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Benedict Wells - Die Geschichten in uns - Vom Schreiben und vom Leben I

(hier geht's zu II)

Nur wer redet, ist nicht tot

Don’t ask – don’t tell

Die Welt kommt zu uns (manchmal auch als Flaschenpost – seinerzeit von Paul Celan, heute von Benedict Wells)
macht sich in uns breit,
sinkt ab in Fühlen und in Habitus.

Die Quellen gründen tief,
aus denen Lebenswasser quillt,
geklärt durch Denk- und Fühlverbote.

(Nur wenn ein Damm bricht vor der Zeit,
macht sich zuweilen Flut und Feuer breit,
zerreißt das dünne Eis der Contenance.)

Danach und manchmal auch zuvor
hilft uns dann Therapie
im Suchen und im Finden einer Sprache.

Und Sprache findet (manchmal) zaghaft ihren Weg
viel seltener die passende Adresse -
Für’s Zuhören wird ja nun gezahlt!

Wenn’s  jenem Urgrund mangelt an Vertrauen,
wenn Schmerz und Kränkung Fundamente bauen,
versagt man sich das Fragen -

und das Erzählen wohl erst recht!
Kommt, reden wir zusammen (schrieb Gottfried Benn*) -
wer redet, ist nicht tot!

Und wusste wohl: es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not – und warnt:
Kommt öffnet doch die Lippen,

so nah schon an den Klippen
in eurem schwachen Boot.
Nur wer redet, ist nicht tot! (immer auch für Rudi - hinzugefügt am 24.02.2024)

*Gottfried Benn, Gesammelte Werke - Gedichte (Limes Verlag), Wiesbaden 1963, S. 320

dirk oschmann als Türöffner zu Benedict Wells:

Ich danke meinem Neffen für die folgende Gabe und greife sie hier noch einmal auf: dirk oschmann, Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, München 2023). Ich werde dirk oschmann versuchen auf akribische Weise gerecht zu werden (auch durch die von ihm selbst gewählte Kleinschreibung seines Namens). In dirk oschmanns resignativen Anwandlungen spiegelt sich meine eigene Resignation wieder mit Blick auf die Sprachlosigkeit, die wir auch im Westen beobachten bzw. die sich viele von uns verordnen. Damit meine ich im Übrigen nicht den unerträglichen Dünnsprech, der in den sozialen Medien seuchenartig grassiert. Ich meine uns alle - uns wohl und gut (aus-)gebildete Nutznießer von mehr als siebzig Jahren geplünderter Friedensrendite. Wir no-names sollten uns nicht verpissen, sondern uns der Anstrengung des Begriffs unterziehen - "die individuellen und kollektiven Flugbahnen verbinden" in  der Gewissheit, dass man "zwar vorwärts leben muss, aber nur rückwärts verstehen kann". Diese oschmannsche - auf Sören Kierkegaard gegründete - Einsicht bedeutet Pflicht nicht nur zur Selbsteinsicht, sondern auch zur Selbstpositionierung! Das sind wir allein schon unseren Ahnen sowie unseren Kindern und Kindeskindern schuldig. Und hier meine ich nicht irgendeine deutsche Intellektuellentradition, sondern ich meine  u n s - ja uns, die wir das unfassbare Privileg einer soliden Ausbildung und Bildung(?) genossen haben. Es ist übrigens ein Punkt, an dem ich dirk oschmann vehement widerspreche, wenn er in Anmerkung 94 (Seite 214) glaubt bemerken zu müssen: "Insofern gilt Odo Marquards berühmter Satz >Zukunft braucht Herkunft< nicht, wenn man die falsche Herkunft hat."

Ich möchte hier weder ausfallend werden noch abfällig erscheinen. Aber hier irrst Du, dirk oschmann. Von falscher Herkunft zu sprechen - das alleine bedeutet bereits die totale Kapitulation. Das ganze Gegenteil muss unser Impetus und Anspruch sein: Scheiß auf die Deutungshoheit selbst ernannter Eliten oder Beitrittsgewinnler. Jeder einzelne von uns hat eine Stimme. Und wenn er der Auffassung ist, dass er denken kann, dann soll er diese Stimme erheben und damit aufhören das Elend der Welt (und sein eigenes darin) auf Sündenböcke zu projizieren. Mein Neffe hat mir vor Jahren in diesem Sinne einmal seinen Selbstanspruch im Sinne von  e m a n c i p a t i o  - ja die Entlassung aus der väterlichen Hand vermittelt! Oschmanns Botschaft in dieser Hinsicht wird deutlich, wenn er darauf besteht, die individuellen und kollektiven Flugbahnen zu verbinden.

