben. Wie ich meine, auf eine eher ungewöhnliche Weise. Denn du lässt selbst Roland Barthes alt aussehen, der meint, dass es nicht unbedingt das Ende einer erlebten Liebesgeschichte ist, das zum Schreiben bewege. Seiner Erfahrung nach tritt der Wunsch, ein solches Buch zu schreiben, in zwei Momenten auf: „Entweder am Ende, weil das Schreiben eine wunderbare, besänftigende Kraft besitzt. Oder aber am Anfang, in einem Moment des Überschwangs, weil man glaubt, man werden einen Liebesroman schreiben – um ihn dann dem geliebten Wesen zu schenken und zu widmen.“ All diese Motive machen Tinas Geschichte zu einer schillernden Melange.

Aber dir ist noch etwas sehr viel Ungewöhnlicheres gelungen. Der „Mythos“, der in deinem Schreiben Gestalt annimmt, resultiert aus einer Unmittelbarkeit, wie sie vielleicht nur im Zusammenhang mit seismografischen Aufzeichnungen eines Erdbebens entsteht. Und dennoch wächst da Sprache, die immer in der Lage ist, diese Unmittelbarkeit zu brechen. Folgt sie einerseits den gewaltigen Ausbrüchen eines Seelenbebens, so löst sie die Bedrängnisse immer wieder auf in überraschenden und verblüffenden, selbstironischen und humorvollen Passagen, die gleichzeitig eine Metaebene des Erlebten begründen; eine Metaebene wohlgemerkt, die diesen Bericht für die Väter- und Müttergeneration von Tina zu einem beeindruckenden und lehrreichen Erlebnis werden lassen.

So sehr dieser funkelnde Diamant auch für sich selbst steht, so sehr lädt er uns Alte zu der Frage ein, wodurch und auf welche Weise sich denn hier eine Horizonterweiterung ereignet? Und mag es in der Tat für die Jungen und die ganz Jungen nichts zu lernen geben, weil sie viel zu sehr im Sturm der Liebe stehen und vor lauter Wald keine Bäume mehr sehen, so werden uns Alten Fenster und Türen geöffnet, durch die wir schauen und gehen können. Und vielleicht werden wir danach mehr verstanden haben, als wir vorher je verstehen konnten. Möglicherweise werden wir mit Tinas Hilfe zu Sehern (im Sinne Karl Otto Hondrichs, siehe Nachwort), die einen Lichtstrahl in das Dunkel ihrer eigenen verstrickten und verstrickenden Beziehungsnöte und die damit häufig verbundenen Wendepunkte in ihrem Leben werfen können.

Die verrückteste Idee ergibt sich dabei vielleicht aus der paradoxen Vorstellung, neben dem Verlieben könnte es so etwas geben wie ein Entlieben: Es lässt sich eine Theorie des Entliebens vorstellen und es könnte daraus folgend oder eher sie begründend eine Praxis des Entliebens Gestalt annehmen. Aber warum sollte es so etwas geben, warum sollte man sich darum bemühen? Nun, nicht jeder, der in die Liebe fällt, fällt damit in ein Rosenbett, in ein Blütenmeer, schwebend und bebend zugleich. Häufig bleiben von den Rosen nur verwelkende, fahle Nachwehen des tobenden und tosenden Lebens. Und in der härtesten Variante besteht das Rosenbett nur noch aus dürrem Gezweig und nadelspitzen Dornen. Dies setzt häufig umso rascher ein, je eindeutiger die Verstrickungen sichtbar werden, in denen man sich nolens volens wieder findet, wenn Adam Philipps´ so sehr zutreffender Aphorismus „Monogamie – aber drei sind ein Paar“ die Hintergrundmusik spielt. Dann beginnt häufig das Spiel zwischen Lust und Schuld, zwischen Begierde und Bindung, der manchmal einem Kampf zwischen Eros und Thanatos gleicht. Häufig beginnt dann das Taktieren und Winden, das Wimmern und Klagen; dann kämpfen Apoll und Dyonisos mit harten Bandagen, wie weiland zwei Highlander gegeneinander („Es kann nur einen geben!“). Wir verlieren die Kontrolle und unserer Fähre droht ständig zwischen der Skylla lustvollen Begehrens und der Charybdis vernunftgeleiteten Verzichts zu zerschellen. Am Ende sitzen alle vor den Aschehäufchen eines mächtigen Feuersturms, der sie hinweg gefegt hat und eine neue Ordnung nimmt langsam Gestalt an.

Dass du den damit verbundenen Wendepunkt in deinem Leben erreicht, kultiviert und genutzt hast – genau das wünsche ich Dir, liebe Tina.

Ich habe Tina Schneider zu "Papa Anna Bleiben" ermuntert. Es ist ein ergreifendes, packendes, spannendes Buch geworden. Hier könnt ihr das Vor- und Nachwort lesen.

Nachwort zu "Papa Anna Bleiben" im Dezember 2010 bzw. im November 2011

                                                                                                              

Das Nachwort in der aktuellen Ausgabe war eigentlich als Vorwort für die Ausgabe des Buches gedacht, die schon Weihnachten 2010 erscheinen sollte. Aber erst – mit einigem zeitlichen Abstand – bieten sich die Lösungen zur endgültigen Fassung und zur Gestaltung an. Dem Wolfgang (Niedecken) geht es Gottseidank auch wieder besser. Zu seiner gesundheitlichen Krise im zeitlichen Kontext des Erscheinens dieses Buches passt die Mahnung von Günter Franzen (siehe weiter unten) an uns alle:

„Es ist später, als ihr denkt!“

Seit Jahren gestatte und vergönne ich meinen Studenten und mir ein Seminar zur „Kommunikation in Grenzsituationen“: „Was passiert, wenn das Unfassbare passiert?“ Sich eine Wachheit für letzte Fragen zu erlauben, gehört heute im B/M-geprägten Hochschulbetrieb zu den Privilegien, die von der Freiheit von Forschung und Lehre (noch) gedeckt werden. Noch kann man sich die Freiheit nehmen, mit Hilfe einer abstrakten Wissenschaft wie der Soziologie systemtheoretischer Prägung, die Grenzen und die Begrenztheit unseres alltäglichen Handelns in der Welt – auch im Sinne unseres alltäglichen Scheiterns – besser zu verstehen und zu begreifen. Seit mehr als 40 Jahren begleitet mich die erste Strophe eines Gedichts von Gottfried Benn

 

Kommt

Kommt, reden wir zusammen
Wer redet ist nicht tot,
es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not.

 

Miteinander reden im Sinne eines Gesprächs erscheint mir seither als eine der Ur-Formen des Sich-Bildens, auch des Bildens von Gemeinschaft, auf die wir als soziale Wesen doch so existentiell angewiesen sind. Wie begrenzt und gefährdet die Möglichkeiten des Gesprächs allerdings erscheinen, das ist mir erst über Niklas Luhmanns Versuch deutlich geworden, die Frage zu beantworten, was denn Kommunikation sei (Opladen 1995). Und das Gespräch bedient sich zweifelsfrei jener Basisoperation, auf die soziale Systeme unabdingbar angewiesen sind (Niklas Luhmann würde sagen, sie bestehen aus nichts anderem als): Kommunikation!

Er weist in seiner soziologischen Theoriebildung darauf hin, dass es von großer Bedeutung sei, an der Unterscheidung von Wahrnehmung und Kommunikation festzuhalten. Seine Begründung ist simpel und recht einfach nachzuvollziehen. Er geht davon aus, dass die Wahrnehmung zunächst ein psychisches Ereignis ohne kommunikative Existenz bleibe:

„Sie (die Wahrnehmung von etwas) ist innerhalb des kommunikativen Geschehens nicht ohne weiteres anschlussfähig. Man kann das, was ein anderer wahrgenommen hat, nicht bestätigen und nicht widerlegen, nicht befragen und nicht beantworten. Es bleibt im Bewusstsein verschlossen und für das Kommunikationssystem ebenso wie für jedes andere Bewusstsein intransparent.“

Niklas Luhmann beschreibt also im Sinne von Innen (=Bewusstsein) und Außen (=Kommunikation) mit „Bewusstsein“ die „innere“ Seite. Zur „äußeren“ Seite gelangt Niklas Luhmann, indem er deutlich macht, dass eine „interne“ Wahrnehmung natürlich „externer“ Anlass werden kann für eine folgende Kommunikation:

„Beteiligte können ihre eigenen Wahrnehmungen und die damit verbundenen Situationsdeutungen in die Kommunikation einbringen; aber dies nur nach den Eigengesetzlichkeiten des Kommunikationssystems, z.B. nur in Sprachform, nur durch Inanspruchnahme von Redezeit, nur durch ein Sichaufdrängen, Sichsichtbarmachen, Sichexponieren – also nur unter entmutigend schweren Bedingungen.“

 

Das Sichtaufdrängen, Sichsichtbarmachen, Sichexponieren kommt im Alltag dem gleich, was Peter Sloterdijk im Hinblick auf die Poesie mit Paul Celan feststellt, nämlich, dass sich die Poesie nicht aufzwinge, sondern sich aussetze. Aber weit über die poetische Selbstaussetzung hinaus meint Peter Sloterdijk, dass das Sichaussetzen und Sichhinaushalten in einem ganz allgemeinen Sinne „konstitutive Bewegungen des Menschen sind (Sloterdijk 1988)“. Da im Sinne Niklas Luhmanns „nur die Kommunikation die Kommunikation erreichen und beeinflussen kann“, erweisen sich die gruppeninternen Prozesse als außerordentlich diffizil und störanfällig.

Peter Sloterdijk weist in Band 3 seiner Sphären (2004, S. 404-411) darauf hin, dass insbesondere die erotischen Prozesse in der Gruppe die Grundform des Wettbewerbs vorgeben – „ausgelöst durch die Beobachtung des Strebens anderer nach der Beschaffung von Seins-, Besitz- und Geltungsvorteilen“. Um den Gruppenzusammenhalt nicht permanent zu gefährden, gehört seiner Auffassung nach zur Gruppenweisheit ein Eifersuchtsmanagement, das dreidimensional ansetzt:

„Sollen die Selbstirritationen der Gruppe in einem lebbaren Tonus gehalten werden, braucht das Kollektiv ausreichende Diskretionen für die Seinsdifferenzen, die Besitzdifferenzen und die Statusdifferenzen in seinem Inneren. Diskret ist, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll.“

 

Nach der Lektüre von Tinas Bericht aus dem Liebesalltag dürfte relativ schnell klar werden, warum ich meiner Einführung nun noch ein theorieschwangeres Nachwort zur Seite stelle. Neben dem Dank für eine äußerst instruktive Auseinandersetzung mit den liebesgeschuldeten Wendepunkten im Leben, hilft mir Tinas Erzählung den eigenen Mythen und Begrenztheiten noch einmal auf die Spur zu kommen und sie im Sinne Niklas Luhmanns besser einordnen zu können: „Der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen.“

Lange habe ich darüber gerätselt, welche Motive mich umtreiben, dieses Buch mit zu gestalten und ihm zu einer Existenz im sozialen Raum zu verhelfen. Zweifellos ist da einerseits eine Faszination und eine Verblüffung von Anfang an darüber, wie es einer jungen Frau gelingen kann – tief verstrickt in eine romantische Liebesgeschichte, sozusagen just in time – nicht nur amüsant und sprachmächtig, sondern gleichermaßen distanziert bis selbstironisch und mit viel Humor gewürzt ein außerordentliches Lesevergnügen zu kreieren.

