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Eva von Redecker - Bleibefreiheit V

hier: II III - IV - V

Dysbiose – Ungezwungene Regeneration - Redundanz

Zum Einstieg in ihre Schlussargumentation bietet Eva von Redecker mit George Monbiot über einen der Medizin entlehnten Begriff zunächst einmal ein nachvollziehbares Analogie-Verständnis zwischen der Gefährdung des menschlichen Organismus und der ökologischen Empfindlichkeit des von uns bewohnten Planeten an:

„>Dysbiose< meint den Zusammenhang der Darmflora, wenn die eigentlich symbiotisch angelegten mikrobiologischen Vorgänge außer Balance geraten (Seite 132).“ Im übertragenen Sinn nimmt sie den Kollaps der Systemregeneration in den Blick, „weil sich Gezeiten entkoppeln oder gekappt werden“.

Eine evolutionsbezogen beobachtbare Anpassungsleistung – von Redecker spricht von der Neujustierung einzelner Gezeiten, um unter veränderten Bedingungen weiterhin regenerieren zu können. Dies zeichne dynamisierte Ökosysteme aus:

„Wenn der Anpassungsdruck allerdings >unnatürlich< groß wird, etwa durch Eintrag toxischer Stoffe oder durch Klimaverschiebungen, führt das dazu, dass Gezeiten auseinanderdriften (Seite 131).“

Dem Co-Vorsitzenden des Welt-Biodiversitätsrats, Josef Settele entlehnt sie zu einem besseren Verständnis folgende Metapher:

„Eine fehlende Niete wäre – entfernte man sie einem Flugzeug im vollen Flug – nicht weiter schlimm, aber irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem zu viele Nieten fehlen und das Flugzeug stürzt ab.“

Das trügerische an dieser Metapher sei aber, dass man ein Flugzeug nachbauen könne – ein Punkt, den man nicht genug betonen könne: „Ökosystemischer Kollaps ist irreversibel. Die verlorene Zeit ist wirklich verloren. Es ist keine Krise, aus der sich Erneuerung schöpfen kann, denn das Schöpferische – die kreisende, formende Zeit – ist zerbrochen (Seite 131).“

Auf das Jäten und Mulchen – dem Eva von Redecker zentrale Aufmerksamkeit widmet – komme ich weiter unten zurück. Sie gehören zu einer wohlverstandenen Reproduktionsarbeit. Und diese Vorstellung von Reproduktion und Regeneration möchte ich an der Stelle mit Eva von Redecker etwas näher beleuchten:

„Damit ist nicht nur die Fortpflanzung gemeint, sondern jeder Beitrag zur Lebenserhaltung, angefangen von der Kleinkindversorgung über jede Mahlzeit und Waschmaschine bis hin zur Psychotherapie und Demenzbetreuung. Im patriarchalen Kapitalismus ist ein Großteil dieser Arbeit von der gewinnträchtigen Warenproduktion abgespalten, in den privaten Raum verbannt und an Frauen delegiert.“

Wie präzise Eva von Redecker den Unterschied brandmarkt, den sie sieht zwischen lebendiger, nachhaltiger Regeneration und den kapitalistisch okkupierten und verdrehten Formen der Wiederherstellung von Arbeitskraft wird in folgender Auslassung deutlich:

„Selbst Schlaf wäre so gesehen Reproduktionsarbeit. Das merkt man dem Schlaf dann auch an: >ich schlafe nicht ich presse mit geschlossenen augen meinen kiefer aufeinander bis ein neuer tag beginnt<.“ So beschreibt Ilona Hartmann die Nachtruhe im Spätkapitalismus. Regeneration – bemerkt Eva von Redecker – gerät auf diese Weise niemals zu der Zeit, „in der etwas Lebendiges sich anstrengungslos wiederherstellt […] Wirklich regenerieren können wir uns nur in einer Fülle intakter Gezeiten. Wir brauchen Zeit. Denn aus der sind wir, wie der Rest der Welt, gemacht (Seite 137f.).“

Hier nun schlägt Eva von Redecker erneut die Brücke zur feministischen Theoriebemühung Luisa Muraros. Es scheinen genau diese elementaren, urwüchsigen Zusammenhänge zu sein, die aus dem Blickwinkel einer patriarchalisch geprägten Kultur so unfassbar quer liegen:

„Wir sind nicht in der Natur frei, sondern mit ihr. Wir müssen nur einen anderen Anfang finden. Der Ausgangspunkt ökologischer Freiheit ist nicht das souveräne Individuum, sondern die schöpferische Beziehung. Bei Muraro ist das Mutter-Tochter-Paar, eine Zweisamkeit, die sie selber in eine Kette von Vorfahrinnen und der Ersatzautoritäten auflöst (Seite 139).“

Eva von Redecker übt nicht nur überlebensnotwendige Kapitalismuskritik, sondern wendet sich auch ihrem Herzstück patriarchaler Kultur und Struktur zu: It’s a man’s world:

„Wenn Muraro die Wichtigkeit der inneren Haltung, den Übergang von der Verleugnung zur Dankbarkeit betont, dann zeigt sich darin ein besonderes menschliches Vermögen. Es ist ein Vermögen zur Wahl, aber eben auch zur Wahl des Ungewählten. Man sucht sich die Mutter nicht aus. Aber ob man sie in allen folgenden Ersetzungen anerkennt, schon. Dass wir uns den Planeten nicht ausgesucht haben, heißt ebenfalls nicht, dass Freiheit darin bestünde, ihm zu entfliehen. Sie besteht vielmehr darin, nährende Verhältnisse auf ihm zu finden […] Es stimmt, dass wir diese spezielle Fähigkeit haben, auf nicht vorab fixierte Weise in die uns umgebenden Gezeiten einzugreifen. Um deren Maß zu finden, sind behutsam beobachtende Interaktionen und traditionelle Wissensbestände unverzichtbar. Robin Wall kommt immer wieder auf die Prinzipien der >ehrbaren Ernte< zurück – die Gaben würdigen, nie mehr als die Hälfte nehmen, Dankbarkeit kultivieren. Die Prinzipien basieren auf einer Idee der reziproken Verpflichtung: Sie verlangen, dass man dem Land auch etwas zurückgibt, und münden in ein großes Versprechen: >Erhalte die, die dich erhalten, und die Erde wird für immer bleiben.< Es ist aber nicht nur die ökologische Integrität des Gezeiten, die durch so eine Haltung gesichert wird. Die Kultur der Dankbarkeit hat noch einen anderen Effekt, sie >sät Fülle<, also das Vertrauen, keinen Mangel zu leiden (Seite 141).“

Eine persönliche Auslassung, gedeckt durch Eva von Redeckers Argumentations- und Denkansatz:

Meine Mutter hat meine Schwester, meinen Bruder und mich geboren. Meine Töchter, mein Neffe, meine Nichten, meine Großnichte und meine Enkelkinder - alle ihre Urenkelkinder - stehen in dieser Linie. Mein Denken und Bitten konzentriert sich seit Jahren auf den Wunsch, dass all jene, die in dieser Linie stehen (zu der freilich auch meine Großmutter und Urgroßmutter gehören – und an dieser Stelle wird niemand Mühe haben sich selbst einzureihen in die für ihn nachvollziehbaren und so unhintergehbaren Linien) – dass also all diejenigen, die uns nachfolgen ihre Gegenwart und Zukunft auf einem Planeten finden mögen, der jenen Kipppunkt, jenen point of never return, verfehlt, der uns so drohend vor Augen steht. Greifen wir dazu Gedanken auf, die Eva von Redecker in ihrem Schlusskapitel zusammenfasst:

„Wir müssen nichts allein schaffen. Im Gegenteil, unsere Handlungsfähigkeit beruht gerade auf der Verbundenheit mit anderen schöpferischen Zyklen, von der Bodenbiologie über die Geburtshilfe bis zur gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Ich weiß, dass die Engführung der Ökologie mit Muraros Geburtsmetaphorik zu Missverständnissen einlädt. >Mutter Natur<: Nein, die Natur ist ein Ensemble unzähliger Gezeiten, kein Individuum, schon gar keins, das hinter uns herräumt. Und dazu ist sei indifferenter uns gegenüber als die meisten Mütter. Sie hat uns nicht gewollt. >Sie< sowieso nicht, jedenfalls nicht im Singular. >Sie<, die Gezeiten, haben uns nicht gewollt. Es hat sich eben nur so ergeben, in dreihunderttausend Jahren Evolution, dass wir ziemlich gut zusammenpassen, besser jedenfalls als zum Mars. >Natur der Mutter<: Nein, Mutterschaft, inklusive Schwangerschaft, ist zu großen Teilen Arbeit, nicht Regeneration. Aber dass sie eine so dermaßen überfordernde Arbeit ist – immer schon mit einem Bein im Gezeitenkollaps – liegt an ihrer patriarchalen Zurichtung, nicht an ihrem Inhalt (Seite 141f.).“

Und ein Letztes: Und ich setze dies hier bewusst in einer Haltung der Demut und Dankbarkeit an den Schluss – nicht zuletzt, um der unerträglichen toxischen Hybris männlicher Weltzerstörungsmanie mit Eva von Redecker eine andere symbolische Ordnung entgegenzuhalten, einer Ordnung, von der ich schon immer eine Ahnung habe:

„Ein schwer zu fassender Punkt an Muraros Plädoyer für die symbolische Ordnung der Mutter besteht darin, dass sie glaubt, dass wir nur durch sie zu einer realistischen Weltwahrnehmung kommen. Der Cartesianische Zweifel, ob die Außenwelt doch nur eine Simulation sei, ebenso wie die Phantasie von Tech-Billionären, selbst als Simulation weiterleben zu können, würde Muraro als Abwesenheit einer solchen Weltwahrnehmung (in der mehr Leben wirklich mehr Freiheit bedeuten könnte) einstufen. Demgegenüber beschreibt sie es als große Erleichterung, dank der Übereinstimmung von Realität und Repräsentation in der Figur der Mutter >mit dem Fingieren aufhören zu können< und zu einer >wahren Welt< zu gelangen, in der allein das Neue geschehen kann. Eine andere Beschreibung, die sie für diese Erfahrung gibt, lautet >Vor-Anker-Gehen am Sein< […] Es wäre allein schon ein riesiger Gewinn, Klarheit über unser Tun zu gewinnen, es wirklich ganz und gar auf diesem Planeten zu verankern, indem wir anfangen, unsere Vorhaben und Wiedergeburtspläne mit der Welt zu verhandeln […] Kein dumpfer Weltschmerz, sondern aufgeklärte Wirklichkeit. Dem punktuellen Horror angesichts unwiederbringlicher Verluste in der Biodiversität steht zudem die nicht zu unterschätzende Erleichterung gegenüber, dass wir endlich aufhören können, so zu tun, als sei das alles normal: das Schlachten, das Auf-Wachstum-Pochen und das blindwütig Kollabieren-Lassen. Wer will das überhaupt wirklich? Wem gewährt das Freiheit und für wie lange, und was für eine klägliche Freiheit ist das? Sicherlich keine, die es wert ist, dass wir uns weiter eine viel umfassendere Freiheit entgehen lassen, weil wir uns einbilden, allein zu sein. Verzeitlichte Freiheit ist also Zeitfülle und erfüllte Zeit und Zeit der Fülle. Eine Fülle an erfüllter Zeit, eine Fülle an Gezeiten. Wenn das redundant klingt, dann ist das gut so, denn darum geht es ja gerade: dass keine Knappheit herrscht, sondern dass die Zeit überfließt. Dieser Überfluss ist der Stoff unserer Freiheit. Er entbindet uns nicht von der Aufgabe, einander in allen Gezeiten zu befreien. Im Gegenteil: Er entbindet uns zu ihr. So dass wir bleiben können und auch das nicht allein (Seite 144).“

Apropos Jäten und Mulchen: von Redecker wendet sich auch gegen die Zerfräsung der kunstsvollen Bodenstruktur: "Gänge, die sonst mehrere Generationen von Regenwürmern über Jahrzehnte bewohnen können, stürzen ein; die Mikroben, die zu Rhizosphären versammelt sind, werden durcheinandergewirbelt; organische Masse ist plötzlich nicht mehr obenauf, wo die zersetzenden Organismen sie erwarten; die Schichtung des Bodens, der eine komplexe Arbeitsteilung entspricht, gerät in Unordnung (133)." Unkrautverringerung - merkt sie an - müsste auf anderen Wegen gesichert werden, die gewiss ihre Mühen und Probleme haben: "Jäten kostet sehr viel menschliche Zeit, Mulchen sehr viel heranzuschaffende organische Masse [...] Es braucht weitere Experimente: Permakultur, Agroforst, mehrjährige Kulturen [...] Es geht um kleine, unscheinbare und doch omnipräsente Prozesse der Dysbiose, denen wir entgegenarbeiten müssen, um den Gezeitenkollaps zu verhindern, der diejenigen, die ihn am stärksten verursachen, erst trifft, wenn es für alle zu spät ist (134f.)."

Ich hatte heute eine erfüllte Zeit mit der Lektüre Eva von Redeckers, meiner Auseinandersetzung mit ihren Thesen und Anregungen - und mit den alltäglichen Bemühungen der Bodenverbesserung meines Nutzgartens im großen Garten (vor allem durch Mulchen und Jäten). Dabei kümmert mich, der ich dies bereits seit Jahren still vor mich hin - mehr dilletantisch als professionell - entwickle, dass ich mich damit eher allein fühle. Wir alle müssen schleunigst lernen, "dass wir nichts allein machen müssen".

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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