Erst unter dieser Prämisse wächst gleichermaßen Verständnis für die Irrtümer derer, die uns vorausgegangen sind, wie der notwendige Abstand, um unsere eigenen Fehlleistungen selbstkritisch einzuräumen. Nur so kann der Kreislauf nicht enden wollender Vorhaltungen und Schuldzuweisungen den anderen gegenüber durchbrochen werden. Und dies gilt sowohl für die individuellen als auch die kollektiven Verfehlungen.

Lieber dirk oschmann lies bitte noch einmal, was du auf Seite 15 formuliert hast - zur Erklärung des immer deutlicher werdenden Erfolgs der AfD (vor allem im Osten)!!!

in progress -

so hatte ich es vor! Und nun kommt da ein 1984 Geborener daher und greift dirk oschmanns Motiv auf: Benedict Wells: Die Geschichten in uns – Vom Schreiben und vom Leben (bei Diogenes, Zürich 2024). Heute erworben, bin ich lediglich bis auf Seite 29 vorgedrungen. Genug, um zu feiern – genug, um zu trauern. Benedict Wells schließt seinen „gescheiterten Versuch, erst mal kein Buch mehr zu schreiben“ mit einer üppigen Danksagung ab. Daraus zwei Hinweise, die mit Blick auf die eigene Familie eine stille Trauer auslösen:

Zum einen dankt Benedict Wells seiner älteren Schwester, die ihn als „großartige Leserin beim Schreiben immer unterstützt hat“. Ihr verdanke er ein Wort wie Neverboy – „sie ist einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben – ich bin zutiefst froh und dankbar, sie zu haben“.

Nun muss man an dieser Stelle zumindest einen kleinen, Kontext eröffnenden Einschub machen: Benedict Wells lässt zu Beginn seines Hauptkapitels Der Weg zum Schreiben eine Begegnung mit dem Fünfjährigen (Benedict Wells) zu:

„Er hat mir wenige präzise Erinnerungen hinterlassen“ und: „Gehe schnell an vielen Orten meiner Kindheit und Jugend schnell vorbei, noch immer ein Flüchtling vor der Vergangenheit.“ Aber: „ich möchte für dieses Buch vor allem das mitnehmen, was mir wichtig für mein Schreiben scheint.“ Und immer wieder: „ein verstohlener Blick auf den schlafenden Jungen. Er wirkt so winzig. An dem Chaos, das bald zu Hause ausbricht, wird er sich die Schuld geben und glauben, funktionieren zu müssen […] Andere haben es schwerer, was sollen die erst sagen? Ein Kind, das im Grunde nicht stattfindet; ein Neverboy, der nur seine Fehler sieht und niemand mit der eigenen Geschichte behelligen möchte. Der später Romanfiguren als Masken benutzen und seine Gefühle hinter ihren Gefühlen verstecken wird. Und dennoch muss ich diesen Jungen nun gegen seinen Willen in dieses Buch schubsen, selbst wenn das bedeutet, dass er seine Eltern, seine Schwester und ein paar private Dinge hineinreißen wird. Ohne ihn und sein Aufwachsen kann ich nicht von meinem Schreiben erzählen. Es werden nur kurze Bleistiftskizzen, kein farbiges Bild, keine Autobiografie. Wenn ich ehrlich bin, habe ich noch immer keine Sprache für den Jungen, nur einen distanzierten Ton. Fast, als wäre er jemand anderes. Dann sehe ich das Stofftier, das unter seinem Arm klemmt, und greife danach. Fünfunddreißig Jahre später ist es noch immer in meinem Besitz: ein Schneetiger, verschrumpelt und angegraut. Ungläubig sehe ich, wie strahlend weiß er hier noch ist. Ich lege ihn zurück und muss lächeln, dann ziehe ich weiter.“ (Seite 24)

Zu den Vorbemerkungen gehört wenigstens der Hinweis, was Benedict Wells zur Wahl des Begriffs Chaos veranlasst – dazu nur so viel: Nach der Trennung seiner Eltern zieht seine Mutter mit ihm in ihre Schweizer Heimat:

„Als ich sechs Jahre alt war, erlebte ich mit, wie ihre manische Depression ausbrach. Normalerweise war unser Verhältnis innig, nun verbrannte sie im Wahn mein Spielzeug oder drohte mir Gewalt an, etwa, mir die Schulter auszukugeln. Sie setzte ihre Schlaftabletten ab und sprach ständig davon, dass sie sterben würde, was ich ihr ebenso oft auszureden versuchte. Ich war monatelang allein mit ihr, bis sie nach einem Zusammenbruch in die Psychiatrie eingeliefert wurde. Danach kam ich erst zu einem Onkel, dann zu meinem Vater, der damals in die Insolvenz abrutschte, sodass nie sicher war, ob wir die Miete bezahlen konnten oder aus der Wohnung fliegen würden. Da er rund um die Uhr arbeiten musste, landete ich schließlich in einem staatlich-katholischen Grundschulheim in Bayern […] Die Seile und Auffangnetze waren gerissen.“ (Seite 26f.)

