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Identitätsentwicklung im intergenerativen Kontext – aufgezeigt am Beispiel der eigenen Familie (Anne Rothmund)

 

Inhaltsverzeichnis

 

Einleitung

1. Identität oder „Biographizität" – Biografieforschung und Identitätsentwicklung
    aus der Perspektive Peter Alheits

1.1 Biographie als Konzept des Lernens in der Lebensspanne
1.2 Identität oder „Biographizität"

2. Erziehung als Formung des Lebenslaufs im Rahmen der Luhmannschen
   Systemtheorie

2.1 Grundannahmen in der Lebenslauftheorie Niklas Luhmanns (vgl. ebd. S.266-270)
2.2 Grundannahmen im Kontext der Systemtheorie Niklas Luhmanns

3. „Hildes Geschichte" – Ein Interview mit meinem Vater

4. Fazit

Literatur- und Quellenverzeichnis

Identitätsentwicklung im intergenerativen Kontext – aufgezeigt am Beispiel der eigenen Familie (Anne Rothmund)

Einleitung

Die neuere Biografieforschung weist darauf hin, dass die (Re)Konstruktion des eigenen Lebens kein konsistenter, linearer Prozess ist, sondern ein „komplizierter Vorgang", der Diskontinuitäten und Veränderungen bewältigen müsse (vgl. Alheit 2010, S. 238). Durch eine knappe Bezugnahme auf aktuelle Forschungsansätze (Alheit/Brandt 2006; Alheit 2010; Luh-mann 1997, 2004) soll zunächst ein Referenzrahmen begründet werden, mit dessen Hilfe „Normalbiografien" im intergenerativen Kontext (re)konstruiert werden können. Im Mittelpunkt dieses Rekonstruktionsversuchs stehen Facetten der Biografie meiner Großmutter. Mein Vater hat sie in den letzten zwei Jahren auf der Grundlage intensiver Recherchen (re)konstruiert und im Rahmen einer eher ästhetisierenden Form als Erzählung entwickelt (Witsch-Rothmund 2013).

Positionen innerhalb des Diskurses um Ausrichtung und Grundorientierung der aktuellen Biografieforschung bilden dann auch die Basis für ein Interview, das ich mit meinem Vater um Motive, Probleme und Formen seiner Vorgehensweise geführt habe. Dabei war uns von Beginn an klar, dass die von Alheit im Anschluss an Luhmann betonte immense Bedeutung von „Selbstbezüglichkeit" von vorne herein allen „objektiven" Rekonstruktionsbemühungen im Wege stehen würde. Das Interview dient insofern einer „naiven Rekonstruktion" von Bemühungen um biografische Plausibilität und Konsistenz. Andererseits sollen aber auch die Grenzen dieses Vorhabens im Sinne von Peter Alheit thematisiert werden: „Es ist wichtig, ob ich eine Frau bin oder eine Mann... Ich bin Mitglied der ‚Kriegsgeneration', selbst wenn die Enkel mich als wohlsituierte Großmutter wahrnehmen. Die Spuren der ‚objektiven' Bedin-gungen, die mich geprägt haben, sind also keineswegs ausgelöscht. Aber die ‚Logik', durch die sie wirken, muss noch präziser beschrieben werden (Alheit 2010, S. 238)."

Für mich – als Enkelin – erweist sich diese, drei Generationen umfassende, biografische Rekonstruktion als besonders spannend und folgenreich, weil es um die ‚Logiken' und Bedingungen der jeweiligen Identitätsentwicklung (von Großeltern-, Eltern- und Enkelgeneration) geht.

 

1. Identität oder „Biographizität" – Biografieforschung und Identitätsentwicklung aus der Perspektive Peter Alheits

Peter Alheit betrachtet „die Organisation des sozialen Lebens" in modernen Gesellschaften grundlegend als Zumutung an den Einzelnen und folgt damit der Individualisierungshypothese Ulrich Becks. Auf diese Weise wird der gesamte Lebenslauf allerdings aus seiner Sicht zu einem eigenen Lernfeld: „Kaum eine Statuspassage des Lebenslaufs wird nicht von pädagogischen Maßnahmen flankiert (Alheit 2010, S. 219)." Lebensläufe verlieren nach Alheit ihre normative Kraft. Das Individuum werde zu einer Agentur selbstorganisierter Lernprozesse, deren Ergebnis eine jeweils unverwechselbare einzigartige, aber durchaus fragile Biografie darstellt. Die Biografieforschung rücke damit ins Zentrum vor allem des bildungswissenschaftlichen Diskurses (vgl. ebd., S. 219f.).

 

1.1 Biographie als Konzept des Lernens in der Lebensspanne

In der aktuellen, sozialisationsorientierten Biografieforschung steht nach Alheit der Doppelaspekt einer Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen bzw. der Ausbildung von Identität im Mittelpunkt. Er spricht von einer „Prozessperspektive", die Kindheit, Jugend, Beruf und Alter gleichermaßen thematisiere. Psychologische Ansätze befassten sich dabei mehr mit dem Individuum, während soziologische Konzepte eher die institutionellen bzw. strukturellen Aspekte in den Blick nehmen (vgl. ebd., S. 221f.). Aber erst die „soziologische Biographieforschung" habe weiterführende Perspektiven entwickelt. Ein neues „Leitparadigma" manifestiere sich – verbunden mit dem Einfluss von Ulrich Beck – in der „Individualisierungsdebatte". Seine These läuft darauf hinaus, dass die Individuen in der Moderne immer mehr zu „Zentren von Handlungen und Entscheidungen" würden (vgl. dazu Alheit ebd., S. 223). Damit steige auf Seiten der Individuen die Notwendigkeit zur Selbstregulation und zu einem höheren Maß an Selbstreflexivität. Vor allem die Bildungswissenschaften reagierten hierauf mit Konzepten eines „lebenslangen Lernens". Aus alledem resultiert als zentrale Frage, „wie aber die Subjekte mit dieser zunehmenden ‚Unsicherheit' umgehen (ebd., S. 225)?" Alheit selbst führt an dieser Stelle den Begriff der „Biographisierung" ein. Er biete den Vorteil, die „Integrations- und Identitätsleistung der Subjekte im lebensgeschichtlichen Prozess" greifbar zu machen:

„Mit dem Biographiekonzept wird jene Doppelheit... als eine biographische Prozessstruktur interpretierbar, als ‚biographischer Code', der die einmalige biographische Organisation von Erfahrungen im sozialen Raum als eine Temporalstruktur fasst... Die Verknüpfungslogik ist keine Kausalkette, sondern die narrativ rekonstruierbare Geschichte eines Falles, eine generative Struktur, die zugleich strukturiertes und strukturierendes Element im gesellschaftlichen Prozess ist... Biographien sind also immer beides zugleich: die besondere Lebensgeschichte einer Person und konkretes ‚Dokument' einer allgemeinen – kollektiv geteilten – gesellschaftlich-historischen Geschichte... Erzählte oder in anderen Medien und kommunikativen Formen repräsentierte ‚Lebensgeschichten' dokumentieren diese Dialektik am je konkreten Fall... mehr noch: die narrativ darstellbare Lebensgeschichte ist die entscheidende Ressource zum immer neu geforderten Prozess der Vergewisserung der eigenen Identität (ebd., S. 227)."

Für das Vorhaben, Biografie im intergenerativen Zusammenhang zu (re)konstruieren, erweist sich diese Sichtweise als vorteilhaft, weil im „biographischen Erzählen deutlich wird, dass die erzählende Person keine ein für allemal feststehende Identität besitzt, sondern fortwährend damit beschäftigt ist, Identität auf immer neuen Niveaus herzustellen (ebd., S. 229)." Alheit verweist im Fortgang darauf, dass es sinnvoll sei, den Identitätsbegriff als „Zustandsbeschreibung" durch das „offenere Prozesskonzept Biographie" zu ersetzen. Auf diese Weise würden Biographien als „innere (Sinn)Struktur" beschreibbar, die Identität „als ein generatives Erzeugungsprinzip in einer Zeitperspektive" aufzeige.

Im Zusammenhang mit dem oben angezeigten Vorhaben („Hildes Geschichte") müsste man das „generative Erzeugungsprinzip" in eine Mehrgenerationenperspektive einordnen; vor allem weil in den letzten 80 Jahren – vom Beginn des „Dritten Reiches" an bis zu dem, was in Moderne und Postmoderne ausmündet – der jeweilige gesellschaftliche Referenzrahmen einen dynamischen (Werte)Wandel offenbart.

 

1.2 Identität oder „Biographizität"

Dass vor allem von Niklas Luhmann in die Soziologie eingeführte Paradigma der Selbstreferentialität/Selbstbezüglichkeit greift Alheit auf, indem er darauf hinweist, dass der „Widerspruch" eines generalisierbaren Identitätsgefühls mit der „Trivialität erzwungener Veränderungen" sich konzeptionell dadurch „heilen" lasse, „dass die Außeneinflüsse offensichtlich niemals ‚als solche', sondern immer schon als Aspekte aufgeschichteter Erfahrungen wahrgenommen werden" (ebd., S. 238). Alheit versucht dieses Paradigma in seine Vorstellung „biographischer Konstruktion" einzuführen, indem er darauf hinweist, dass man sich diese „nun durchaus nicht als ein Gefängnis" vorstellen solle, sie sei eben kein „hermetisch-geschlossenes System". In ihr verkörpere sich vielmehr „außerordentlich plastisch die Verarbeitungsstruktur einer nach außen offenen Selbstrefentialität", die Außeneinflüsse mit der ihr eigenen Logik wahrnehme, gewichte, ignoriere und vereinnahme, und die sich in diesem Prozess selbst verändere (vgl. ebd., S. 239).

Alheit verfolgt diese Perspektive weiter, indem er das Oszillieren zwischen „Innenwelt und Außenwelt" nicht nur als jeweils spontane Konstruktion auffasst, die unser Gedächtnis als Reaktion auf neue Außenimpulse erzeuge, um damit Kontinuität und Konsistenz zu bewahren. Er regt vielmehr an, entsprechende Konstruktionen als „biographische Temporalisierung sozialer Strukturen" zu begreifen (vgl. ebd.). Genau in diesem Sinne geht er weiter davon aus, dass „biographische Konstruktionen keine abgeschlossenen Entitäten" seien: „Ihr Charakter ist ‚transitorisch' (ebd.)."
Dies erweise sich zumal in biographischen Krisen als überlebensnotwendig:

„Wir kennen nämlich Situationen, in denen uns der Anschluss neuer Erfahrungen misslingt. Wir können eine Anforderung, die man an uns stellt, oder ein Verhalten, mit dem wir unerwartet konfrontiert werden, nicht mehr einordnen. Es irritiert uns. Es fehlt uns das Instrumentarium, damit umzugehen. Wir fühlen uns überfordert. Die Dinge wachsen uns – alltagssprachlich ausgedrückt – ‚über den Kopf'. Wir mögen das Gefühl nicht loswerden, dass wir ‚gegen unsere Zeit' leben... Oder wir spüren einfach, dass die Bedingungen, unter denen wir unser Leben fristen müssen, uns keinen Spielraum mehr lassen. Vielleicht überfällt uns aber auch ein ganz gegenteiliges Gefühl: dass sich uns nämlich völlig neue ‚Welten' auftun, dass wir eine qualitativ neue Erfahrung gemacht haben, die unser künftiges Leben verändern wird. Alles deutet darauf hin, dass sich hinter den alltäglichen Erfahrungen eine ‚Logik' verbirgt, die unser ganz persönliches Leben betrifft. Zwischen ‚Außenwelt' und ‚Innenwelt' entstehen biographische Konstruktionen (ebd., S. 240)."