Mit fremdem Blick, mit dem distanzierten Blick jemandes, der die romantische Liebe ebenso wie das verstrickende Dreieck kennen gelernt und der Liebesglück und Liebesnot erlebt hat, wendet sich die Perspektive und findet Anschluss an die Mohnfrau (Koblenz 2010), die mit einem Zuruf von Karl Otto Hondrich und seiner gleichzeitigen (selbst)kritischen Relativierung beginnt:

„Wenigstens den nachfolgenden Generationen und eigenen Kindern möchte ich manchmal zurufen: Ihr habt doch eure Entscheidungsfreiheit als Individuen. Also nützt sie auch. Macht endlich Schluß mit der unglücklichen Weitergabe von Trennung und Verlassenwerden an eure Kinder, macht es besser als eure Eltern, rauft euch zusammen, arrangiert euch, lasst ab von eurem Paar-Perfektionismus (2004, 166)!“

 

Und:   

„Kaum ist der Aufruf, in Gedanken, heraus, bleibt er mir schon im Halse stecken. Nicht nur, daß jeder Rat von Alten an Junge für diese zu früh kommt. Nicht nur, daß ich selbst, wäre ich jünger, ihm vielleicht nicht folgen könnte. Nicht, daß ich mich der Hau-Ruck-Pädagogik schämen würde; sie hat dem verständnisvollen Nicken und Bedauern wenigstens die wütende Klarheit voraus. Aber der Appell selbst beruht auf einer Unklarheit: Es liegt nicht allein in der Macht und Schuld des einzelnen, und auch nicht der beiden, wenn sie die auseinanderstrebenden Kräfte der modernen Gesellschaft in ihrer Liebe nicht bändigen können. Neben der Devise ‚Ihr schafft es!’ darf deshalb die andere ‚Manchmal klappt es nicht. Es ist trotzdem den Versuch wert. Auch im Scheitern liegen Chancen!’ nicht fehlen (2004, 166f.).“

 

Tendenziell, aber nicht zur Gänze löst sich die trianguläre Spannung in „Papa Anna Bleiben!“, indem Papa wohl bei Anna (und der Familie) bleibt!? Und vielleicht integriert Tina ja – mit wachsender Distanz zu den Geschehnissen die ganze Geschichte in ihre dann reichere und differenzierte Erfahrungswelt. Schon die mit heißer Nadel aufgezeichneten Erlebnisse offenbaren eine eher verblüffende Reife und Abgeklärtheit, mit der hier auf überaus eindrucksvolle Weise die Wirkungen und Dynamiken beschrieben werden, die beispielsweise mit Dreiecksbeziehungen einhergehen.

Wenn ich aber Tinas Geschichte in einen Zusammenhang rücke mit dem hier angebotenen Hinweis: „Es ist später, als ihr denkt!“ – dann rücke ich selbstverständlich meine eigenen Erfahrungen und Präferenzen als Beobachter in den Mittelpunkt. Und die decken sich unterdessen zweifellos mit dem, was Karl Otto Hondrich in seinem letzten Buch „Weniger sind mehr – Warum der Geburtenrückgang ein Glücksfall für unsere Gesellschaft ist“ (Frankfurt 2007) auf der Seite 119 vermerkt:

„Da wir die Ehe heute auf erotischer Liebe bauen, die Liebe aber eine tragische Bindung ist, ist Tragik in Ehe und Familie eingeschlossen. Je mehr wir nach lebenslanger – also immer längerer – Liebe und Leidenschaft verlangen, je mehr wir unsere Ansprüche an Harmonie steigern, desto sicherer sind Scheitern und Scheidung vorprogrammiert.“

Mit diesem Hinweis nimmt nur einer von vielen argumentativen Mosaiksteinen Gestalt an, die Karl Otto Hondrich zur Relativierung des oben erwähnten Zurufs an die nachfolgenden Generationen und die eigenen Kinder veranlassen. Was uns möglicherweise dennoch im besten Sinne des Wortes zur Besinnung bringt, sind zwei weitere Aspekte, die er anspricht: Einerseits regt Hondrich trennungswillige Paare an, darüber nachzudenken, ob sie die bestehende Bindung „auf dem Altar einer kollektiven Vorstellung von Harmonie und Liebe“ zu opfern bereit sind und ein „kollektives Liebesideal“ über die „individuelle Liebesbindung“ obsiegen lassen. Dies gilt es seiner Auffassung nach erst recht zu bedenken, wenn aus einer Liebesbeziehung Kinder hervorgegangen sind. Es stimmt zwar:

„So vergänglich die Liebe des Paares, so unvergänglich die zwischen Eltern und Kind. Dies ist keine Bindung der freien Wahl, sondern, wenn die Zeugung erst erfolgt ist, eine Schicksalsbindung für beide Generationen (Hondrich 2007, S. 120).“

 

Die fundamentale Bedeutung dieser Zusammenhänge, ihre unabsehbare Wirkung wird deutlich, wenn Karl Otto Hondrich eine feinsinnige Unterscheidung trifft, die uns vor der Hand zunächst irritiert, wenn nicht gar provoziert. Kaum jemand mag ihm widersprechen, wenn er davon ausgeht, dass der frühe Tod von Eltern für die betroffenen Kinder einen unwiederbringlichen Verlust an Geborgenheit bedeutet: „Ein größeres Unglück läßt sich kaum denken. Aber es bleibt ein Unglück (Hondrich 2004, S. 164).“ Es sei aber gerade diese existentielle Dimension des Unglücks, die es zulasse, dass sich die Überlebenden mit dem Verstorbenen bruchlos in eins setzten, ihn in die Identität der Familie, diese sogar bestärkend, mit einbezögen. Bei einer Scheidung sei genau dies aber kaum möglich:

 

„Nicht durch ein Unglück, Naturkräfte, höhere Mächte oder Gottes Willen wird den Kindern Geborgenheit genommen, sondern durch den Willensakt von Menschen, und zwar von denjenigen, die sie am meisten lieben (Hondrich 2004, S. 164).“

 

Genau in diesem Sinne wird „Papa Anna Bleiben“zu einem grandiosen Lehrstück – ja man darf und man soll angesichts der formprägenden und sprachgewaltigen Verarbeitung von Liebe, Angst oder Trauer – finaler Strömungen, wie Gottfried Benn meint, etwas erwägen können, was unseren Erkenntnis-, Erlebens- und Tätigkeitshorizont erweitert. So sehr auch Streit und Konflikt den Normalfall in Paar- und Familienbeziehungen prägen, so sehr erinnern sich die meisten Menschen an die in der Einführung wachgerufenen Zeiten in ihrem Leben, in denen eine leuchtende und glänzende Erotik die ganze Welt zu durchfluten schien (siehe Einführung).

Das von David Schnarch (siehe Einführung) in den Vordergrund gerückte Vergnügen spiegelt aber häufig nur die eine Seite der Medaille. Vor allem verstrickende Dreiecksbeziehungen werfen sehr schnell ein gleichermaßen grelles wie schmerzendes Licht auf Beziehungsdynamiken, in denen die freie Wahl und die Schicksalsbindungen, von denen Karl Otto Hondrich spricht, einander ins Gehege kommen. Zeiten des Höhenflugs und der Schmetterlinge im Bauch wechseln häufig mit Abstürzen und zwingen zur Besinnung und zur Klärung.

Den größeren Kontext, in den ich nun ich nun Tinas grandiosen Liebesbericht stellen kann und darf, verdanke ich einem Hinweis, den mir ein guter Freund, Rudi Krawitz, vor einem Jahr zukommen ließ: „Es ist später, als ihr denkt – Ein Gespräch an Allerseelen über den Tod. Mit Dörthe Kaiser, Buchautorin und Witwe des Soziologen Karl-Otto Hondrich, sowie Günter Franzen, Autor, Psychotherapeut und ebenfalls Witwer, sprachen Christiane Hoffmann und Volker Zastrow“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, vom 7.11.2010, Nr. 44, S.2).

Besinnung ist nur in einem größeren Kontext von Wahrnehmung und Reflexion möglich; ein Zustand akuter Verliebtheit, der bio-psycho-soziale Overkill verunmöglicht solches zur Gänze; in diesem Zustand findet das ganze Leben auf einer galaktischen Einbahnstraße in Lichtgeschwindigkeit und ohne Rückspiegel statt. Tina Schneider schreibt mit heißer eigenblutgetränkter Nadel und dennoch – manche mögen dies allein schon für verwerflich und für einen Authentizitätsbruch halten – gelingt es ihr mit Humor, (Selbst)Ironie und analytischer Schärfe immer wieder kühle Umschläge auf fiebernde Stirnen zu legen, emotionale Herzblutattacken werden anschließend mit dem Skalpell der Vernunft gnadenlos und perspektivenreich seziert. Dass beide zur Besinnung kommen und dass Tina ihrem abgestürzten Helden – im Grunde genommen wider Willen und ganz gegen ihre Interessen – diese Besinnung im Angesicht der Mahnung „Es ist später, als ihr denkt“ ermöglicht, dass macht sie gleichermaßen wider Willen zur eigentlichen Heldin der Geschichte.

„Es ist später, als ihr denkt“. In der „Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte“ (NG/FH, 1/2/2010, S. 101-104) könnt ihr Günter Franzens „Kurze Geschichte ihres Todes“ lesen. Günter Franzen lässt im Verlauf des „Gesprächs an Allerseelen über den Tod“ die Schwierigkeiten verlauten, die er nach dem Tod seiner Frau vor allem in seiner paartherapeutischen Arbeit empfindet:

„Ich habe ja Jahrzehnte als analytischer Paartherapeut gearbeitet, nun kann ich die Paare nicht mehr hören. Ich würde sie am liebsten ohrfeigen, wenn sie ihre schmutzige Wäsche waschen, oder wenigstens sagen: Es ist später, als ihr denkt.“

 

Selten, eigentlich nie, hat mich ein vierseitiger Bericht so sehr fasziniert, so sehr erschüttert, so lange – stundenlang – frösteln lassen, wie die „Kurze Geschichte ihres Todes“: Wie der „Talmipanzer des narzisstischen Blenders in das Kleid eines Narren“ verwandelt wird; wie der 50jährige doch noch der Gnade „des herbeigesehnten, sehenden Gesichts; offener Augen, die dich umfangen halten mit Wissen und Güte, Verlangen und Hingabe, Wärme und Vertrauen“ teilhaftig wird; wie „unter dem Müll vermeintlicher Auswegsfülle, aus den verleugneten und verschütteten Quellen zweier katholischer Kindheiten jenseits verschlissener Liebesschwüre ein Gefühl unauflöslicher Verbundenheit aufsprang, ein ernster Glaube, der dem romantischen Furor und der wechselseitigen physischen Anziehung keinen Abbruch tat“, dies markiert mit den nachfolgenden Auslassungen die Grenzen menschlicher Erfüllung:

 

„Ich, Treue um Treue bis in alle Ewigkeit. Credo quia absurdum, das heißt, es ist gewiss, weil es unmöglich scheint, und nach 20-monatiger Adventszeit bestaunten eine nicht mehr ganz junge Frau und ein Mann in fortgeschrittenem Alter das atmende Wunder, das sie selbst hervorbringen durften: Ein Kindelein so zart und fein, das soll euer Freud und Wonne sein. Ein dankbares Paar, eine Handbreit über den Niederungen des Alltags, zitternd vor Glück, das, gleichermaßen unverdient wie uneinklagbar, zweifellos von oben kommt. Und Gott war mit den Liebenden, zehn Jahre oder dreitausendsechshundertfünfzig Tage und Nächte lang. Bis zum Morgen des 15. Juni 2008.“

 

Was nun kommt – lest selbst! Das „Es ist später, als ihr denkt“ hat natürlich bei Günter Franzen den realen, brutalen Verlust zur erbarmungswürdigen Grundlage: „Der Engel, der im Auftrag des Herren die Vertreibung verkündet, ist kein mit dem Flammenschwert drohender Cherubim, sondern der stets freundliche lächelnde Leiter der onkologischen Abteilung.“ Am Ende, ganz am Ende, wo die Verlorenheit allumfassend und unausweichlich ist, wo der Verlust übergroß ist, findet Günter Franzen noch einmal den Weg zu einer Sprache, mit der nicht nur allein der Schmerz Gestalt annimmt, sondern wo um die „Versuchung des Kitsches und der Versöhnung“ ein Blick nach vorne gelingt:

„Ich weiß nicht, ob ich diesen Gefahren entgehe, wenn ich behaupte, dass es nicht der Bindungslose, sondern der Liebende ist, der mit einem Schmerz belohnt wird, der ihn gleichzeitig zu zerbrechen droht. Demnach ist die Trauer der Preis, der dafür zu entrichten ist, Liebe empfinden zu dürfen. Es ist kein Trost, aber ich bin bereit, den Preis für diese einmalige Liebe zu zahlen: Gestern, heute, morgen.“

 

Mag sein, dass ich Tinas Bericht damit zu einseitig vereinnahme, dass ich mit dem mors certa, hora incerta im wahrsten Sinne des Wortes ein Totschlagargument bemühe. Deshalb mach ich es zum Schluss noch einmal etwas versöhnlicher, trotz oder gerade wegen der Tatsache, dass wir alle sterbliche Wesen sind. Aber auch wenn ich Rosemarie Welter-Enderlin das Schlusswort überlasse – auch dieser lange, gediegene Hinweis soll unter dem Gesamtmotto stehen: Es ist später, als ihr denkt! Und er mahnt uns, er ermöglicht uns, die Wendepunkte in unsrem Leben noch einmal (oder unter Umständen) erstmals zu sehen und zu würdigen:

„Die Angst vor dem Neuen bewirkt oft starres Festhalten an bisherigen Vorstellungen, an den sich selber und dem Partner zugeschriebenen Bildern. Selten verändern sich Partner gleichzeitig. Meist wird vorerst nur der eine durch innere und äußere Ereignisse herausgefordert, mit dem Bisherigen unzufrieden zu sein, ohne dass er oder sie genau weiß, was diese Ereignisse bedeuten; Schlafstörungen, die Sucht zuviel zu essen, zu trinken, zu rauchen oder zu arbeiten, die Flucht in Phantasien, Depression oder plötzliche romantische Verliebtheit können solche Zeichen sein. Wenn sie nicht entziffert werden, weil der oder die Betroffene Angst hat vor ihrer Bedeutung, oder wenn der Partner/die Partnerin voll Schreck und Panik festhält am Bisherigen, entstehen oft entsetzliche Polarisierungen: Je mehr sie z.B. versucht, Flügel auszubreiten, eigene Bereiche zu entwickeln, desto mehr verfolgt und bedrängt er sie, desto mehr grenzt sie sich ab…Je mehr er z.B. flieht in Arbeit oder Sucht, desto mehr rackert sie sich damit ab, die ganze Verantwortung für die Familie zu übernehmen, desto abhängiger wird er von der Sucht und sie von der Überverantwortlichkeit. Nicht die Krisen, die in solchen Übergangssituationen auftreten, sind gefährlich. Gefährlich wird es dort, wo einer an den alten Vorstellungen festhält und der andere nicht fähig ist, mit ihm neue auszuhandeln oder einen eigenen Weg zu suchen. Ich meine, dass der Mythos der romantischen Liebe, wonach ein Paar zusammenkommt und fortan glücklich ineinander verschmolzen lebt, eine entsetzliche Form von Zwang darstellt. Er bewirkt, dass normale Übergangskrisen nicht bewältigt werden und dass eine Beziehung einfriert. Wir reden oft vom frohen Ereignis, wenn wir vom kritischen Ereignis reden müssten und signalisieren damit, dass Krisen nicht zu solchen Übergängen gehören dürfen. Heirat, die Geburt eines Kindes, Schuleintritt, Wiederaufnahme der Arbeit durch eine Frau, berufliche Stagnation des Mannes in der Lebensmitte, Tod der Eltern und Ablösung der Kinder, sie alle sind kritische Ereignisse, welche den Entwurf neuer Szenarien nötig machen (Welter-Enderlin 1998, S. 177ff.).“

 

Ich wünsche uns allen, die wir vor solchen Übergängen und Wendepunkten stehen – vor dem Eintritt in den Beruf oder in den Ruhestand, in der Konfrontation mit schmerzlichen Verlusten und in der Beglückung durch freudige Ereignisse, uns allen, die wir vor dem Spiegel unserer Wünsche, Visionen und Obsessionen stehen – die Kraft und den Mut das Leben zu nehmen und es nicht, wie Max Frisch so häufig mit Blick auf sein eigenes Leben meinte, zu verfehlen.

Josef/Justus

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Was wäre die Kunst der Gesellschaft ohne die Kunst-Schaffenden?

Claudia Rothmund - demnächst in Bad Neuenahr (Golfclub Köhlerhof) und in Winningen (Gutsschänke Schaaf - Inh.: Stefan Pohl)

Von Peter Sloterdijk stammt das wunderschöne Bild, wonach wir uns einen jeden Menschen als eine lebende Silbe - eine sich selbst verborgene Klanggestalt vorstellen können. Was diesen lebenden und sich selbst verborgenen Silben auf die Spur des eigenen Klanges verhilft, das ist bei den einen die Schrift selbst, bei den anderen der Klang - die Musik, vielleicht die Bewegung. Bei Claudia Rothmund ist es die pure Lust am schöpferischen Umgang mit Formen und Farben.

Nur wenige Künstler werden von der Oberzeugung getragen, ihre Schöpfungen seien ästhetisch und formal rundum gelungen. Diejenigen, die Claudias ästhetisches Schaffen im unmittelbaren Umfeld beobachten und schätzen, haben lange um diese erste Ausstellung geworben; vielleicht verständlich, ist es doch Claudias erster Schritt in eine Öffentlichkeit, verbunden mit der unvermeidbaren Konsequenz sich einem größeren Publikum auszusetzen. Für Claudia Rothmund, die von 1977 bis 1980 an der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule in Koblenz unter anderem auch Bildende Kunst für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen studiert hat, spricht kein erwähnenswertes curriculum vitae als Künstlerin, sondern eher eine autodidaktische Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des bildnerischen Gestaltens, die sie seit vielen Jahren auch ihren Grundschulkindern vermittelt.

Die jetzt geplanten Ausstellungen präsentieren „nutzlose Kunst" - in dem Sinne, wie es August Wilhelm Schlegel in seiner „Kunstlehre" formuliert hat: „Vielmehr liegt es im Wesen der schönen Künste, nicht nützlich sein zu wollen. Das Schöne ist auf gewisse Weise der Gegensatz zum Nützlichen: es ist dasjenige, dem das Nützlichsein erlassen ist."

Die Unterzeichner bekennen sich zu diesem „zwecklosen Selbstzweck", der ausschließlich der ästhetischen Erbauung, der puren Lust an Formen und Farben zu dienen vermag. Mit den Worten von Niklas Luhmann gilt dies so radikal, dass auch der Künstler selbst sich aus den Nutznießern ausschließen muss. „Denn während ein Architekt schließlich auch ein Haus für sich selbst bauen kann und ein Bauer sein eigenes Gemüse im eigenen Garten zieht, stellt ein Künstler ein Kunstwerk nicht... für sich selbst her. Er mag einzelne seiner Werke so lieb gewinnen, dass er sie für unverkäuflich erklärt. Aber das schließt nicht aus, dass er sie anderen zeigt."

Damit ist der „wunde Punkt" markiert und ausgesprochen. Unverkäuflich werden die ausgestellten Werke - bis auf einige wenige - nicht sein. Aber sie erfreuen sich passionierter Liebhaberschaft. Sie sind jeweils das Ergebnis eines ästhetischen Gestaltungsprozesses, der ungewohnte und überraschende Effekte hervor treibt. Dass sie ästhetisch-formal überzeugen, haben die Unterzeichner für sich entschieden. Eine Präsentation findet Ihr unter www.claudia-rothmund.de.

RudiKrawitz               Hans Kusenbach               Franz Josef Witsch-Rothmund 

 

Geschichten

Wir erzählen Geschichten und begründen auf diese Weise die Mythen, mit denen wir uns unser Leben plausibel und erträglich gestalten – auch da, wo es eigentlich unerträglich ist. Viele der Geschichten findet man im jeweiligen Kontext meiner Bücher. Wenn ich Zeit habe, werde ich sie entsprechend verlinken.

Biographie und Lebenslauf

Ich sehe was, was du nicht siehst!? Mit unvermeidbaren blinden Flecken und versöhnlichen Inkonsistenzbereinigungsprogrammen erzählen wir Familiengeschichten, begründen nicht nur Mythen, sondern segeln zuweilen hart an unübersehbaren Fakten entlang, machen uns einen Reim auf Ungereimtes und scheitern dennoch im unwegsamen Gelände. Während Ihr die „Geschichten“ unter den „Geschichten“ findet, geht es hier mehr um eine theoriebasierte Auseinandersetzung mit der Biografieforschung.

Familie und Partnerschaft

Von der Verliebtheit, von der puren Lust am Sex führen Wege in ein langes Leben (wenn man Glück hat). Von der Lust über die Last zur Lust kommt man offenkundig nicht ohne Haltung anzunehmen und Verantwortung zu übernehmen für die Unterscheidungen, die man spurenmächtig werden lässt; ein spannendes Feld, das ich mit meiner Frau, Claudia, immer noch und immer noch beackere. "Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete..." stellt eine besondere Form dieses "Beackerns" dar, die nach immerhin 28 Jahren des gemeinsamen Weges gleichermaßen Bestätigung wie Neuorientierung bedeutete.