Und nun Zu guter Letzt I innerhalb seiner Danksagung:

„Ich hoffe, ich habe im biografischen Teil nicht zu viel Persönliches zugemutet. Auch wenn das eher die zensierte Fassung ist, fiel es mir nicht leicht, so offen zu sein. Doch die Neverboys und –girls von gestern sind oft die depressiven Bittergirls und –boys von morgen, und falls nur ein Mensch sich in dieser Beschreibung gesehen fühlt, war es mir das schon wert.“ (Seite 381)

Benedict Wells (im Übrigen ein Enkel Baldur von Schirachs, der Sohn Richard von Schirachs <siehe: Der Schatten meines Vaters> und der Cousin Ferdinand von Schirachs) – ich erwähne dies erst jetzt und auch unter dem Vorbehalt, mit dem er sich offensichtlich versucht, von seiner familiären Herkunft zu distanzieren. Benedict Wells rettet sich selbst – irgendwie, bis hierher. Er schreibt, benutzt – wie er bekennt - Romanfiguren als Masken, um seine Gefühle hinter ihren Gefühlen zu verstecken; immerhin!

Mir geht es primär um seinen Hinweis auf die Neverboys und Nevergirls. Man kann das generativ betrachten. Dann sind die Neverboys und Nevergirls eben jene jungen Menschen, die unter dem Eindruck leben, die Seile und Auffangnetze seien gerissen. Aber Neverboys und Nevergirls markieren weder eine Pubertätsprivileg noch zwangsläufig eine Ausschließlichkeits-Merkmal jener jungen Menschen, die sich ohnehin im Prozess der Individuation bewegen, in ihm (teils hilflos) driften. Dramatisch in den Auswirkungen bleibt dies, wenn man diese frühe Selbstwahrnehmung des Nevergirls/Neverboys mitnimmt und sie als basso continuo des eigenen Lebens hinnimmt:

Don’t ask – don’t tell

Die Welt kommt zu uns  (manchmal auch als Flaschenpost – seinerzeit von Paul Celan, heute von Benedict Wells)
macht sich in uns breit,
sinkt ab in Fühlen und in Habitus.

Die Quellen gründen tief,
aus denen Lebenswasser quillt,
geklärt durch Denk- und Fühlverbote.

(Nur wenn ein Damm bricht vor der Zeit,
macht sich zuweilen Flut und Feuer breit,
zerreißt das dünne Eis der Contenance.)

Danach und manchmal auch zuvor
hilft uns dann Therapie
im Suchen und im Finden einer Sprache.

Und Sprache findet (manchmal) zaghaft ihren Weg
viel seltener die passende Adresse -
Für’s Zuhören wird ja nun gezahlt!

Wenn’s  jenem Urgrund mangelt an Vertrauen,
wenn Schmerz und Kränkung Fundamente bauen,
versagt man sich das Fragen -

und das Erzählen wohl erst recht!
Kommt, reden wir zusammen (schrieb Gottfried Benn*) -
wer redet, ist nicht tot!

Und wusste wohl: es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not – und warnt:
Kommt öffnet doch die Lippen,

so nah schon an den Klippen
in eurem schwachen Boot.
Nur wer redet, ist nicht tot! (immer auch für Rudi - hinzugefügt am 24.02.2024)

*Gottfried Benn, Gesammelte Werke - Gedichte (Limes Verlag), Wiesbaden 1963, S. 320

 

Kurze Nachbemerkung - zu einer in progress befindlichen Auseinandersetzung. Im Literaturverzeichnis findet sich ein Hinweis auf Ingeborg Bachmanns Frankfurter Vorlesungen (München 2011). Das 1988 im Rahmen der Frankfurter Vorlesungen erschienene Suhrkamp-Bändchen: Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen findet keine Erwähnung. Dabei hat Peter Sloterdijk bereits poetologisch die Blaupause geschrieben für das, was Benedict Wells nun wagt (siehe auch hier):

">Die Poesie zwingt sich nicht auf, sie setzt sich aus<, hatte Celan gelehrt. Inzwischen wissen wir, das Poesie sich aussetzt, weil sie von etwas Zeugnis gibt, dem ihre Sprecher ausgesetzt waren, ehe es bei ihnen zur Selbstaussetzung kam. Auf unwillkürliche Weise ists die poetische Schrift schon immer dem Zeugnis nahe, sofern sie ein altes Engramm paraphrasiert, überschriftet und zutage redet. Denn nur indem sich die Tätowierung noch einmal aufs Spiel setzt, wird Poesie als Sprache möglich. Durch die Übernahme und Veröffentlichung der Urtätowierungen öffnet sich der literarische Raum [...] Wenn die Literatur mit ihrem Veröffentlichungsrisiko das Tätowierungsrisiko erneuert, so entgeht sie der Beliebigkeit und der Dekorativität." (Seite 19)

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund