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So schnell komme ich von Eva von Redecker nicht los - für meine Cousine

So schnell komme ich von Eva von Redecker nicht los. Sie zitiert Simone de Beauvoir im Zusammenhang mit einer Vorstellung, was denn Glück wohl sein könnte? Und aus diesen Überlegungen zieht Eva von Redecker ihre Schlussfolgerungen (Bleibefreiheit, Seite 92-97)?

„Das Glück ist eine weniger verbreitete Berufung, als man annimmt. Ich glaube Freud hat völlig recht, wenn er es von der Erfüllung kindlicher Begierden abhängig macht. Ein normales Kind, das man nicht bis zum Stumpfsinn vollstopft, birst vor Gelüsten: was es in Händen hält, ist so wenig im Vergleich zu dem unendlich vielen, das es wahrnimmt und um sich fühlt.“

In den besten Jahren von Simone de Beauvoir ist in deutscher Übersetzung 1969 erschienen. Mit meiner Frau gemeinsam habe ich es 1986 gelesen – nach der Eileiterschwangerschaft, über die wir unser erstes Kind verloren haben. Fast vierzig Jahre später wissen wir – gesegnet mit zwei Kindern und Enkelkindern -, was damit (mit de Beauvoirs Anregung) gemeint ist. Und Eva von Redecker kommentiert, hier gehe es zunächst einmal um Weltwahrnehmung, nicht um Weltaneignung; und dies sei – zumindest aus Sicht Simone de Beauvoirs – der Schlüssel zum Glück. Unmittelbar wirft dies die Frage auf, was denn der Fall sei, wenn der falsche Überfluss in die Gegenwart aber die Regel sei?

Eva von Redecker bringt Kae Tempest (Jg. 1985) ins Spiel. Ihr Essay Verbundensein, bei Suhrkamp 2021 erschienen, geht der Frage nach, wie wir Wege aus der eigenen Enge finden können?

Kleine Anmerkung: Heute morgen – wie auch schon die vorvergangenen Tage – erhalte ich WhatsApp-Nachrichten von meiner Cousine, die sich auf einer Kreuzfahrt durch die Adria befindet. Auf den Fotos mit wunderschönen Motiven sehen wir eine entspannte – unserer Wahrnehmung suggerierend - glückliche Gaby. Ich habe Ihr – der im Sternzeichen der Fische einen Tag vor mir Geborenen – heute folgendes (in Anlehnung an Eva von Redecker) zurückgeschrieben: „Lass es Dir wohlergehen und lass Deine Seele nicht dort. Sammle die Eindrücke – wie weiland Frédéric die Sonnenstrahlen und zehre von ihnen, wenn die Tage kürzer werden. Auch dann darfst Du segeln und schweben – Deine Freiheit –Bleibefreiheit—ob in Dubrovnik oder zu Hause. Du bist es Dir wert: >Einfach weiterleben. Selbst wenn der melodische Fluss versiegt, bleibt zumindest das Wissen um diesen Schlüssel.“

Das ist – wie immer – viel leichter gesagt als getan und führt uns zu der Frage, die sich Kae Tempest nach eingehender Selbsterforschung selbst stellt:

„Das Leben ereignet sich, aber nichts hallt tiefer nach. Abgesehen von Gebären oder Sterben, die uns instinktiv und schockartig empfinden lassen, scheint nichts tiefgreifend genug, um [eine Person] in einer Lebenserfahrung zu verwurzeln, die ihr sinnvoll erscheint … Es ist so, dass ich mein gesamtes Leben lang gelernt habe, Besitz, Sozialstatus, öffentlicher Anerkennung enormen Wert beizumessen. Ich muss mich umerziehen, wenn ich lernen möchte, die winzigen und alltäglichen Dinge zu schätzen. Kurze Wortwechsel. Aufrichtige Intimitäten. Aber wie erziehe ich mich um?“

Indem Eva von Redecker die Frage stellt, wie man zu den Zwischentönen, zur Abnahme der Taubheit gerät, weckt sie Erwartungen. Umso verblüffender wenn sie dann vermerkt, dass Kae Tempest unverblümte großmütterliche Lebensweisheiten anbietet, denen sie sich – eben einmal vier Jahre älter als Kae Tempest – gerne anschließe: „Leg dein Handy weg. Lausche den Vögeln.“

Die Metapher und die beständige Tatsache des Unfertigseins im Kontext der Bleibefreiheit.

Dass ein junger Mensch nicht fertig ist, geht uns recht unvermittelt über die Lippen. Der Appell: "Komm wir machen uns unfertig" irritiert. Aber nach der von Redecker zitierten Judih Butler passiere dies ja ständig, in der Trauer nach einem Verlust, aber auch in jeder Form des Begehrens. So gerät das Unfertige zu einer Verheißung - in der Sprachgebung von Redeckers zur Wiedergeburtsvorbereitung. Zur Welt kommen müssten wir dann aber immer noch selbst: Und "wenn man von der Verbundenheit aus schaut, gibt es so etwas wie ungeteilte Zeit sowieso nicht." Und das beste dabei: "Ein Teil des Begehrens, das Neuanfänge stiftet, gilt der Bleibefreiheit mit sich selbst." Die kritische Stelle, an der vermutlich viele aufgeben und Eva von Redeckers Idee der Bleibefreiheit für Hokuspokus halten, resultiert aus der Frage, woran man merkt, ob das gelingt, ob also die Zeit erfüllt ist. Uns bleibt da nur die Chance, den angesprochenen Lernprozess voranzutreiben und uns zu sensibilisieren:

"Es ist eher das Empfinden nach einem Neuanfang, das Aufschluss darüber gibt, ob er geglückt ist. Dabei ist zweitrangig, ob sich der Neuanfang mutigem Entschluss verdankt oder günstiger Fügung, der man immerhin nicht in die Speichen griff. Danach, und das ist ausschlaggebend, kann eine Art Segelflug folgen, in dem die Existenz plötzlich eine Leichtigkeit hat, die sich anfühlt, wie ich mir aufsteigende Thermik unter Schwingen vorstelle [...] Erfüllte Zeit: vollauf mit dem beschäftigt sein, was sich bietet, aber auch nicht zu fürchten, etwas anderes zu verpassen."

Etwas verpasst zu haben - darin liegt die Angst und der Schmerz vieler Menschen; vermutlich auch der Menschen, denen von Redeckers Vorstellungen von Bleibefreiheit als pure Konfrontation (möglicherweise gar als Sarkasmus) erscheint. Meine persönliche Offenheit Eva von Redeckers Philosophie gegenüber rührt ursprünglich von den drei Jahren bei der IGST in Heidelberg her. Von 1999 an gab von Redeckers Empfehlung hohen Sinn und erwies sich als überaus praxistauglich:

"Einfach weiterleben. Selbst wenn der melodische Fluss versiegt, bleibt zumindest das Wissen um diesen Schlüssel."

Gunthard Weber hat 1997/98 unsere Rucksäcke mit genau diesen Schlüsseln versehen und befüllt, die bis zum heutigen Tag - 25 Jahre auch noch danach - ein unerschöpfliches Reservoir bilden mit Blick auf unser Miteinander, mit Blick auf unsere Verantwortung und mit Blick auf unsere Freiheit:

"Frei sein heißt zu wissen, dass man wieder zur Welt kommen kann. Nicht dass es immer gelingen wird. Aber es ist klar, dass man das kann: etwas anfangen mit dem Leben. Wenn das möglich ist, dann steckt auch im Bleiben Freiheit."

Bleibefreiheit II III - IV - V

   
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