Alheit fasst nun diese „transitorische Qualität" unter dem Begriff der „Biographizität" zusammen. Damit meint er die prinzipielle Fähigkeit, Anstöße von außen auf eigensinnige Weise zur Selbstentfaltung zu nutzen, „also (in einem ganz und gar ‚unpädagogischen' Sinn) auf eine nur uns selbst verfügbare Weise zu lernen". In dem, was er die „Biographizität des Sozialen" nennt, nähert er sich einem systemtheoretischen Verständnis von „Selbstrefentialität" an: „Das bedeutet, dass wir Soziales tatsächlich nur selbstreferentiell ‚haben' können – dadurch dass wir uns auf uns selbst und unsere Lebensgeschichte beziehen. Diese Einsicht des radikalen Konstruktivismus bleibt ein intellektuelle Provokation von beträchtlichem theoretischem Reiz (ebd., S. 241)." Biographien werden in diesem Sinne von Alheit verstanden als lernende Aktionszentren, deren Wandlungs- und Anpassungschancen durch die je eigenen biographischen Erfahrungs-ressourcen zwar begrenzt, aber doch niemals prognostizierbar seien: „Ein biographietheoretisch aufgeklärtes Identitätskonzept hat die Beziehung von Selbst und Welt zum Gegenstand – und diese Beziehung ist ein lebenslanger Lernprozess (ebd., S. 241)." „Nur wenn konkrete Menschen sich derart auf ihre Lebenswelt beziehen, dass ihre selbstreflexiven Aktivitäten gestaltend auf soziale Kontexte zurückwirken, ist jene moderne Schlüsselqualifikation ‚Biographizität' berührt... Biographizität bedeutet, dass wir unser Leben in den Kontexten, in denen wir es verbringen (müssen), immer wieder neu auslegen können, und dass wir diese Kontexte ihrerseits als ‚bildbar' und gestaltbar erfahren. Wir haben in unserer Biographie nicht alle denkbaren Chancen, aber im Rahmen der uns strukturell gesetzten Grenzen stehen uns beträchtliche Möglichkeitsräume offen. Es kommt darauf an, die ‚Sinnüberschüsse' unseres biographischen Wissens zu entziffern und das heißt: die Potenzialität unseres ‚ungelebten Lebens' wahrzunehmen (ebd. S. 243)."

Es lohnt an dieser Stelle abschließend, einen zuletzt von Alheit hervorgehobenen Hinweis aufzugreifen, mit dem er auf die aus der Psychoanalyse bzw. aus der humanistischen Psychologie (Rogers u.a.) – abgeleitete Idee „ungelebten Lebens" verweist. Der letzte Satz seiner Ausführungen greift dieses zentrale Motiv noch einmal auf: „Der tiefe (philosophische) Wunsch in uns allen, zu werden, was man ‚eigentlich' ist, macht das Projekt Identität keineswegs nur theoretisch, sonder auch  praktisch zu einer überzeugenden Perspektive. Dies impliziert indessen eine Einsicht in die Biographizität moderner Existenz, in das transitorische Potenzial einer lebenslangen Veränderung der Selbst- und Weltreferenz (ebd.)."

 

2. Erziehung als Formung des Lebenslaufs im Rahmen der Luhmannschen Systemtheorie

Auch Niklas Luhmann geht von der Schwierigkeit aus, in der modernen Gesellschaft eine Antwort auf die Frage zu finden: „Wer bin ich (Luhmann 2004, S. 266)?" Vor allem stimmt er mit Alheit darin überein, dass Identitätskonzepte hier nur unbefriedigende Antworten geben:
„Aber auch ‚Identität' ist ein unzureichendes Konzept, denn identisch ist man sowieso und kann auch nicht noch identischer werden, als man ohnehin ist. Der Begriff... enthält keinen Platz für eine offene Zukunft, und wenn er trotzdem als noch unbestimmt interpretiert wird, wird sein semantischer Gehalt überfordert (ebd.)."

Im Gegensatz zu Peter Alheit geht es Niklas Luhmann nicht um die „Schlüsselqualifikation Biographizität". Sein Interesse als Soziologe konzentriert sich vielmehr auf die Frage, ob es ein Medium gebe, in dem sich – gleich auf wen sie sich beziehen, ob auf Kinder oder Erwachsene – die Wirkungen von Erziehung und Bildung beobachten lassen. An dieser Stelle bietet sich für Niklas Luhmann der Begriff des Lebenslaufs an: „Im Unterschied zu ‚Biographie' enthält er eine noch nicht beschriebene Seite (ebd.)."

 

2.1 Grundannahmen in der Lebenslauftheorie Niklas Luhmanns (vgl. ebd. S.266-270)

Den Lebenslauf versteht Niklas Luhmann:

  • als allgemeinstes Medium des Erziehungssystems mit sehr unterschiedlichen Aus-prägungen: „Ein Lebenslauf ist der Lebenslauf jeweils eines Individuums, also ein anderer als der jedes anderen Individuums (ebd. S. 268)."
  • als eine Beschreibung, die während des Lebens angefertigt und bei Bedarf revidiert wird und die die vergangenheitsabhängige, aber noch unbestimmte Zukunft einschließt;
  • als eine Integrationsleistung von Nichtselbstverständlichkeiten.

Niklas Luhmann fasst den Lebenslauf als eine „rhetorische Leistung" auf, (als eine Erzählung)

  • „dessen Komponenten aus Wendepunkten bestehen, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen". Insofern ist der Lebenslauf aus seiner Sicht eine Form für die „unaufhebbare Kontingenz der Geschehnisse des Lebens" (ebd. S.270). Die angebotene Definition ist gleichzeitig eine Definition für den Begriff der „Kontingenz" – exemplarisch angewendet auf den Lebenslauf.

So wird bereits die Geburt von Niklas Luhmann als „extrem unwahrscheinlicher Zufall" verstanden: „Deshalb muss sie erwähnt werden. Alle weiteren Ereignisse schließen sich an. Einerseits gilt: wäre man nicht geboren, wäre es nicht zu einem beschreibbaren Lebenslauf gekommen. Andererseits gilt, dass damit so gut wie nichts festgelegt ist. Das Muster wiederholt sich von Ereignis zu Ereignis: Immer gewinnt etwas Bestimmtes Form. Man erhält einen Namen, lernt seine Eltern kennen (oder nicht), lässt sich durch dieses oder jenes beeindrucken, arbeitet sich spielend in die Welt hinein, beginnt eine Karriere mit der Erfahrung von Erfolgen und Misserfolgen und schiebt mit alldem eine noch nicht bestimmte Zukunft vor sich her (ebd. S. 267)."

  • „Ob aufgeschrieben oder nicht, man vergisst und erinnert, füllt und entleert sein Gedächtnis, um Kapazitäten für neue Operationen und vor allem für Unvorhergesehenes zu gewinnen (ebd. S268)." Vor allem die Vergangenheit ist nach Luhmann nicht ein für allemal gegeben:
  • Vielmehr führe der Lebenslauf mit neuen Lagen immer auch zu einer Neubeschrei-bung seiner Vergangenheit: „Nach der Scheidung findet man sich wieder als jemand, der das erreicht hatte, was er gewünscht hatte, und dann einsehen musste, dass es nicht so gut war, wie er gedacht hatte (ebd. 269)."

Nach Niklas Luhmann „ist der aus Wendepunkten bestehende Lebenslauf „einerseits ein Medium im Sinne eines Kombinationsprogramms von Möglichkeiten und andererseits eine von Moment zu Moment fortschreitende Festlegung von Formen, die den Lebenslauf vom jeweiligen Stand aus reproduzieren, indem sie ihm weitere Möglichkeiten eröffnen und ver-schließen (ebd. 270)."

Im Weiteren setzt sich Niklas Luhmann mit der Frage nach einer „Begründbarkeit" oder auch der „Teleologie" von Lebensläufen auseinander. Seiner Auffassung nach kann ein Lebenslauf nicht begründet, sondern nur „erzählt" werden: „Streng genommen kann er nicht begründet werden. Wollte man nur die Ziele und Erfolge hervorheben, wäre sofort einsichtig, dass etwas verschwiegen wird (ebd. 268)." Gleichermaßen verwirft er jede Vorstellung einer teleologischen Struktur. Zwar geht er davon aus, dass das Medium des Lebenslaufs keines-wegs „amorph" sei, auch wenn es unabsehbar Vieles und vor allem Unerwartetes zulasse. Es könne sich immer nur um den Lebenslauf nur eines Individuums handeln. Jeder Lebenslauf sei ein „Unikat", also „das Ergebnis eines einmaligen Formfindungsprozesses (ebd. S. 269f.)". Dabei eröffneten in der modernen Gesellschaft „zunehmende Freiheitsgrade" sowohl Wahlmöglichkeiten als auch den Zwang ständig neue Kompromisse zu finden zwischen Kontinuität und Diskontinuität. Auf diese Weise erfülle die „Beschreibung" Lebenslauf eine grundlegende „Sinnfindungsfunktion", die nach Luhmann immer einhergeht mit dem Versuch über sogenannte „Inkonsistenzbereinigungsprogramme" mögliche Widersprüche in einem erträglichen Rahmen zu halten (vgl. ebd. S. 270).

 

2.2 Grundannahmen im Kontext der Systemtheorie Niklas Luhmanns

Am Ende seines Aufsatzes „Identität oder ‚Biographizität'?" weist Peter Alheit darauf hin, dass „'Autopoiesis' (Niklas Luhmann)" im Alltag viel verbreiteter sei, als wir ahnten. Luhmann selbst hat in seinem Aufsatz „Selbstreferentielle Systeme" (Frankfurt 1997a) den von Humberto Maturana und Francisco Varela eingeführten Begriff der „autopoietischen Systeme" in den Mittelpunkt seiner theoretischen Bemühungen gerückt: „Dieser Begriff bezeichnet Systeme, die die Komponenten, aus denen sie bestehen, durch das geschlossene Netzwerk eben dieser Komponenten selbst produzieren und reproduzieren. Sie bestehen aus selbst produzierten Elementen und sind durch eine rekursiv-geschlossene Organisation gekennzeichnet (ebd. S. 70)." Luhmann argumentiert, dass die damit verbundenen neuartigen Einsichten über „selbstreferentielle Geschlossenheit" eine völlig ungewohnte Perspektive für die Beschreibung von System-Umwelt-Verhältnissen nahelegen:
„Nimmt man dafür drei verschiedenartige Grundoperationen an, nämlich Leben, Bewusstsein und Kommunikation, muss man von ganz verschiedenartigen sich selbst reproduzierenden Systemen ausgehen, die füreinander Umwelten sind und füreinander nur Rauschen erzeugen (ebd. S.70f.)."

Am Beispiel der folgenden, eher trivialen Einsichten („Aber wissen wir das nicht sowieso?") lässt sich konkret darlegen, was Niklas Luhmann mit der Unterscheidung von biologischen, psychischen und sozialen Systemen meint. Für (s)ein Bild vom Menschen erweisen sich diese Unterscheidungen als extrem folgenreich: „Was bemerkt das Bewusstsein schon vom Leben seines Körpers? Und wie wenig Bewusstseinsinhalte lassen sich in das geschlossene Netzwerk der sozialen Kommunikationen überführen! Kommunikationen lassen sich nur durch Kommunikationen reproduzieren; bewusste Gedanken nur durch bewusste Gedanken; und das Leben lebt sein Leben, ohne dass ihm Bewusstsein oder Kommunikation hinzugefügt werden könnte. Die im geschlossenen Netzwerk reproduzierten Elementareinheiten sind anschlussfähig nur an Elementareinheiten des gleichen Netzwerkes. Kein Lebensvorgang ist jemals Bewusstseinsakt oder Kommunikation; aber auch keine Kommunikation ist jemals ein Akt der Reproduktion von Bewusstsein, geschweige denn ein Moment der Autopoiesis des Lebens (ebd. S. 71)."
Ein auf dieser Grundlage entwickeltes System-Umwelt-Verständnis hat Luhmann z.B. zu den umstrittenen Aussagen veranlasst, dass „ein soziales System nicht denken und ein psychisches System nicht kommunizieren kann" (vgl. Luhmann 1997b, S. 28): „Der Ansatz betont die Differenz von psychischen und sozialen Systemen. Die einen operieren auf der Basis von Bewusstsein, die anderen auf der Basis von Kommunikation (ebd.)."

Für Niklas Luhmann ist diese Unterscheidung fundamental. Gedankliche Prozesse – Wahrnehmungsprozesse bleiben zunächst ein psychisches Ereignis ohne kommunikative Existenz. Innerhalb des kommunikativen Geschehens sind sie folgerichtig auch nicht anschlussfähig, denn wir können weder wissen noch nachvollziehen, was ein anderer denkt. Sie bleiben im Bewusstsein verschlossen und für das Kommunikationssystem ebenso wie für jedes andere Bewusstsein intransparent. Sie können natürlich externer Anlass werden für eine nachfolgende Kommunikation (vgl. ebd. S. 22): „Beteiligte können ihre eigenen Wahrnehmungen und die damit verbundenen Situationsdeutungen in die Kommunikation einbringen; aber dies nur nach den Eigengesetzlichkeiten des Kommunikationssystems, zum Beispiel nur in sprachform, nur durch Inanspruchnahme von Redezeit, nur durch ein Sichaufdrängen, Sichsichtbarmachen, Sichexponieren – also nur unter entmutigend schwierigen Bedingungen (ebd.)."