Eigene und fremde Bücher

Hier kann man insgesamt Einblick nehmen in die Bücher, für die ich Verantwortung bzw. die Herausgeberschaft übernommen habe. "Über's Büchermachen" vermittelt einen Einblick in die Motive überhaupt Bücher "zu machen". Außerdem tritt hier mein Alter Ego, Adrian Nemo, in Erscheinung in seiner Rolle als Gesprächspartner und Interviewer; eine Rolle, die er vor allem in "Kopfschmerzen und Herzflimmern" sehr extensiv und ambitioniert wahrnimmt.

Lyrographielyrourknall - bevor es losgeht! Die "Lyrographie" ist mein nächstes größeres Projekt

Da will einer hoch hinaus – das Gedicht als die Königsform der Verknappung und Verdichtung – und weil es so schön ist in der neuen Medienwelt, erliegt der Romantiker ab und zu der symbiotischen Verbindung bzw. Verschmelzung von Wort und Bild. Und er entsinnt sich Niklas Luhmanns Hinweis, wonach es uns nicht an gelehrter Prosa fehle. Er meint für anspruchsvolle Theorieleistungen sollte es eine Art Parallelpoesie geben, „die alles noch einmal anders sagt und damit Wissenschaftssprache in die Grenzen ihres Funktionssystems zurückweist“.

Aber ich will ja noch höher hinaus. Die Lebenslauftheorie Niklas Luhmanns hat mir mit der Idee, dass der Lebenslauf aus Wendepunkten bestehe, an denen etwas geschehen sei, was nicht hätte geschehen müssen, die Zufallsabhängigkeit unser aller Lebensläufe vermittelt. Diese unaufhebbare Kontingenz und die Aufmerksamkeit für das, was (m)einen Lebenslauf wendet, ist bei mir zuweilen auf lyrische Weise spurenmächtig geworden. Der Urknall, der den starting point meines Lebenslaufes oder den (Endpunkt des Lebenslaufs) meines Bruders, den meiner Schwester (vor allem im Zusammenhang mit dem unserer Mutter) markiert, zentrifugiert nicht nur das Leben selbst, sondern auch seine symbolische Verdichtung in sprachlicher Form.

Die kontingenten Schnittpunkte (m)eines Lebens gehen auf diese Weise in gerinnungsfähigen Wortstoff/Wertstoff über. Die Stockungen und Ausfällungen bilden die Rohmasse, aus der die Gebilde entstehen, die als Verdichtungen oder Gedichte in den sozialen Raum mäandern. Die Gerinnungsfaktoren resultieren aus der mir je möglichen Komplexitätsreduktion - manche Leser mögen es auch als Komplexitätsexplosion empfinden - und markieren den Sinn- und Bedeutungsraum, den ich (auch) für mein Leben halte. Ich nehme Max Frisch beim Wort und halte den Variationsraum - Biografie ein Spiel - für ebenso beschränkt, wie er: "Wir erzählen uns allen eine Geschichte, die wir für unser Leben halten". Und im Erzählen, im Erinnern, im (Neu-)Bewerten - eingedenk aller mitlaufenden Inkonsistenzbereinigungsprogramme - kann sich hingegen eine gleichermaßen umfängliche wie raffinierte Variationsbreite entfalten. Ein einziges meiner Urknall-Gedichte soll hier platziert sein, um erahnen zu können, was sich in den nächsten Monaten hier abspielen wird:

 

Orte

 

Ich heiße Josef (neben Franz),

und bin der Enkel

einer deutschen Eiche:

Josef -

stark und breit,

sanft und gewogen,

leicht gebeugt

- ein Kraftwerk.

In Deinem Haus

- keine Bilder, keine Bücher,

da hingen keine Gainsbouroughs

der Volksempfänger bis zuletzt!

Und doch:

Jede Sekunde gelebten Lebens

respektvoll:

Du trugst uns (Enkel)Kinder auf Händen

- alle!

Und herausgeschnitzt

(auch diese) Linie(n)

- erzählten Lebens:

Der Eigensinn, die Unvernunft -

da spürte schon mal ein brauner Uniformträger,

wie rotes Blut und brauner Boden schmeckt!

Nein!

Über Politik und Geschichte wurde wenig gesprochen.

Masuren 1914 -

steckte in Deiner Seele –

und

Eisen

als lebenslange Depotgabe

in Deinem Körper.

Warst kein Schweijk,

und kein

Jünger der Stahlgewitter.

Merkwürdig konstruierte Intuition,

assimilierte Facetten jiddischer „Kultur“ -

Ja, ja!

Gelernt hast Du das Schächten

(dein Werkzeug liegt jetzt in meinen Händen).

Metzger wolltest du werden -

und warst früh schon geschätzter Experte,

wenn es die

Gottschalks,

die Oppenheimers,

die Wolffs

und Lichtendorffs

koscher haben wollten.

Merkwürdige Synchronizität:

Die Mischpoke ist Dir abhanden gekommen –

wolltest Du jemals wissen wie?

Alles Millionäre in Amerika!?

Und Du?

Ohne Profession!

Verlust bei Verlust.

Stiller Gewinner die Stadt:

Zumal die untersten Chargen

- die städtischen Arbeitskolonnen -

besetzt mit Spitzenkräften.

Für mich warst du

der immer schon alte, starke Mann:

Im Schiefer der Weinberge;

als Führer

zu den mythischen Orten der Kindheit,

wo die Maiglöckchen (noch heute) blühen.

In den lehmigen Gruben,

stiller Bereiter der letzten Wege,

wo selbst Du deine Grenzen erfuhrst,

wenn jemand im Tod noch auf Wanderschaft musste.

Dann wieder ein Ort

- im städtischen Schwimmbad -

wo Leben quirlt und sprüht!

Lebendige Kindheit

- Salz und Sonne auf unserer Haut!

Geheimnisvoll aber,

mythisch,

dionysisch

und gewaltig jener Ort.

Die Hallen,

in denen

Anfang und Ende zusammenfließen:

Wir lebten am Rande,

der letzten Bastion zivilisierten Lebens.

Von dort 3000 Meter

wildes Land:

Zuerst die Abraumhalden der Stadt

- Schutt!

In der anderen Welt,

jenseits der Ahr,

gesäumt von Alleen immer blühender Kastanien

die in den Hades übergehenden Prozessionen,

wo Staub kommt zu Staub.

Auf unserer Seite die Niederungen,

Sumpf- und Schwemmgebiet,

worin sich alle Urgewalt verläuft:

Hier duckt sich der Ort,

hinter Haselnüssen und Hainbuchen,

ein Bunker,

flach

und bestimmt von Diagonalen

- sanft ansteigende Schrägen.

Zuerst lockt eine Stube,

verwinkelter, tetraedischer Kubus,

kristalliner Raum einer ganzen Welt:

Der Körper spürt wohlige Ewigkeitswärme -

fossiles Urfeuer im Kanonenrohr;

die Augen gehen über.

Im Restlicht erscheint das Panoptikum (D)einer Zeit:

An den Wänden das illustrierte Feuerwerk

der formierten Gesellschaft:

Beauties und Katastrophen,

Abziehbilder medial markierten Raums.

Ein fernes, geheimnisvolles Rauschen liegt über Allem.

Dünn und vernehmlich,

bedrohlich,

aber (noch) gebannt

im Kreis der alten Männer:

Schwerer Moschus

aus Tabak, Manschester -

sinfonische Höhepunkte,

wenn Bohnen und Speck,

Schweinebraten und Kohl,

Wirsing und Gulasch

Geruchsnischen besetzen,

wie Flaschengeister jenem Kessel entsteigen,

der die Kleinode unserer Küche bewahrt;

und doch nichts als Irrlichter im olfaktorischen Inferno.

Von Zeit zu Zeit

- in der rush hour kollektiver Biorhythmen alle Stunde -

verlässt Du die Stube.

Dann ergreife ich Deine Hand

selig geborgen,

gerade genug,

um standzuhalten!

Denn wir treten ein in den Bannkreis der düsteren Hallen,

anschwellendes Rauschen,

noch wie fernes Trommelfeuer vor dem Sturm.

Welche Schätze lagern hinter metallenen Toren

an des Wächters Hand -

vor dem Allerheiligsten?

 

Café Hahn (LEA Club des Jahres 2014)lea2014-cafehahn

Vor vielen Jahren war das Café Hahn nicht nur mein Wohnzimmer, sondern auch zeitweise mein Schlafzimmer. Das Café Hahn war Inspiration für eine eigene „Café-Hahn-Lyrik“ und nicht zuletzt Bühne für eine eigene CH LogoVortragsreihe. Ich erinnere mich mit Lust und Freude daran. Der Aufbau der komplexen BLOG-Struktur geht mir zu langsam. Als Vorgeschmack im Sinne einer Nachlese stelle ich einfach mal meine Café-Hahn-Lyrik aus den frühen 2000er Jahren mit kleinen Kommentaren zum Schnuppern auf diese Seite. 

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Ich weiß es noch!

Woran erinnert ihr euch, wenn ihr alt seid – wo habt ihr gelebt, geliebt, gelitten – gegen alle Vernunft, irritiert, glücklich, verzweifelt, fasziniert, geblendet, aufgelöst, gesammelt, ergriffen, außer euch?

Mit einer kleinen Vorrede

In seinem Buch „Systemische Paartherapie" (Stuttgart 2004) spricht Arnold Retzer im Kapitel „Liebesmythen und ihre Funktion" einen „modernen, wenn auch nicht ganz jungen Mythos" an; den des „Fortschritts, der Autonomie und der vernünftigen Beherrschung der eigenen Lebensbe-dingungen" (Retzer, 33ff.). In Anbetracht dieses Mythos erscheine die Liebe natürlich als ein Skandal, der alles radikal in Frage stelle. All die Bilder, die den von der Liebe Überwältigten als kopflos oder kopfverdreht bezeichnen, all die drastischen Bewertungen eines Zustandes als „schwanzgesteuert" – „Steht der Schwanz, schweigt der Verstand" – oder in seiner sanfteren, umschreibenden Variante, die davon ausgeht, dass der Kopf wohl in die Hose gerutscht sei, suggerieren, dass die leidenschaftliche Liebe nicht gut angesehen ist, dass man sie gar – wie Roland Barthes kritisch anmerkt – als eine Krankheit betrachte, von der man geheilt werden müsse.

Grenzt die Liebe ihrerseits eine (selbst-)beherrschende Vernunft aus, so weist Arnold Retzer darauf hin, dass Ausgrenzungsversuche gegenüber der Liebe notwendig erscheinen, um dann wieder der gerade geltenden gesellschaftlichen Vernunft Genüge zu tun – allerdings mit durchaus ambivalenten Folgen: „Sprichwörtlich sind die abenteuerliche Geschichte des jungen Mannes, der (um zu vergessen) in die Fremdenlegion geht, oder der jungen Frau, die ins Kloster geht. Aber auch das hat natürlich wiederum seinen Preis. Es besteht bei dieser Ausgrenzung der unvernünftigen Liebe die Gefahr, daß nur noch ein vernünftiger, in keiner Weise mehr liebender Mensch zurückbleibt, für den umgekehrt aber auch die Gefahr nicht allzu groß ist, geliebt zu wer-den." (Retzer, 34)

Arnold Retzer spricht im Fortgang davon, dass all diese Herausforderungen des „vernünftigen Ausgrenzens der unvernünftigen Liebe und des unvernünftigen Ausgrenzens der Vernunft durch die Liebe" allbekannte Themen der abendländischen Kultur seien. Eine dieser Vernunftstrategien bestehe in der Überlistung der zerstörerischen Seite des Begehrens. Es werde der Versuch unternommen, die unbeherrschbare Liebe und die herrschende Vernunft, die sich wechselseitig auszugrenzen versuchen, in Einklang zu bringen: „Versuche, Antworten zu finden und diese im Experiment des Lebensvollzugs zu überprüfen, halten an. Die Ehe kann als eine solche zur Institution gewordene Vernunftstrategie betrachtet werden: An den Mast gefesselt, setzt man sich der unwiderstehlichen Verführung auf eine ungefährliche Weise noch einmal aus." (Retzer, 34)

Dies beantwortet allerdings noch nicht die Frage, wie man denn überhaupt hineingelangt in die Ehe und wie man denn den Ausgang findet aus Beziehungen, deren Sinn von einem der beiden Partner in Frage gestellt wird, und wie man denn womöglich den Übergang aus der einen in die andere Beziehungswelt so gestaltet, dass eine „Schädigung" der Beteiligten – auch in Form von „Langzeitschäden" – möglichst gering gehalten wird. Arnold Retzer formuliert in „Liebesproblem 6" unter der Leitdifferenz „Liebesehe", gesellschaftlich herrsche heutzutage weitgehend das Postulat der Einheit von Liebe und Ehe: „Wer heiratet, sollte sich vorher lieben; wer liebt, kann die Ehe nicht verweigern." (Retzer, 54) Die Liebe werde zur einzig legitimen Begrün-dung einer Ehe. Und so ist es den meisten unter uns denn auch vertraut. Nach Retzer erzeugt der Liebescode eine neue Form sozialer Organisation: eine Paarbeziehung, die ihre Legitimität weder aus der Vergangenheit noch aus einer Ursache außerhalb des Paares beziehen könne, sondern sich selbst autonom begründen müsse. Er schlussfolgert, dass damit die Widersprüche und nicht selten auch die Probleme ihren Anfang nähmen und die Liebesbeziehung aufhöre: „Die Liebe wird durch etwas begründet (durch die Liebe), auf das man selbst keinen Einfluß hat, auf das man aber Einfluß nehmen soll, damit es auch in Zukunft, für die das Ehepaar als autonomer Gestalter seiner selbst auch selbst verantwortlich ist, Liebe geben kann. Wir haben es hier – bei der Liebesehe – mit der problematischen Verwicklung zweier unterschiedlicher Kommunikationssysteme zu tun, die unterschiedlichen Logiken gehorchen und verschiedene Sinnsysteme hervorbringen. Wir haben es aber auch mit der problematischen Verknüpfung von etwas spontanem/unwillkürlichem (der Liebe) mit dem kontrolliert/willkürlichen Herstellen und Aufrechterhalten der Ehe zu tun, einer Sei-spontan-Paradoxie." (Retzer, 54)

Um es mit den Worten Julia Onkens zu sagen: „Im Zustand des Verliebtseins fallen meist sämtliche verstandesmäßigen Überlegungen aus: Sie werden von den ungeheuerlichen Eroskräften einfach hinweggespült, damit wir an das Ziel der sexuellen Vereinigung gelangen... Es ist eine sinnvolle Einrichtung, dass die Triebkräfte eine solch gewaltige Kraft über uns ausüben. Das gibt uns einen gehörigen Stoß, uns auf den Weg zu machen, um zu Liebenden zu werden." (Onken, 159) Bei Julia Onken scheint in der Folge wenigstens noch partiell ein sanfter, harmonischer Übergang möglich. Sie spricht von der Fortsetzung des Weges, indem sich „Eros" relativiert und „Philia" an Einfluss gewinnt; „Philia als das Zusammenschwingen der Seelen in Sympathie, Freundschaft, menschlicher Wärme, wohlwollendem Zugeneigtsein". Darin manifestiere sich eine konsequente Weiterführung aus der gegenseitigen erotisch-sexuellen Mann-Frau-Bezogenheit (natürlich auch Mann-Mann und Frau-Frau) in den Bereich der Freundschaften; Philia als Weiter-entwicklung und Verfeinerung der körperlichen Liebe: „Bei den meisten Menschen zeigt sich ein natürliches Bedürfnis, die geschlechtliche Bezogenheit zu erweitern und in den Bereich des menschlichen Miteinander zu gelangen. Wenn das nicht möglich ist, weil sich einer der beiden weigert, wird es früher oder später in der Beziehung zu Problemen kommen." (Onken, 159)

Was hier als „Übergang" gedacht wird, klingt bei Arnold Retzer in einer systemtheoretisch inspirierten Sichtweise zunächst einmal sehr viel nüchterner. All die mit der Liebe verbundenen Probleme könnten seiner Auffassung nach den resignierenden Schluss nahe legen, „daß die Liebe zwangsläufig aufhört und durch gemäßigtere Formen des Zusammenlebens ersetzt werden müsse" (Retzer, 55). In der „Partnerschaft" sieht Retzer diese „gemäßigtere Form". Sie stelle einen radikal anderen Kommunikationscode bereit, der zu gänzlich anderen Sinnverweisen und Kommunikationen führe: „Wir haben es also hier – bei der Liebesbeziehung einerseits und der Partnerschaft andererseits – mit zwei wesentlich unterschiedlichen Systemen zu tun, obwohl die Teilnehmer an beiden identisch sein können." (Retzer, 55)

Für diese Nahtstelle zwischen „Eros" und „Philia" im Sinne Julia Onkens bzw. zwischen „romantischer Liebe" und „Partnerschaft" im Sinne von Arnold Retzer lassen sich wohl keine einfachen Lösungen denken. Niklas Luhmann hat dies zu dem Hinweis veranlasst, das Sicheinlassen auf sexuelle Beziehungen erzeuge Prägungen und Bindungen, die ins Unglück führten. Die Tragik liege dabei nicht mehr darin, dass die Liebenden zueinander kommen; sie liege vielmehr darin, dass sexuelle Beziehungen Liebe erzeugen und dass man weder nach ihr leben noch voneinander loskommen könne (siehe Niklas Luhmann, 203). Peter Fuchs (1999, 48) verweist nüchtern darauf, dass das „Ge-setz der Höchstrelevanz" den Körper selbstverständlich einschließe. Deswegen sei es nicht unproblematisch, „den je eigenen Körper andere Weiden abgrasen zu lassen, solange man Umwelt eines bestimmten Intimsystems ist". Er weist allerdings gleichzeitig darauf hin, dass dies keine „normative Rede" seinerseits sei, sondern nur der Hinweis darauf, dass dies die „Formalpräskription" sei, gegen die die Katastrophen „real existierender" Intimsysteme verständlich würden: „Natürlich wird fremdgegangen, aber das Entscheidende ist der Verschweigezwang, der aus der Vor-schrift resultiert." Hält man sich nicht an den „Verschweigezwang" sind „Katastrophen" häufig unausweichlich.

 

So wie auch in der folgenden Geschichte:

Just in jenen Jahren, da Roland Barthes anhob, die Abwertung des verliebten Menschen zu beklagen und Fragmente einer Sprache der Liebe entwarf (Frankfurt 1984), da Niklas Luhmann begann, mit einem „Was nun? Probleme und Alternativen" (Liebe als Passion, Frankfurt 1982, 197-223) erstmals praktische Hinweise zu geben zur Organisation von Intimsystemen, just in diesen Jahren schwang sich ein junger Mann dazu auf – von alledem nichts ahnend – jenes Gebirgsmassiv zu erstürmen, das sich die Unvernunft nennt und das den Zugang zum lieblichen Tal der romantischen Liebe versperrte. Blindlings und getrieben von den Urmächten des Eros schrieb er nolens volens eine moderne Variante jener Balkonszene, die zum unvergleichlichen Symbol (tragischer) romantischer Liebe geworden ist. Und wenn Roland Barthes seinerzeit meinte, der Verliebte sei äußerlich nicht mehr zu erkennen, so sprechen alle Argumente für diese Hinsicht, erschien doch unser Verliebter bei all seinem Tun eher als undurchsichtige Figur in einem Hintertreppenroman, nämlich als jemand, für den die Polizei mehr Interesse aufgebracht hätte als alle die, die an die romantische Liebe auch heute noch glauben. Und da schon einer dabei war die „Ordnungen der Liebe" (Bert Hellinger) infrage zu stellen, fühlte er sich auch so, nämlich als jemand, der etwas zu verbergen hatte, der etwas tat, was aller Vernunft widersprach. Und er tat es als jemand, der nichts wusste und nichts wissen wollte, von dem, was sein Tun bedeutete und auszulösen vermochte. Weil er geschrumpft war und gewachsen gleichermaßen zu einem Nasenmenschen, der den Einhauchungen atavistischer Urinstinkte folgte, so wie die Elefantenbullen seit Jahrtausenden den Wegen folgen, die sie zur Kuh und zur letzten Ruhe leiten. Und tief im limbischen System ruhten die Handlungsanweisungen dafür, nicht nervös, hektisch und unruhig zu reagieren, sondern mit traumwandlerischer Sicherheit das Richtige im falschen Augenblick und das Falsche im richtigen Augenblick zu tun.

An jenem Samstag im März des Jahres 1979 war der Zielort schon im Visier, normale Vorkehrungen zum Einlaufen in fremde Gewässer schon getroffen. Da war nur der Klingelknopf zu betätigen, und nichts in der Welt deutete da-rauf hin, zu welchen Verrücktheiten sich ein junger, verliebter Kerl in der Folge aufwerfen würde.

Aber an diesem Abend bleibt der Türöffner stumm. Kein noch so zaghaftes, kein noch so stürmisches, forderndes Streicheln und Traktieren des Klingelknopfes löst das kurze metallische „Tak" aus, mit dem sich die Türe aus der Verriegelung löst und den Weg freigibt, um nur noch der Nase zu folgen. Alle Erwartung wird enttäuscht und die Vorfreude zieht sich an einem kühlen Märzabend zurück auf konsequente Beharrlichkeit. Schon beginnt mit dem Klingel-knopf auch die Birne heißzulaufen – ruhig bleiben, ganz ruhig: Erst einmal ein paar Schritte zurückweichen, den Kontext weiter fassen, auf der belebten Straße die Seite wechseln, die beiden großen Fenster im ersten Obergeschoss über der Metzgerei ins Visier nehmen, nach irgendwelchen Lebenszeichen Ausschau halten. Während rechts, in O.'s Zimmer offensichtlich alles ruhig und dunkel scheint, lassen sich auf der linken Seite feinste Unterschiede erahnen; möglicherweise im Schein einer Kerze, ein unscheinbares, eher unwirkliches „Flackern", das sinnesmächtig wird nur im Vergleich zum toten unterschiedslosen Grau nebenan – oder doch nur eine Fata Morgana im belebten Lichterspiel der Hauptgeschäftsstraße? Erneute Klingelorgie! Jetzt bahnt sich die eigenmächtige Gedankenlawine ihren Weg – und präsentiert eine Auswahl von Möglichkeiten.

Ich bin nicht der einzige Aspirant – dafür gab es schon früh, bei der ersten, frechen Avance untrügliche Hinweise. Beeindruckend, wie die eingespielte und eingeschworene Wohngemeinschaft von G. und C. zusammenspielte. Immerhin war mein Besuch „angemeldet", eingefädelt. Da werde ich von G. schon an der Wohnungstüre abgefangen und in ihr Zimmer gelotst. C. sei gleich so weit, ich solle noch ein wenig Geduld haben. Ich habe dort eine halbe Stunde gesessen und mit feuchten Händen und klopfen-dem Herzen auf meine Audienz gewartet. Viel später erst habe ich erfahren, dass einer meiner „Kontrahenten" in der Küche – nur in der Küche – saß, sich begriffsstutzig zeigte und das Feld nicht räumen wollte.

Nur eine Möglichkeit: Ich war noch nicht drin und schon wieder draußen. Diese Frau, begehrt, jung, schön, lebendig hatte eine andere Wahl getroffen! Nein, Unsinn, so sicher war ich ihrer und meiner, dass ich mich auf diese Absurdität nicht einlassen wollte. Sie war einfach nicht da, noch nicht da! Sie verspätete sich – von wo, wieso, weshalb; es war schon später am Abend, zwischen 22.00 und 23.00 Uhr! Nun, manchmal bleibt man in einer Kneipe halt hängen, weil es gerade passt, der Wein und die Worte laufen, das Kerzenlicht und die Blicke flackern... Unsinn, Quatsch! Ich habe gesagt, zwischen 21.00 und 22.00 Uhr bin ich da! Aber irgendetwas stimmt hier nicht. Ihre Vorfreude ist mindestens so groß wie meine. Natürlich! Sie kann nicht reagieren, irgendetwas hält sie ab, hindert sie. Sie schläft!? Das wäre zwar ein starkes Stück, aber immerhin denkbar. Was tun? Was tun??? Schlüsselgewaltig bin ich noch nicht, aber liebestoll, von Sinnen, was ein klares, vernunftgeleitetes Denken eindeutig behindert. Gut so – auf diese Weise können die Urinstinkte das Heft in die Hand nehmen und aus Angsthasen flügelbewehrte Adler machen. Und Adler steigen keine Treppen – aber Adler überwinden jedes Hindernis!

Klar, die Rückseite! Dieser Wohnblock hat zwei Zugänge: einen ordentlichen über die Eingangstüre auf der Hauptgeschäftsstraße und einen über den Hinterhof. Ich muss um den Häuserblock herum. Da siehst du schon von weitem aus wie eine zwielichtige Gestalt, die sich zu schaffen macht, die unsicher wirkt, nach Schleichwegen und Zugängen sucht, die der nicht braucht, der sich schlüsselfertig Einlass verschafft. Verwinkelte Gänge, Mülltonnen, düstere, leblose Hinterhofatmosphäre. Aber die Türe steht offen – die liebenswerten Chaoten der oberen Geschosse haben ihren Sinn für die Ordnung in einem ordentlichen Haus ausgerechnet heute vernachlässigt. Mir soll's recht sein. Ich bin im Haus und steige die Treppe bis zum ersten Obergeschoss hinauf, bin an der Wohnungstüre, an der Klingel und klingele: einmal, zweimal... fünfmal... zehnmal! Ja klar, wo ist der Unterschied? Es gibt keinen Unterschied und mit der Klingel keinen Einlass ins Paradies. Und die Wohnung ist zu verwinkelt, als dass Klopfen einen Unterschied machen würde. Da sind zwei Türen dazwischen und eine lange, lange Diele, und der Schall wird dreimal gebrochen. Ehe ich mir auf diese Weise Gehör verschaffe, ist das ganze Haus auf den Beinen und möglicherweise die Polizei schon benachrichtigt. Das Hirn läuft heiß und steht kurz vor dem Kollaps. Alle Möglichkeiten werden erwogen. Nein, hier ist nichts mit Erwägung – ich will hier rein! Und hier sucht sich die Nase die Fährte, sie nimmt Witterung auf wie ein guter Jagdhund, der es mit jedem Gegner aufnimmt, blindlings und ohne jedes Kalkül. Es ist die Trance eines Unbeirrbaren, der eine Mission hat.

Ja, auf halber Höhe im Treppenaufgang gibt es ein Fenster zum Hinterhof hinaus; nach unten verkommene Glasdachungen, die Andock- und Entsorgungsstelle für den Metzgereibetrieb, nach oben der enge Lichtschacht eines sechsstöckigen Hauses. Und von diesem Fenster aus über mir, vielleicht ein bis zwei Meter entfernt, allerdings um gut einen Meter in der Höhe nach oben versetzt, ein weiteres Fenster. Das ist das Fenster zum Bad, G.'s und C.'s Badezimmerfenster. In Reichweite vom Treppenhausfenster verläuft das Regenfallrohr. Genau da muss ich ran, dann ein Meter in die Höhe und die knapp zwei Meter bis zum Badezimmerfenster – hoffentlich nur angelehnt. Mit Dach-rinnen und Regenfallrohren kenne ich mich aus, die sind in gewissen Abständen mit Schellen in der Wand verankert – dieses hier hoffentlich so gut, dass es mich aushält. Wenn ich hier abstürze, werde ich's vermutlich überleben, aber das Getöse eines zerplatzenden und zersplitternden Glasdaches wird ringsum für Aufruhr sorgen, einmal ganz abgesehen von den Verletzungen, die ich mir zufügen könnte. Aber da ich schon waidwund bin und – wie der Stier – nur zur Kuh will, kann mir ein noch so drohendes Ungemach nicht mehr den Schneid abkaufen.

Mit einer Länge von 1,87 Meter – und mit 74 kg leicht und elastisch wie eine Feder – bin ich prädestiniert, die Erklimmung des Olymp zu wagen. Das Regenrohr in meiner Reichweite hält und ich klammere mich wild entschlossen an dieses Himmelsrohr. Jetzt muss es nur noch die Kraftan-strengung aushalten, die mich zu dem schmalen Sims bringt, der gerade breit genug ist, um meinen Fußspitzen Halt zu geben. Die Jahreszeit kommt mir entgegen. Die steifen Sohlen meiner Totschläger lassen mich Halt finden, die eine Hand am Regenrohr, die andere sich vortastend zur Fensterbacke. Jetzt den Punkt erwischen im Ausbalancieren, der es erlaubt das Rohr zu lassen und mit dem rech-ten Arm so viel Schwung zu entfalten, dass ich meine 74 Kilogramm soweit verlagern kann und Griff am Fenster-sims bekomme. Nur ja kein Übergewicht nach hinten riskieren, sonst bleibt der Bock auf der Strecke!!! Ja, Himmel und Hölle sei Dank, die Fensterbank hat sie noch, die Aus-kerbung, an der sich das Regenwasser sammelt und die jetzt meinen Fingern den Zugriff bietet, um mich zu halten. Nur noch das Fenster aufstoßen, hineinklettern und sammeln für das, was kommen mag. Aber die Mädchen sind vorsichtig. Das Fenster ist verriegelt und gibt keinen Milli-meter nach. Lange kann ich mich so nicht mehr halten: Entweder unsicherer Rückzug, Sturz ins Glas, oder??? Ja, wenn schon Glas, dann nach meinen Konditionen. Mit der einen Hand Halt und Balance gleichzeitig suchen und mit dem Parka-geschützten Ellenbogen des anderen Armes einen gezielten Schlag führen, in dem alle Kraft, alle Wut und Enttäuschung sich entladen kann. Ein kurzes Klirren – das Aufschlagen und Zerspringen von Scherben auf Porzellan und Fliesen. Alles bleibt ruhig. Meine Hand tastet sich zum Fenstergriff vor, entriegelt und öffnet das Fenster. Ich bin drin! Fast. Aber jetzt kann nichts mehr schief gehen. Die linke Hand umklammert den Rahmen, als hinge die Welt daran.

Sekunden später stehe ich im Bad der Wohnung und versuche mich zu sammeln. Es ist totenstill, über allem lastet eine unheimliche Ruhe, nichts rührt sich. Aber spätestens jetzt hätte doch jemand in der Wohnung aufmerksam werden müssen!

Ein zutiefst beklemmendes Gefühl kriecht in mir hoch. Aus meiner Trance gerate ich wie mit einem Fingerschnipp in die Welt, in die ich eingebrochen bin. Jetzt auf einmal verlässt mich mit einem Schlag die Sicherheit des Tuns, das Eigen-mächtige weicht zurück und ich bin nichts als ein Einbre-cher – mit welchem Recht, mit welcher Legitimation??? Ich verletze die Privat- und Intimsphäre eines fremden Menschen. Ich bekomme weiche Knie. Was soll ich tun? Was geschieht, wenn ich diesen Raum, diese Schleuse verlasse und die Wohnung betrete? Welche Unterstellungen haben mich in diesen Wahn getrieben, alles vergessen lassen, was mein Leben bindet und einbindet in vorgespurte Bahnen – kein Gedanke an das Leid, das ich auslöse, kein Gedanke an die Optionen einer Frau, die ich nicht kenne, deren Witterung mir die Sinne betäubt und offensichtlich auch das, was von meinem Verstand noch übrig ist.

Was, wenn dort im „Sesam-öffne-dich" jemand anders regiert, Hof genommen hat und ich nicht nur zum Einbrecher, sondern auch noch zum gehörnten Deppen, zum betrogenen Betrüger geworden bin? Unschlüssig und unsicher nähere ich mich der Türe, öffne sie einen Spalt, so dass die Türe zur Küche in meinen Blick fällt. Sie ist halb geöffnet und der Schimmer des Lichts bricht so eben das Dunkel. Er hat die sanfte Unruhe eines Oszillierens zwischen dem Sein und dem Nichts der beginnenden Dämmerung. Dies kann alles bedeuten und alles verheißen...

„Vereiste Vergangenheit" (ZEIT) und „Es ist nie vorbei" (FAZ)

                                                                                                                                                                                                                                                 Koblenz, den 6.1.2014

Sehr geehrter Herr Hofmann,

mit diesem Brief und dem beigefügten Buch möchte ich mich bei Ihnen persönlich und stellvertretend bei allen bedanken, die „Unsere Mütter, unsere Väter" ermöglicht haben. Ihr Film hat kontroverse Resonanz hervorgerufen. Aber er hat vor allem die Resonanz ausgelöst, die Sie sich erhofft hatten. Er hat nicht die Befürchtung bestätigt, dass es keine Bereitschaft mehr gebe, sich mit diesem Stoff der Vergangenheit auseinanderzusetzen.

„Unsere Mütter, unsere Väter" hat auch mir den letzten Anstoß vermittelt, „Hildes Geschichte" zu Ende zu schreiben. Es ist eine von unzähligen Geschichten, in der „die große Geschichte auf die Welt des einzelnen Menschen und von Familien runtergebrochen wird". Auch in ihr wird das „Massentrauma", von dem Sie und Götz Aly sprechen, geschichtsmächtig, indem es – bis in die dritte Generation – in eine Familiendynamik hineinwirkt, in der das Schweigen und Verdrängen die Bedingung für den Neuanfang darstellen.

Insofern ist „Hildes Geschichte" natürlich auch nicht zu Ende. Dass eine siebzehnjährige die Liebe ihres Lebens erlebt, dass sie schwanger wird und ihr im katholischen Rheinland nur der Weg in ein Entbindungsheim der NSV bleibt; dass sich die große Liebe ihres Lebens (zu einem verheirateten Soldaten mit Frau und Kind) als Trugbild entpuppt, dass sie ihr entsagt und sie ihre Tochter in der Fremde entbindet und nur mühsam den Weg ins „geordnete" Leben zurückfindet, ist sicherlich nicht singulär. Dass sie nach Jahren dem Werben des Jugendfreundes nachgibt und für ihre Tochter doch noch einen (Stief-)Vater findet, mit dem sie zwei Söhne zeugt, klingt fast nach einem Happy-End.

Aber das Familiengeheimnis, das Verschweigen des Vaters der Tochter („Vater unbekannt"), schwelt Jahrzehnte im Verborgenen, bis die Mutter am Beispiel der eigenen Tochter erfährt, wie ihre längst erloschene („vereiste") Sehnsucht von ihrer Tochter wiederbelebt wird – bis an das Ziel einer verzweifelten Suche nach dem, was sie aufgeben musste. 60 Jahre später erfährt die Familie, wie es „auf der anderen Seite" weitergegangen ist, dass der Geliebte, der Vater der Tochter, schon im September 1943 gefallen ist, und dass es zwei (Halb)Brüder gibt. Erst jetzt beginnt der mühsame Prozess der Versöhnung und auch der der Rekonstruktion. Entstanden ist „Hildes Geschichte – oder: Auch eine Liebe in Deutschland".

Auf die Frage, ob es auch Ihr Anliegen sei, „eine Versöhnung zu stiften?" antworten Sie: „Ich wüsste nicht, was da zu versöhnen wäre. Mir geht es um das Aufbrechen dieser Gefühle und den Versuch, diese Zeit auch empathisch zu diskutieren. Vielleicht kann in einem Dialog zwischen den Generationen über diesen Film Versöhnung liegen."

Unsere Mutter ist 2003 gestorben – wenigstens versöhnt mit ihrem ersten Leben und den Folgen. Aber darüber hinaus wird mit großer Emphase darüber diskutiert und darum gerungen, wie all dies innerhalb der Familie wirkt und gewirkt haben mag. Denn was die Suche der Tochter zu einem seligen Ende geführt hat, bedeutet für den Enkel sich damit auseinanderzusetzen neben dem geliebten und verehrten sozialen Opa einen genetischen Nazi-Großvater in sein Leben integrieren zu müssen. So kann „Hildes Geschichte" auch nur der Beginn einer Auseinandersetzung sein, die weit ins 21. Jahrhundert reicht.
Durch „Unsere Mütter, unsere Väter" wird dieser Auseinandersetzung eine breite Basis geschaffen, die – da bin ich mir ganz sicher (und unsere Familie möge dafür ein Beispiel sein) - alle einbindet, die sich und ihre Familiengeschichte besser verstehen wollen.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Franz Josef Witsch-Rothmund

Anlage: „Hildes Geschichte"

Was mögen die Müllmänner denken

(Dieser Beitrag ist eine Auskopplung aus meinem Buch: Die Mohnfrau, Koblenz 2010. Bibliografische Hin- und Nachweise könnt ihr euch demnächst unter "Eigene und fremde Bücher" verfügbar machen. Dort steht auch "Die Mohnfrau" als PDF zur Verfügung.)

 

„Auf das lange Schweigen folgt das dauernde Gerede." So resümiert Iris Radisch unter dem Titel „Metaphysik des Tumors" in der ZEIT vom 17.9.09 die Flut von Büchern über Krebs und Tod. Sie beantwortet die Frage, ob wir eine „literarische Sterbebegleitung" brauchen in der Folge dann aber sehr differenziert und endet mit der These, dass sich im Erscheinen der vielen neuen Sterbebücher ein „neuer Existenzialismus" ausdrücke: „Dieser Existenzialismus ist wie der Tod – zu nichts weiter nutze. Außer vielleicht dazu, uns demütig zu machen. Und zu heilen von dem Wahn Herr im eigenen Haus zu sein."

Mit dem Tod ist es offensichtlich wie mit der Liebe – jedermann sollte sich der Illusion entledigen, Herr im eigenen Haus zu sein. Iris Radisch geht in ihrem Beitrag u.a. auch auf das Buch des Spiegel-Reporters Jürgen Leinemann (Das Leben ist der Ernstfall, Hamburg 2009) ein und würdigt dessen autobiografischen Bericht: „Neben einer sehr detailreichen Schilderung einer sehr komplizierten Krankengeschichte, die an keiner Krankenhauszimmernummer, keiner Röntgenaufnahme, keinem Narbengewebe achtlos vorbeigeht, ist dieses Buch der redliche Versuch, Bilanz zu ziehen und die Familie schriftlich mit Lob und Liebe zu versorgen."

Wer morgens früh durch sein eigenes Dorf fährt, wird in der Regel die zur Abfuhr bereitstehenden Mülltonnen kaum beachten. Genau so wenig, wie wir uns Gedanken darüber machen, wie die unvermeidbaren Aus- und Absonderungen unseres Stoffwechsels über raffiniert designte Kloschüsseln zu den Orten der Klärung und Wiederverwertung gelangen, so wenig Aufmerksamkeit widmen wir in der Regel den Inhalten unserer Mülltonnen.

Irgendwann im Frühjahr 2009 auf dem Weg zum Haus meiner Schwiegereltern – ein Fußweg von lediglich 5 Minuten – fielen mir einige der zur Abfuhr bereitstehenden Mülltonnen durch eine mir bestens vertraute Besonderheit auf. Sie enthielten so viele Windeln und Pflegeutensilien, dass ihre Deckel offensichtlich auch mit allergrößter Anstrengung nicht zu schließen waren. So wie Babywäsche, Schnuller und Spielsachen – an Leinen über Hauseingänge gespannt – häufig die frohe Botschaft vom Nachwuchs kundtun, so mögen Windeln dies auf andere Weise signalisieren; und wem diese Tonnen unverhofft und massenhaft begegnen, der mag den Eindruck gewinnen, auch in Deutschland sei – ähnlich wie Frankreich – eine neue Baby-Boomer-Generation am Werke. Wer dann allerdings genauer hinschaut und nicht vorschnell der Illusion erliegt, all diese Häuser seien von Mehrlingsgeburten gesegnet, wird sich zumindest wundern über Ausmaß und Erscheinungsform dieser Windelwucherungen. Auch wenn diese, im verzweifelten Bemühen um Raumersparnis, sorgfältig verdichtet und geschichtet werden, kommen sie irgendwann dem Deckel der Tonne in die Quere. So viele und so große, immer noch Windeln bekackende Babys kann es gar nicht geben. Und in der Tat bringen

• der medizinische Fortschritt, verbunden mit einem beständigen Anstieg der Lebenserwartung,
• eine gesündere Ernährung und Lebensweise in den Speckgürteln der zivilisierten Welt
• und eine nur zögerlich einsetzende Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens

Formen des Alters und des Alterns hervor, die eine Zunahme übergroßer, voll dementer Riesenbabys zur Folge haben. Dies entspricht zunächst einmal einer schlichten Beschreibung von Tatsachen.

Mein eigener Schwiegervater, der ein dionysischer Tatmensch war, der drei klassische Arbeitsleben in einem vereint hat, der sich in seiner Hochzeit mit fortgesetztem Schlafentzug, Nikotin- und Medikamentenmissbrauch traktierte und der dennoch zu leben verstand, der in nächtlichen Arbeitsorgien sich freisetzte für seine verrückten und abenteuerlichen Skitouren, der keine Fete ausließ und als Rechts-auf-Links-Umschüler (Durchschuss der rechten Schulter in den letzten Kriegsmonaten) kein Tennismatch ungespielt ließ, und den wir als Hypertoniker wie Hypochonder gleichermaßen immer in den Alpen auf einer seiner Skitouren einen gnädigen Tod suchen und finden sahen, dieser übergroße und verrückte Workaholic degeneriert seit 6 Jahren zu einem hilflosen Riesenbaby, das innerhalb weniger Tage ohne fremde Hilfe verdursten, verhungern und verwahrlosen würde.

Der „neue Existenzialismus", von dem Iris Radisch spricht, überrascht uns in der eigenen Familie und malt das drohende Menetekel an die Wand – ein Menetekel, dem wir sicherlich dann nicht entgehen, wenn uns die degenerativen Prozesse eines geistigen und körperlichen Verfalls in ihrer stürmischen Dynamik – wie sie bei Leo, meinem Schwiegervater, irreversibel einsetzten – plattwalzen.

Vor nahezu 40 Jahren – ich habe dies in „Ich sehe was, was du nicht siehst!? Komm in den totgesagten Park und schau" (Koblenz, 2002) beschrieben – trieb uns die Frage um, ob es eine Alternative zum bürgerlichen Familienmodell gebe. In meiner Einleitung II belehre ich mich in gewisser Weise eines Besseren, da wir alle nicht hinausgewachsen sind über die unvergleichlichen Bindungskräfte und -qualitäten, die sich offensichtlich nur in familiären Kontexten begründen und bewähren. Und dennoch lockt, reizt und fordert uns der eigene Übergang ins – hoffentlich – Fürsorgliche Finale (Detlef Klöckner) zu Gestaltungsphantasien heraus. Es ist und bleibt spannend, und ich bin gespannt, wer mir unter welchen Umständen den Arsch und das Gebiss putzen wird, und wer meine alte, nach Berührung und Resonanz heischende Hand halten wird.

Um Iris Radischs ambivalente Reaktion auf die oben erwähnte Textflut abschließend im Hinblick auf ihre Notwendigkeit zu kommentieren, möchte ich anmerken, dass ich ihrem Fazit zustimme. Die Textflut wäre aber um einiges schlanker und gewichtiger, wenn – wie Iris Radisch berichtet – der „eine Journalist seinen Vater nicht nur in Windeln porträtieren würde", und „der nächste die privaten Fotos seiner krebskranken Mutter nicht nur an die Zeitungsredaktionen weiterreichen würde", sondern wenn wir unser Heil in einer stärkeren aktiven und tätigen Anteilnahme an den Pflege- und Sterbeprozessen unserer Eltern suchen würden (vielleicht haben die beiden ja beides getan).

