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Kluge Frauen und kluge Männer (in progress) - vor allen Eva Menasse zugedacht

Dass ich zu den klugen Frauen Eva von Redecker zähle, ist mittlerweile sattsam bekannt. Zu den klugen Frauen gehört zweifelsfrei auch Eva Menasse. Ihre Betrachtungsweisen von Welt und Zeit reflektieren ganz grundlegend, was Peter Sloterdijk einmal mit Blick auf einen anderen klugen Mann folgendermaßen auf den Punkt gebracht hat. Es geht dabei um die Unterscheidung von Weltbildern erster und zweiter Ordnung – eine Unterscheidung, die einer Vorbemerkung bedarf. So leite ich Sloterdijks Beschreibung mit einer eigenen kleinen Einleitung ein:

Warum Bildung immer wichtiger wird: Peter Sloterdijk weist darauf hin, dass jene, „die für sich einen höheren Ernst reklamieren, weil sie als Fürsprecher einer Realität erster Ordnung auftreten“ – in der Regel distanzlos agieren. Eine distanzierte Grundhaltung – eingedenk unvermeidbarer blinder Flecken – fördere hingegen „eine Neigung zum Desengagement von fixen Meinungspositionen“. Hier komme zum Tragen, was Niklas Luhmann eine Haltung der Selbst-Desinteressierung nennt. Warum dies so ungemein wichtig ist, wird überdeutlich in der von Peter Sloterdijk vorgenommenen Unterscheidung von Weltbildern erster Ordnung auf der einen Seite und einer Haltung, die den Realitätsglauben als auswechselbare Größe begreift, auf der anderen Seite:

Denn es geht hier, möchte ich vermuten, um nichts Geringeres als das allen Weltbeschreibungen erster Ordnung inhärente Paranoia-Potential und die von ihm gebundene und entbundene Gewalt. Wo immer Menschen anfangen, ihre Weltbilder distanzlos zu bewohnen und ihre Einteilungen des Seienden im Ganzen als eine Arena realer Kämpfe zu erleben, dort sind sie der Versuchung ausgesetzt, für ihre Identitätskonstrukte bis zum bitteren Ende zu kämpfen und für ihre Fiktionen zu töten.“ (Peter Sloterdijk, in: Luhmann Lektüren, Berlin 2010, S. 153)

In Alles und nichts sagen -Vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023) vermerkt Eva Menasse auf Seite 160: "Und daher ist Nele Pollatschek zuzustimmen, wenn sie schreibt: >Die Gefahr an Antisemitismus ist nicht, dass er Gefühle verletzt, sondern dass er Leben kostet. Gefühle sind mir egal, ich möchte nur nicht ermordert werden.< Aber es fehlt doch etwas: Ich möchte auch nicht, dass andere Minderheiten ermordet werden, von Tätern mit genau demselben Weltbild."

Es geht - wie in Sloterdijks Hinweis, um jene, "die für sich einen höheren Ernst reklamieren, weil sie als Fürsprecher einer Realität erster Ordnung auftreten". Leider kann man die Vertreter solcher Weltbilder nicht damit entschuldigen, dass sie - wie Jan Philipp Reemtsma einmal vermerkte - zu jenen gehören, die mit ihrem unaufhebbaren Nichtbescheidwissen die Mehrheit repräsentieren. Der Faschist und Parade-Intellektuelle Carl Schmitt, dem allseits überdurchschnittliche Intelligenz attesiert wurde, hat dem klassischen Weltbild erster Ordnung auf brilliante Weise zur Sprache verholfen. In seiner Monographie Der Begriff des Politischen (Duncker & Humblot, Berlin 1932 - mir in der 7. Auflage aus 163 vorliegend) hat er mit dem binären Code Freund - Feind nicht nur die Einteilung des Seienden in eine gewissermaßen anthropologisch manifestierte Seinsordnung vorgenommen. Er hat gleichzeitig befördert, dass die faschistische Elite samt ihren Helfern und Helfeshelfern für ihre Identitätskonstrukte bis zum bitteren Ende gekämpft und getötet haben und Verantwortung für den Holocaust tragen. Der im Nachkriegsdeutschland von vielen Intellektuellen hofierte Carl Schmitt hat sich nie entblödet (und viel weniger entschuldigt) für seinen ekelerregenden Antisemitismus, dessen Überführung in geltendes Recht am 15. September 1935 mit den so genannten Nürnberger Gesetzen vollzogen wurde. Mit ihrem Inkrafttreten war die rechtliche Grundlage für die Verfolgung der Juden in Deutschland geschaffen. Antisemitismus war fortan nicht nur legal, sondern gesetzlich verordnet. Carl Schmitt ging in seiner Verblendung so weit, dass er keine Skrupel und Bedenken hatte, seine Tagebücher - herausgegeben von Wolfgang Schuller - der Nachwelt zugänglich zu machen (Akademie Verlag, Berlin 2010).