1986, im Rahmen einer Tagung zur Frage von „Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie, hat Niklas Luhmann „das wechselseitige Rauschen, Stören, Perturbieren" von psychischen und sozialen Systemen als den „Normalfall" von Kommunikation beschrieben (vgl. ebd. S. 30f.) Die „entmutigend schwierigen Bedingungen", die diesen alltäglichen „Normalfall" von Kommunikation fundieren, halten wir sowohl als „psychische Systeme" wie auch als Teilnehmer an Kommunikation „im Normalfall" aus – wir kommen damit mehr oder weniger klar. Hingegen entsteht nach seiner Auffassung "der Eindruck des Pathologischen erst, wenn gewisse Toleranzschwellen überschritten sind, oder vielleicht könnte man auch sagen: wenn die Gedächtnisse der Systeme hierdurch in Anspruch genommen werden und Störungserfahrungen speichern... und mehr und mehr Kapazität dafür in Anspruch nehmen (ebd. S. 31)." Die mit einem solchen Verständnis von „Selbstreferentialität" und „Autopoiese" sichtbar werdenden Grenzen für jede Form der Selbstrepräsentation (z.B. bei den Bemühungen um autobiografische ReKonstruktionen) hat Dieter Lenzen in einer bemerkenswerten Formulierung zusammengefasst: „Jede Form der Repräsentation von Außenwelt ist immer eine bestimmte Form der Selbstrepräsentation."

Damit ist „Autopoiesis" nicht – wie Peter Alheit meint – „im Alltag viel verbreiteter, als wir ahnen". Sie ist offenkundig eine unaufhebbare conditio sine qua non (auch für jegliche Formen der Biografiearbeit).

Dieser Annahme wollen wir auch im folgenden Interview nachgehen.

 

3. „Hildes Geschichte" – Ein Interview mit meinem Vater


Anne: Ich habe „Hildes Geschichte" über die Weihnachtszeit gelesen, und diese Geschichte hat mich (emotional) sehr bewegt. Ich weiß, dass du lange daran gearbeitet hast und während der letzten zwei Jahre fast ein Geheimnis daraus gemacht hast. Was waren und sind deine Motive für diese intensive Auseinandersetzung?

Papa: Da müsste ich jetzt sehr weit ausholen. Zunächst einmal nur so viel, dass die „Geheimnisse", die mit „Hildes Geschichte" verbunden sind, unsere Familie – da geht es jetzt um meine Herkunftsfamilie, also deine Großeltern väterlicherseits – schon seit vielen Jahrzehnten beschäftigen. Deine Tante Ulla, meine Schwester, ist 10 Jahre älter als ich. Sie ist am 5. Juni 1942 geboren worden. Da war deine Oma Hilde eine junge, siebzehnjährige Frau. Ulla hat mit zunehmendem Alter, als ihr klar war, dass mein Vater und der Vater deines Onkels nicht ihr (biologischer) Vater war, Genaueres erfahren wollen über ihre eigene Herkunft, also vor allem, wer ihr Vater ist.

Anne: Aber hätte sie da nicht einfach die Oma fragen können!

Papa: Das hat sie ja versucht. Aber Oma hat sich anfangs, das war 1988, als dein Opa gestorben war, vollkommen verweigert. Sie hat darüber nicht reden wollen und deine Tante teils recht unwirsch zurückgewiesen.
Anne: Warum hat sie das deiner Meinung nach getan?

Papa: Das ist eine Frage, über deren Antwort wir nur spekulieren können. Und in meiner Erzählung stelle ich deiner Großmutter selbst diese Frage – eingebettet in eine ganze Fragebatterie, mit der ich sie – sozusagen posthum – darum bitte bzw. sie nötigen will, uns dies zu erklären. Es gibt dafür „natürlich" eine ganz naheliegende Erklärung, auf die viele Psychoanalytiker (das Ehepaar Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern), aber aktuell auch viele Wissenschaftler oder auch Filmemacher zurückgreifen. Nico Hofmann (der Produzent von „Unsere Mütter, unsere Väter") und Götz Aly (ein Historiker – „Die Belasteten") sprechen in einem Interview mit der ZEIT von der „Vereisten Vergangenheit": Es ist wohl eine Mischung aus Scham, Schuld und konsequenter Verdrängung der Vergangenheit, die unsere Eltern- und eure Großelterngeneration erst in die Lage versetzt hat, das Trauma des Krieges hinter sich zu lassen und die Wirtschaftswunderwelt aufzubauen.
Anne: Und wie ist dann „Hildes Geschichte" entstanden? Welcher Hilde begegne ich denn in deiner Erzählung? Und wie bist du überhaupt selbst ins Spiel gekommen?
Papa: Es hat mehr als zehn Jahre gedauert, bis deine Tante das Geheimnis ihrer Herkunft lüften konnte. Deine Großmutter hat sich erst spät und nach und nach geöffnet und ihrer Tochter, deiner Tante, wenigstens den Namen ihres Vaters genannt. Sie hat ansonsten erklärt, dass sie alle Dokumente (Briefe und Fotos vor allem) schon 1942 ver- nichtet hat, nachdem sie erfahren hatte, dass der Vater ihrer Tochter bereits verheiratet war, eine Familie und schon einen Sohn hatte. Es hat nach der Geburt deiner Tante keinerlei Kontakt mehr gegeben zwischen deiner Großmutter und Ullas Vater. In die Geburtspapiere hat sie eintragen lassen: „Vater unbekannt", und über den Verbleib, das weitere Schicksal von Franz Streit – das ist der Name von Ullas Vater – hat sie keinerlei Informationen gehabt, bis zu dem Tag, als Ulla endlich an das Ziel ihrer Bemühungen gelangt ist. Aber keiner hat diese Geschichte „wirklich erzählt". In mir ist das Bedürfnis immer stärker geworden, irgendwie verstehen zu können, wie das alles zusammenhängt.

Anne: Was davon hat die Oma denn noch erlebt?

Papa: Deine Oma hat die beiden Söhne, also die Brüder von Ulla, noch kennengelernt. Sie hat erst 60 Jahre nach der Geburt ihrer Tochter erfahren, dass Franz Streit ein gutes Jahr nach der Geburt seiner Tochter in Russland gefallen ist. Und sie hat sich vor allem – nach Jahrzehnten der Verdrängung und der Sprachlosigkeit – mit ihrer eigenen Geschichte und auch mit ihrer Tochter noch aussöhnen knnen.

Anne: Aber worauf beruht denn deine „biografische (Re)Konstruktion"? Was an dieser Geschichte ist „erfunden" und was ist über „harte Daten und Fakten" verbürgt?

Papa: Die Daten – Geburtstage, Todestage – sind selbstverständlich „amtlich" verbürgt. Die Geschichte des „Kennenlernens", diese sonderbare, verrückte Liebesgeschichte, der deine Tante ihr In-die-Welt-Kommen verdankt, sind ebenfalls im Kern verbürgt – und zwar von deiner Großmutter selbst. Auf die Frage deiner Tante, wie denn ihr Vater ausgesehen habe, hat sie ihr z.B. geantwortet, sie solle in den Spiegel schauen und vor allem: Sie würde schon verstehen, was damals geschehen sei, wenn sie einmal ein Foto ihres Vaters in Händen halten würde. Mir hat sie – du weißt, dass ich sie in den letzten Jahren ihres Lebens regelmäßig einmal in der Woche, immer mittwochs, besucht habe – anvertraut, dass sich die Geschichte in Remagen so zugetragen hat, wie ich sie geschildert habe, nicht in allen Einzelheiten, aber in den Grundzügen – und vor allem als „Liebesgeschichte".

Anne: Aber wie konntest du das in dieser Weise tun. Man hat ja den Eindruck, dass du dich in deine eigene Mutter hineinversetzt, in ihre Gefühlswelt, in ihre Nöte und Bedrängnisse, aber auch in die Gefühlswelt einer jungen, verliebten Frau.

Papa: In „Hildes Geschichte" bedanke ich mich zum Schluss (S.313f.) bei allen, die mich un- terstützt und ermuntert haben; vor allem bei deiner Mutter. Sie hat mir Weihnachten 2011 zur „Initialzündung" verholfen, indem sie gemeint hat, ich solle mir diese junge Frau um Gottes Wollen doch nicht ständig als meine Mutter vorstellen. Diese junge Frau sei 1941 Galaxien davon entfernt gewesen, meine Mutter zu werden. Von da an lief es „wie am Schnürchen". Auf der anderen Seit hatte ich ein sehr innige, intensive Bindung an deine Großmutter, so dass ich glaube mich sehr gut in sie hineinversetzen zu können.

Anne: Als Mann in eine junge Frau???

Papa: Ja, das klingt verrückt. Und ich vermute, dass mir das jetzt erst im Alter möglich ist – sicherlich aus vielen Gründen: Ich habe mich schon von Jugend an für die Zeit des Nationalsozialismus interessiert und habe viel darüber gelesen. Die näheren Lebensumstände, sozusagen das Herkunftsmilieu deiner Großeltern, sind mir auf eine merk-würdige Weise besonders vertraut, weil deine Oma und dein Opa ja als Nachbarskinder, Hausbacke an Hausbacke und Garten an Garten groß geworden sind. In diese eher singuläre Ausgangslage bin ich selbst – ebenso wie dein Onkel – hineingeboren worden. Mir sind also Umgebung und Lebensumstände von Kind an vertraut gewesen. Das „Einfühlen" in die besondere Lebenssituation deiner Großmutter bezieht sich einerseits auf das Nachvollziehen des sozialen, kulturellen und wertemäßigen Umfelds, das ein junger Historiker, Sönke Neitzel, den „historischen Referenzrahmen" nennt. Andererseits war ich selbst überrascht davon, wie sehr mich diese hochdramatische Geschichte eines 17jährigen Mädchens im katholischen Rheinland – in einem ausgesprochen „bildungsfernen Milieu" – gepackt hat, wie sehr ich „mitgelitten" habe.

Anne: Peter Alheit spricht in seinen Ausführungen an einer Stelle von der besonderen Bedeutung „biographischer Krisen" und davon, dass wir „Außeneinflüsse mit der ihr eigenen ‚Logik' wahrnehmen, gewichten, ignorieren und vereinnahmen", und dass wir uns in diesem Prozess selbst verändern. Beschreibst du in deiner Erzählung nur „Hildes Geschichte" oder hat das auch etwas mit dir zu tun?

Papa: Als wir über den Aufsatz von Peter Alheit gesprochen haben, fanden wir seine Hin-weise sehr überzeugend, dass unser „biographischer Habitus durch die Tatsache geprägt wird, dass wir in einem bestimmten Milieu aufwachsen". Die Milieus, aber noch sehr viel mehr die Bindungen an Vater und Mutter prägen unsere Möglichkeiten, unsere jeweilige Identität – oder zumindest das, was wir dafür halten – in einem intergenerativen Kontext zu begründen und zu reflektieren: „Ich bin Mitglied der ‚Kriegsgeneration', selbst wenn meine Enkel mich als wohlsituierte Großmutter wahrnehmen", zitiert Alheit eine Frau aus der Generation deiner Großeltern und meiner Eltern. Eine „apokalyptische" Krise, wie sie deine Großmutter als siebzehnjährige junge Frau erlebt, die schwanger wird und damit gegen alle Prinzipien und Werte ihrer Zeit und ihres Herkunftsmilieus verstößt, und die vor allem damit ihre gesamte Existenz aufs Spiel setzt, die – zumindest für eine Zeit – das Gefühl von Geborgenheit und Zugehörigkeit verliert, und die dennoch Lösungen findet; eine Krise solchen Ausmaßes und solcher Bedrohungsqualität habe ich selbst vermutlich nicht erlebt. Ich habe versucht, die Bedingungen zu sehen, unter denen sich all dies 1941/42 und darüber hinaus zugetragen hat. Peter Alheit spricht von der „Logik der objektiven Bedingungen", die keineswegs ausgelöscht seien und um deren Beschreibung man sich bemühen müsse.

Anne: Es gibt eine Stelle bei Peter Alheit, die mich bei all den komplizierten Ausführungen in seinem Aufsatz sehr überzeugt: „Wir kennen nämlich Situationen, in denen uns der Anschluss neuer Erfahrungen misslingt. Wir können eine Anforderung, die man an uns stellt, oder ein Verhalten, mit dem wir unerwartet konfrontiert werden, nicht mehr einordnen. Es irritiert uns. Es fehlt uns das Instrumentarium, damit umzugehen. Wir fühlen uns überfordert. Die Dinge wachsen uns – alltagssprachlich ausgedrückt – ‚über den Kopf'. Wir mögen das Gefühl nicht loswerden, dass wir ‚gegen unsere Zeit' leben... Oder wir spüren einfach, dass die Bedingungen, unter denen wir unser Leben fristen müssen, uns keinen Spielraum mehr lassen. Vielleicht überfällt uns aber auch ein ganz gegenteiliges Gefühl: dass sich uns nämlich völlig neue ‚Welten' auftun, dass wir eine qualitativ neue Erfahrung gemacht haben, die unser künftiges Leben verändern wird. Alles deutet darauf hin, dass sich hinter den alltäglichen Erfahrungen eine ‚Logik' verbirgt, die unser ganz persönliches Leben betrifft. Zwischen ‚Außenwelt' und ‚Innenwelt' entstehen biographische Konstruktionen."

Papa: „Der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen." Ich glaube, du kannst diesen Satz von Niklas Luhmann nicht mehr hören, weil ich ihn bei jeder Gelegenheit immer wieder zitiere. Peter Alheit betont die Bedeutung „biographischer Krisen"; Niklas Luhmann spricht von der „unaufhebbaren Kontingenz der Geschehnisse des Lebens". Ich muss an der Stelle ehrlich gestehen, dass mich bis heute immer wieder ein existentieller Schwindel ergreift, wenn ich darüber nachdenke, wie absurd und vollkommen unwahrscheinlich die drei Wochen der Begegnung deiner Großmutter mit Franz Streit, dem Vater von Ulla, meiner Schwester und deiner Tante, aus dem Fluss unserer Biographien herausragen. Ohne dieses verrückte Ereignis „gegen die Zeit", gegen alle Vernunft, gegen alle herrschende Moral, wäre – wenn man das filigrane Geflecht von „Zufällen" und Ereignissen auch nur ansatzweise zu erahnen beginnt – unser aller Existenz – so zumindest niemals zustande gekommen!

Anne: Aber das ist doch jetzt pure Vermutung und nichts als Spekulation. Dafür kannst du doch nicht wirklich Fakten oder überzeugende Argumente vorbringen!?

Papa: Ich schließe mich der Überzeugung Niklas Luhmanns an, dass man einen Lebenslauf nicht begründen, sondern nur erzählen kann. Diese Erzählung gestattet mir – mit einem Abstand von 70 Jahren zu den Ereignissen – wenigstens eine Ahnung davon zu bekommen, was eigentlich geschehen wäre, wenn z.B. Franz Streit nicht verheiratet gewesen wäre und vor allem (und außerdem), wenn er nicht im Krieg gefallen wäre. Die Bedingungen für das, was sich in den Nachkriegsjahren ereignet hat, dass vor allem deine Großmutter und dein Großvater tatsächlich zusammengekommen sind und eine Familie begründet haben, sind nicht wirklich zwingend und hätten leicht einen anderen Verlauf begünstigen können.

Anne: Aber rückblickend sind die Geschehnisse eines Lebenslaufs letztendlich doch zwingend: Du und deine Geschwister sind geboren worden, deine Kinder, deine Nichten und Neffen sind geboren worden! Was bedeutet „Hildes Geschichte" für ihre eigene Entwicklung, für euch, ihre Kinder und für uns, ihre Enkelinnen und Enkel?

Papa: Peter Alheit spricht an einer Stelle davon, dass wir die „Sinnüberschüsse unseres biographischen Wissens" entziffern müssen. Ich glaube ganz sicher, dass es eine starke (intergenerative) Linie gibt, die man vielleicht mit der Idee einer starken „Resillienz" auf den Begriff bringen kann: Deine Oma hat sich „gegen ihre Zeit" für eine uneheli-che Schwangerschaft entschieden, hat sich als alleinerziehende Mutter wieder zurückgekämpft in ein nicht allzu freundliches Umfeld; in ihrer Tochter ist ihr letztlich die gleiche Sturheit und Beharrlichkeit – und auch ein ausgeprägte Resillienz – begegnet, die sie selbst charakterisiert. Und ich bin überzeugt davon, dass auch ihre Söhne und Enkelinnen ähnliche Persönlichkeitsmerkmale aufweisen; zumindest wirst du dich/werdet ihr euch immer an dieses „großmütterliche Erbe" erinnern (können). Ein wenig anders liegen offensichtliche die Verhältnisse für ihren einzigen Enkel, euren Cousin Michael, der einer anderen Generation (Jahrgang 1962) angehört. Bei ihm – der seine Großmutter über alle Maßen verehrt – habe ich den Eindruck, dass ihm die kognitiven und emotionalen Dissonanzen zu schaffen machen, die damit zusammenhängen, dass es ihm – als Antifaschisten, der 1988 als junger Mann am ehemaligen Ort der Synagoge in Bad Neuenahr die Gedenkrede zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht hält, schwer fällt, einen erklärten und bekennenden Nationalsozialisten in seinen Lebenslauf zu integrieren.

Anne: Spiegelt sich das eigentlich in den Rückmeldungen wider, die du seit der Veröffentlichung (Weihnachten 2013) bekommen hast?

Papa: Die berührendsten Reaktionen kamen von euch, den Enkelinnen. Die waren auf einer emotionalen Ebene – wie du am besten weißt – ziemlich heftig; vermutlich, weil ihr vier junge Frauen seid, die sich noch viel mehr hineinversetzen können (und sich hineingezogen fühlen) in den Überlebenskampf einer jungen Frau in einer zutiefst feindseligen Umgebung. Ansonsten gab es im Wesentlichen positive Rückmeldungen, die sich in der älteren Generation teils distanzierten von den intimen Schilderungen im Zusammenhang mit der „Liebesgeschichte", der sich auch Ullas Existenz letztlich und einzig verdankt.

Anne: Was glaubst du, wie die Oma selbst darauf reagiert hätte?

Papa: Ich habe einem Bekannten geschrieben, der die Oma auch kannte – und der von einer „Verletzung ihrer Intimsphäre" ausgeht, dass – wenn mich je jemand ermuntert hätte zu diesem Buch – das die Oma selbst gewesen wäre. Vielleicht hat sie am Ende ihres Lebens eine große Sehnsucht danach gehabt, verstanden zu werden. Und meine Erzählung wird im Grunde getragen von einer großen Dankbarkeit und einem durchgehenden Motiv der Liebe zu ihr – trotz all der beharrlichen und auch schmerzenden Fragen, die diese Geschichte nun auch einmal hervorruft und die mich weiter antreiben.

Anne: Also wird es weitergehen?

Papa: Es wird weitergehen – und es hat ja schon viel früher angefangen. All die Geschich-ten, die ich seit mehr als 10 Jahren aufgeschrieben habe, möchte ich jetzt zu einer großen vernetzten biographischen Erzählung zusammenführen. Dazu hast du im Übrigen mit deiner Seminararbeit einen entscheidenden Anstoß gegeben!

Anne: Zuletzt möchte ich noch wissen – du hast da eine Andeutung gemacht – inwieweit sich deine Auseinandersetzung mehr auf eine ästhetische Ebene hin verlagert?

Papa: Ich wollte immer schreiben – und habe es aus Verdruss, aus Frustration, weil ich den selbst gesetzten Maßstäben nicht zu genügen vermochte, einfach gelassen. Erst kurz vor meinem 50igsten Geburtstag habe ich diese „Schreibblockade" abgelegt und arbeite seitdem munter vor mich hin. Dabei sind viele Gedichte entstanden. Aber erst mit „Hildes Geschichte" habe ich mich zum ersten Mal aufs Erzählen eingelassen, vermutlich weil ich vorher immer mehr erklären als erzählen wollte. In einem Buch von Peter Alheit, das du mir gegeben hast (und das ich nicht kannte) schreibt er, „dass die Bewegungen in der Moderne offensichtlich nicht notwendig auf eine Zunahme funktional-rationaler Reflexivität hinauslaufen, sondern dass es – parallel dazu und gewöhnlich übersehen – eine Form ‚ästhetischer Reflexivität' gibt, die den Modernisieriungsprozess begleitet und durchaus mitgestaltet (Alheit/Brandt, S. 25)." Da finde ich mich wieder und ergänze es zum Schluss mit einem ähnlichen Zitat von Niklas Luhmann, dessen nüchterner Analyse ich viel verdanke: „Ich denke manchmal, es fehlt uns nicht an gelehrter Prosa, sondern an gelehrter Poesie... Vielleicht sollte es für anspruchsvolle Theorieleistungen eine Art Parallelpoesie geben, die alles noch einmal anders sagt und damit Wissenschaftssprache in die Grenzen ihres Funktionssystems zurückweist."

4. Fazit

Für mich war die Entscheidung ein glücklicher Zufall, das Seminar zur ästhetischen Bildung noch einmal zu besuchen und dass in diesem Semester der Seminarschwerpunkt bei Frau Dr. Lohfeld „Biografische Zugänge in der Ästhetischen Bildung" war. Mein Vater, der über zwei Jahre lang an dem Buch „ Hildes Geschichte- oder auch eine Liebe in Deutschland" gearbeitet hatte, beendete kurz vor Weihnachten des letzten Jahres seine Arbeit. Ich las das Buch über die Weihnachtstage. Dabei entstand bei mir die Idee, diese Arbeit zum Thema meines Portfolios zu machen. Das Seminar, das Projekt meines Vaters und meine Auseinandersetzung mit dem Buch beziehen sich auch auf ästhetische Prozesse mit biografischem Hintergrund.

Letztendlich sind wir beide dankbar dafür, dass dieses Seminar uns die Möglichkeit zu einer Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Feld der Biografieforschung ermöglicht hat. Besonders dankbar bin ich vor allem dafür, dass dieses Buch der Anstoß war, zu einer intensiven Beschäftigung mit unserer Familiengeschichte. Für viele Fragen, die wir uns auch gemeinsam stellten, gab uns die Biografieforschung wichtige Impulse, die wir weiterverfolgen werden.
Dieses Buch meines Vaters und die Seminararbeit haben mir dazu verholfen mehr über mei-ne Wurzeln herauszufinden und somit auch besser zu verstehen wer ich bin, wo ich herkomme und wie sich Familiengeschichte auf meine eigenen Entwicklungsperspektiven auswirkt. Somit wurden die Erwartungen, die ich zu Anfang des Semesters an das Seminar „Zugänge zur ästhetischen Bildung" hatte bei weitem übertroffen.

 

Literatur- und Quellennachweis:

Alheit, Peter (2010): Identität oder „Biographizität"? Beiträge der neueren sozial- und er- ziehungswissenschaftlichen Biographieforschung zu einem Konzept der Identitätsentwicklung, in: Griese (Hrsg.): Subjekt – Identität – Person, Wiesbaden 2010, S. 219-250

Alheit, Peter/Morten Brandt (2006): Autobiographie und ästhetische Erfahrung – Entdeckung und Wandel des Selbst in der Moderne, Frankfurt 2006)

Luhmann, Niklas (2004): Erziehung als Formung des Lebenslaufs, in: Niklas Luhmann Schriften zur Pädagogik, herausgegeben von Dieter Lenzen, Frankfurt 2004, S. 260-277

Luhmann, Niklas (1997a): Selbstreferentielle Systeme, in: Lebende Systeme – Wirklichkeits- konstruktionen in der systemischen Therapie, herausgegeben von Fritz B. Simon, Frankfurt 1997, S. 69-77

Luhmann, Niklas (1997b): Was ist Kommunikation, in: Lebende Systeme – Wirklichkeits konstruktionen in der systemischen Therapie, herausgegeben von Fritz B. Simon, Frankfurt 1997, S. 19-31

Witsch-Rothmund, Franz Josef: Hildes Geschichte – oder: Auch eine Liebe in Deutschland, Koblenz 2013

   
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