In der Flut der Schriften war mir Fulbert Steffenskys Mut zur Endlichkeit – Sterben in einer Gesellschaft der Sieger (Stuttgart 2007) eine Hilfe:

„Es könnte sein, dass gerade die Hochleistungsmedizin, wenn sie einmal in Gang gebracht ist, ein Sterben in Würde verhindert." Fulbert Steffenskys fulminante Schrift liegt quer zu all den in meinem Büchlein angesprochenen Themenfeldern. Seine Kernthese stellt aber vorrangig die Frage, ob im Jugendwahn und Gesundheitszwang nicht auch ein Stück geheimer Gewalt liege, die uns möglicherweise daran hindere, dem Kranken seine Krankheit zu lassen und sich als Gesunder mit der Krankheit des anderen abzufinden. Er zitiert Udo Krolzik, den Direktor des Johanneswerkes in Bielefeld mit seiner Auffassung, dass erst die moderne Medizin mit ihren Methoden der künstlichen Ernährung aus einer qualvollen Art zu sterben eine qualvolle Art zu leben gemacht habe.
Mein Vater starb mit 65 Jahren innerhalb einer Woche an einem Herzinfarkt, meine Mutter führte ein halbes Jahr einen harten Abwehrkampf gegen Gevatter Hein, die letzten drei Tage im Standby-Modus einer extrem reduzierten Schnappatmung mit zuletzt 1-2 Atemzügen pro Minute. Das alles war schwer zu ertragen, aber es sind naturgemäß die vorletzten Entwicklungsaufgaben, denen wir uns zu stellen haben. Meine Schwiegermutter erfreut sich mit 86 Jahren einer guten Gesundheit im Sinne des im Rheinland vertrauten frommen Wunsches: Oben licht und unten dicht. Hingegen fristet mein Schwiegervater ein elendes Dasein, dem vor drei Jahren die Pflegestufe III attestiert wurde.

Das Elende seines Daseins liegt hier allerdings primär im Auge des Beobachters, des beobachtenden Schwiegersohns. Die Vorsorgevollmacht liegt in Händen seiner Tochter und über eine Patientenverfügung hat er selbst lebensverlängernde intensivmedizinische Interventionen ausgeschlossen. Wir pflegen – wie oben angedeutet – zu Hause. Sein Lebenswille ist eindeutig indiziert über regelmäßiges Essen und Trinken. Auch wenn er dazu selbst in keiner Weise in der Lage ist, steht sein Lebenswille für mich außer Frage. Alle körperliche Zuwendung, alles Drücken, Schmusen und Küssen fällt, wie Regen in der Wüste, auf überaus bedürftigen, aber auch fruchtbaren Boden. Und seine Mimik und Gestik lassen keine Zweifel an seinem Wohlbehagen. Sie sagen uns: Alles ist gut, hier bin ich wohl, hier fühle ich mich geborgen und aufgehoben.

Fulbert Steffensky zentriert seine Gedanken um eine triviale und gleichwohl fundamentale Erfahrung: „Das, wovon wir eigentlich leben, können wir nicht herstellen: nicht die Liebe, nicht die Freundschaft, nicht die Vergebung, nicht die eigene Ganzheit und Unversehrtheit. Man kann sich nicht selbst beabsichtigen, ohne sich zu verfehlen." Mit Fulbert Steffensky nähere ich mich einem theologisch begründeten Gnadenbegriff, mit dem er uns nahelegt, Gnade zu denken bedeute zu erkennen, dass den Menschen nicht seine Tauglichkeit und Verwendbarkeit ausmache: „Alte Menschen, dauerhaft Kranke sind wenig tauglich und verwendbar. Sie können sich nicht durch sich selbst rechtfertigen, nicht durch ihre Arbeit, durch ihre Intelligenz und ihren Witz. Sie sind, weil sie sind. Sie sind nicht, weil sie etwas leisten." Auch Kinder – betont Steffensky – seien zunächst einmal nicht durch ihre Funktion für die Gesellschaft gerechtfertigt. Aber sie seien immerhin – wie Zyniker sagen – eine „Investition für die Zukunft".

Ich bedenke Fulbert Steffenskys Auffassung, dass die Bedürftigkeit den Grundzug aller Humanität ausmache. Und ich kann der Idee folgen, dass ein Wesen umso bedürftiger sei, je geistiger es ist: „Umso mehr weiß es, dass es sich nicht selbst gebären und vollenden kann. Es braucht Väter und Mütter, es braucht Kinder und Enkel. Es muss sich auf mehr berufen können als auf den eigenen Witz und die eigene Stärke." (Ja, da wird doch auch irgendwie verständlich, warum der ehemalige Benediktinermönch Steffensky, Bruder Fulbert, zum Protestanten wird, mit Dorothee Sölle eine Familie gründet und ein gottgefälliges Leben anstrebt.) Den Fokus seiner Argumentation bildet schließlich eine Idee, die ich als die letzte Entwicklungsaufgabe verstehen möchte, die uns möglicherweise gestellt ist: „Schwer erkrankt sein, heißt verarmt sein: arm an eigener Kraft, arm an Bewegungsfähigkeit, arm an Zukunft. Die Krankheit ist Krise: man kann angesichts dieser Verarmung in Hoffnungslosigkeit und Verbitterung erstarren, und man kann sich ergeben. Sich ergeben ist ein veraltetes Wort, das ich mag. Es heißt, sich aus der Hand geben, sich anvertrauen, sich nicht mehr mit sich selber rechtfertigen; wissen, dass es zu wenig ist, nur bei sich selber aufgehoben zu sein. Vermutlich gelingt diese letzte Ergebung, die letzte Bedürftigkeit nur wenigen Menschen [...]."

Vor einigen Monaten habe ich mich im Fitness- und Gesundheitscenter Dany angemeldet und verrichte dort meine gesundheitsfördernden anthropotechnischen Übungen. Ich denke über Motive nach. Am 21. Februar 2010 ist mein 58. Geburtstag. Manfred Lütz (München 2007) hat mir vor Jahren – wie auch vielen anderen – die Frage gestellt: „Sind Sie gerade im Moment gesund?" Und das auch möglicherweise noch im Sinne der Definition der WHO, wonach sich vollständige Gesundheit aus einem umfassenden bio-psycho-sozialen Wohlbefinden zusammensetzt. Menschen, die sich in dieser Weise gesund fühlen, erfahren dies in der Tat als systemisch begründetes, will sagen: intensives wechselwirksames körperlich-seelisch-geistiges Wohlbefinden. Im Großen und Ganzen, Summa summarum und cum grano salis gehöre ich wohl mit meinen fast 58 Jahren zu einer verschwindenden Minderheit von Menschen, die sich in der beschriebenen Weise für gesund halten (dürfen). Vielleicht ist mein gesamtes Leben der lebendige Ausdruck eines pfleglichen und achtsamen Umgangs mit mir selbst. Wäre ich im Sinne einer christlichen Grundorientierung ein gläubiger Mensch, würde Fulbert Steffenskys Idee vielleicht auf mich zutreffen, dass „wer an Gott glaubt, nicht Gott zu sein und Gott zu spielen braucht. Er muss nicht der Gesündeste, der Stärkste, der Schönste, der Erfolgreichste sein."

Ich frage mich, ob die wunderbaren Ideen Steffenskys ihre tatsächliche Kraft verlieren, wenn der Glaube an Gott fehlt? Oder könnte es möglicherweise nicht gerade umgekehrt sein? Warum brauchen wir diese Gottesidee, um dem „merkwürdigen neuen Leiden" zu entgehen, das sich im Sinne Steffenskys in einer „überhöhten Erwartung an das Leben und der Subjekte an sich selber" ausdrückt? Der Katalog, den Fulbert Steffensky auflistet, kommt uns allen vertraut vor: „Mein Körper soll fit sein bis ins hohe Alter, mein Aussehen schön. Mein Beruf soll mich erfüllen. Meine Ehe soll ungetrübt und glücklich sein. Der Partner soll der beste Liebhaber sein und die Partnerin die beste Köchin. Die Erziehung der Kinder soll gelingen. Solche Totalitätserwartungen an eine Liebe programmieren ihr Scheitern. So ist das Leben nicht." Nein, so ist das Leben nicht!

Aber warum muss sich Gott zwischen diese nüchterne Einsicht schieben? Warum genügen wir uns nicht selbst und können nicht aus der Einsicht in die wunderbaren Gedanken Fulbert Steffenskys jene Bescheidenheit gewinnen, die uns das Leben in vollen Zügen genießen lässt, und sei es noch so begrenzt? Zeigen uns nicht eben genau diese Grundhaltung so viele kranke, beeinträchtige und behinderte Menschen? Gnade denken heißt mit den Worten Steffenskys, den Mut zum fragmentarischen Handeln zu finden: „Die meisten Ehen gelingen halb, und das ist viel. Meistens ist man nur ein halb guter Vater, eine halb gute Lehrerin, ein halb guter Therapeut. Und das ist viel. Gegen den Totalitätsterror möchte ich die gelungene Halbheit loben. Die Süße und die Schönheit des Lebens liegt nicht am Ende, im vollkommenen Gelingen und in der Ganzheit. Das Leben ist endlich, nicht nur weil wir sterben müssen. Die Endlichkeit liegt im Leben selber, im begrenzten Glück, im begrenzten Gelingen, in der begrenzten Ausgefülltheit. Hier ist uns nicht versprochen, alles zu sein. Souverän wäre es, die jetzt schon mögliche Güte des Lebens anzunehmen und zu genießen; das Halbe nicht zu verachten, nur weil das Ganze noch nicht möglich ist."

Steffensky nimmt auf Paulus Bezug und stellt mit ihm fest: „Der Mensch ist, weil er sich verdankt." Damit spricht Fulbert Steffensky in seiner kleinen Schrift ein Letztes an, das mich zutiefst anrührt und jenseits aller Gottesphantasien zu einem Grundmotiv meines Lebens führt: „Die große Grundfähigkeit des Lebens ist der Dank. Der Dank lehrt uns das Leben zu lieben." Für mein überreiches Leben danke ich, konkret, weil ich mich selbst so (über)lebensnotwendig verdanke: der ungewöhnlichen Liebe meiner Eltern, der Liebe meiner Frau und meiner Kinder, der Aufmerksamkeit und Wertschätzung der bedeutsamen anderen.

In diesem Büchlein stehen viele meiner Gedichte und lyrischen Selbstzitierungen für diese Erfahrung. Dennoch möchte ich dieses ausführlichere Kapitel mit einem längeren Zitat aus Fulbert Steffenskys Schrift beschließen: „Der Dank lehrt uns das Leben zu lieben. Ich erzähle eine persönliche Geschichte. Ich habe den dramatischen Zusammenbruch meiner Frau zehn Jahre vor ihrem Tod erwähnt. Wir haben Wochen um ihr Leben gebangt. Dann erholte sie sich, langsam und vollständig. Sie und wir haben gelernt, dass das Leben Frist ist. Und dies gab unserem Leben eine neue Intensität. Wir lernten die Selbstverständlichkeiten des Lebens als große Gaben zu schätzen. Dass ein neuer Morgen kam, war nicht mehr selbstverständlich, das Lachen unserer Enkel und dass wir zusammen weiter leben durften, waren nicht mehr selbstverständlich. Der Alltag hatte einen neuen Glanz. Wir haben die Bäume anders gesehen, wir haben unsere Liebe intensiver erfahren, wir haben gelernt, was Brot und was Zeit ist. Wir haben die Gaben des Lebens als uns ungeschuldete und als unverdienbare kennen gelernt. Die Dankbarkeit ist wie eine neue Schöpfung der Dinge. Und auch der nach zehn Jahren erfolgte Tod meiner Frau hat diese Dankbarkeit nicht durchstreichen können. Wer weiß, dass er sich verdankt, ist des Lebens fähig, vielleicht auch des Sterbens."

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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