Daraus eine Anmerkung des Herausgebers und eine knappe Kommentierung meinerseits:

Wolfgang Schuller schreibt in seinem Nachwort auf Seite 467: "Begeisterung für Hitler - etwa nach dessen Rede auf dem Leipziger Juristentag (3.10.33) - wird zwar gelegentlich zur Ironie relativiert [...], aber fast tragikomisch ist die Beteuerung, dass und wie begeistert er alle drei Strophen des Horst-Wessel-Liedes gesungen habe." Nein, Wolfgang Schuller! Das ist nicht "tragikomisch"!!! Das ist und bleibt ekelhaft. Es ist und bleibt deshalb ekelhaft, weil Sie - Wolfgang Schuller - eine Seite zuvor (S.466) notieren: "Und dann die Juden [...] das ist der düsterste Aspekt des Tagebuches. Gerade in Bezug auf die Juden spielt das Adjektiv 'eklig' eine besonders große Rolle und auch sonst sind abschätzige und sogar hasserfüllte Äußerungen Legion."

Vom Zauber der Unklarheit - Kapitel X in Eva Menasses Debattenbeitrag zur Digitalmoderne (Seite 161-183):

Ich bin die Tochter eines jüdischen Vaters (geboren 1930 in Wien) und einer jüdischen Mutter (geboren 1943 in Kalisch, Polen).“ Biografische, selbst lebenslaufbezogene Klarheit lässt sich in den wenigsten Lebensläufen voraussetzen. Eva Menasse bedient zunächst einmal ein klassisches Muster, indem sie feststellt, dass auch in ihrer Familie wenig gesprochen wurde, Informationen eher mühsam zu enthüllen waren. Dabei schildert sie einen Umstand, der auf den ersten Blick verblüfft, der aber bei genauerer Betrachtung den ganzen Irrsinn der nationalsozialistischen Rassengesetze offenbart:

„Dass die Menasse-Großeltern in Wien überlebt hatten, verdankte sich den Nürnberger Rassegesetzen genauso wie der Standhaftigkeit meiner Großmutter Dolly. Aus Nazi-Sicht handelte es sich um eine >nichtprivilegierte Mischehe<, da die drei Kinder in der jüdischen Kultusgemeinde registriert und damit Juden waren, in Nazisprache >Geltungsjuden<, den >Volljuden< >rassisch< gleichgestellt.“

Eva Menasse (EM) schildert, dass ihre Großmutter – trotz des erheblichen Drucks der Nazis – die Scheidung verweigerte. Sie ging mit ihrem Mann den bitteren Weg: „Wäre meine Großmutter während der harten Kriegsjahre durch Unfall oder Krankheit gestorben, hätte es das sofortige Todesurteil für meinen Großvater bedeutet.“

EM will die ganze Familiengeschichte besser verstehen. Ich zitiere nun eine lange Passage, um den eklatant gegensätzlichen Verlauf von Lebensläufen im engen Familienkontext aufzeigen zu können. Sie sucht den Neffen ihrer Großmutter auf und berichtet folgendes:

„Er lebte in Bayern in einer der schlichten Siedlungen, die man nach dem Krieg für die eigenen Flüchtlinge hochgezogen hatte. Zum Glück war er keiner von den hartleibigen Sudetendeutschen, die ihre Vertreibung am liebsten losgelöst von jedem historischen Zusammenhang beklagen wollen. Die Gewalt und die Morde während der Vertreibung schilderte er bis ins Detail, aber er erzählte auch freimütig, dass er als Jugendlicher mit seinem Fahrrad zwanzig Kilometer gefahren sei, um in Freudenthal (heute Brúntal) Hitler zu sehen. Damals saß mein Onkel Kurt, sein direkter Cousin, mit dem er ungefähr gleichaltrig war und früher die Ferien verbracht hatte, vermutlich schon bei einem Londoner Schneider im Souterrain und lernte nähen. Mit acht oder zehn Jahren waren sie noch gemeinsam auf den Kirschbaum in dem kleinen Dorf geklettert, aus dem meine Großmutter stammte und in dem ihr Bruder geblieben war, und nur ein paar Jahre später ist der Sohn des einen Hitler-Anhänger, der Sohn des anderen hingegen, der wegen seiner glänzenden Schulnoten eigentlich Arzt hatte werden wollen, ein elternloses Flüchtlingskind. Wieder ein paar Jahre später kommt Letzterer als Befreier in englischer Uniform und mit mehreren Tapferkeitsorden zurück und dolmetscht bei den Verhören der alten Nazis, während der andere gerade als junger Nazi aus der Tschechoslowakei vertrieben wird.“

Aus all diesem Stoff – so EM – schreibt sie ihren ersten Roman Vienna, der – so ihre Wahrnehmung – vorwiegend als jüdischer Familienroman rezipiert wurde.

Randbemerkung: Ich habe die Geschichte meiner Mutter – Hildes Geschichte – in Bruchstücken aufgeschrieben. Ein entscheidender Antrieb lag in der damit nabelschnurlebendig verbundenen Geschichte meiner Schwester. Eva Menasse hält es für erwähnenswert, dass der sudetendeutsche Neffe ihrer Großmutter die Vertreibung der Sudetendeutschen nicht losgelöst von den historischen Zusammenhängen erinnert. Bis heute bleibt für uns alle die Frage höchstrelevant, wie wir die Lebensläufe unserer Eltern und Großeltern im historischen Kontext wahrnehmen, wie sehr wir selbstkritisch heute auch sehen können, welchen Gestaltungsanteil und –auftrag wir heute mit unseren eigenen Lebensläufen verbinden. Nach dem Geschenk und der Errungenschaft eines zivilisatorischen Minimums (siehe weiter oben und vgl. Senghaas zivilisatorisches Hexagon) gibt es für rechtsextreme Orientierungen keinerlei Pardon: Keine Stimme der AfD! Wir bildungshungrigen Kinder und Enkel der Kriegsgeneration konnten unseren Bildungshunger stillen – und der Gebildete verwahrt sich kategorisch jeder rechtsextremen Gesinnung gegenüber (siehe weiter oben: Warum Bildung immer wichtiger wird!).

Natürlich müssen wir uns im Kontext des erwähnten zivilisatorischen Minimums darüber verständigen, was wir unter Bildung verstehen, und was mit diesem Bildungsverständnis kategorisch ausgeschlossen wird (eine Abrechung in diesem Sinne aus eigener Feder). Mir fällt beispielsweise Wolfgang Klafkis Definition ein, wonach ein gebildeter Mensch Grundfähigkeiten ausbildet im Sinne einer entwickelten Selbst-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit, der sodann um die Problemlagen der Welt weiß und sich in verantworlicher Weise um ihre Lösung mit bemüht - im Rahmen seiner bescheidenen Möglichkeiten. Hier ist weder Platz für völkisches Denken noch für Ungleichheitsphantasien. Hier ist kein Platz für Autokraten, Gewaltherrscher, Oligarchen oder selbsterklärte/-ernannte Eliten, die glauben Teile der Menschheit über Zuschreibungen kategorial abwerten, ausgrenzen oder benachteiligen zu können (siehe Zygmunt Bauman: Kategorialer Mord). Eva Menasse gelangt zu der Überzeugung, dass

"die Juden in Deutschland niemals mehr einfach nur eine Religionsgemeinschaft sein können. Die so denken, ignorieren völlig, worauf die Vernichtungsleidenschaft der Nazis allein beruhte: auf Zuschreibung, auf der Metaphysik des >gesunden Volkskörpers<, auf der Unlogik und Willkür von Mördern. In den Gaskammern, in den Lagern, in den Erschießungsgruben Osteuropas starben Menschen, die gläubig oder ungläubig, säkular oder orthodox, reich oder arm waren, es starben >Volljuden<  und >Mischlinge< ersten und zweiten Grades ebenso wie solche, die nicht einmal gewusst hatten, dass sie Juden waren."

Eva Menasse stellt sich die Frage, warum sie das alles erzählt?

"Wahrscheinlich nur, um mir selbst klarzumachen, wie fragil und veränderlich das Konstrukt Identität ist. Wie komplex und schwer zu entwirren, wie geheimnisvoll und fruchtbar, wie gefährlich und neurotisierend. Kein Maßstab ist hierfür passend, es gibt keinen Urmeter und keine Atomzeit. Daher ist es nicht nur anmaßend, sondern auch dumm, wenn sich andere daran vergreifen, weil sie sortieren wollen, was sich in den Grenzbereichen eben niemals sicher sortieren lässt."

Eva Menasse geht auf Beispiele ein, so wie auch mir Beispiele einfallen - neben Hildes Geschichte. EM geht auf einen Roman ein, den sie ganz besonders bewundert: Die Fliegenfängerfabrik von Andrzej Bart. Ich mache daraus einen eigenen Beitrag - gestützt auf die Hinweise Eva Menasses. Der Roman wird als vergriffen deklariert. Ich versuche ihn übers Internet zu ordern.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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