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Die Rente – Traum oder Albtraum

In der ZEIT (11/23) machen sich Jens Jessen (Jg. 1955) und Mark Schieritz (JG. 1974) Gedanken über die Zeit nach der Verrentung. Der jüngere von beiden meint: „Man kann auch mit 70 noch Motoren bauen“, während Jens Jessen meint: „Erfüllung heißt: Tun, wozu man begabt ist. Gerade im Alter“. Der eine – der jüngere – antizipiert, dass das Renteneintrittsalter aufgrund der demografischen Entwicklung weiter ansteigen wird. Der andere – der ältere – sinniert in seinem siebenundsechzigsten Lebensjahr darüber, wie man mit dem Eintritt in den letzten Lebensabschnitt sinnvoll umgeht. Da mir seit nunmehr fast sechs Jahren – als Ruheständler – Jens Jessens Perspektive nähersteht, konzentriere ich mich einmal auf seine Überlegungen:

„Auf dem Alter ruhen große Hoffnungen, jedenfalls in den Mittelschichten der Gesellschaft. Alter bedeutet nicht mehr erschöpftes Ausruhen nach einem Arbeitsleben, das alle Kräfte aufgezehrt hat, es bedeutet – im Gegenteil -  die Aussicht auf eine Art festlicher Dauerferien, angefüllt mit süßem Nichtstun oder abenteuerlichen Hobbys. Ein wunderbarerweise vom Staat durchfinanziertes Sabbatical, in dem man alles machen kann, was man immer schon wollte. Selbst ein Studium ist für Pensionäre drin, einschließlich der Illusion, ein ganzes zweites Leben von vorne starten zu können.“

Das Privileg einer Mittelschichtsperspektive eingedenk, konzentriere ich mich auf die mir und vielen meiner Studienfreunde gegebene Ausgangslage. Mit Friedemann Schulz von Thuns Anregungen erscheinen die Maßstäbe für ein Erfülltes Leben (Carl Hanser Verlag, München 2021) sattsam durchdekliniert. Spätestens mit seinen Überlegungen dürfte aber auch klar sein, dass die Möglichkeiten, Fähigkeiten und Bedingungen für ein erfülltes Leben auf so unmittelbare Weise zusammenhängen mit der konkreten Lebenspraxis vor dem Eintritt in den Ruhestand, dass es in der Tat einer verhängnisvollen Illusion gleichkommt, mit dieser Zäsur „ein ganzes zweites Leben von vorne starten zu können“. Dies hängt auch zusammen mit einer nüchternen Situationsanalyse, die sich mit Jens Jessen folgendermaßen liest.

„Heute garantieren Renten zwar nicht mehr, wie noch vor dreißig Jahren, finanzielle Unbeschwertheit, mehr als ein Viertel der Ruheständler haben ein monatliches Nettoeinkommen von unter tausend Euro. Das ist kein Spaß. Aber für die oberen drei Viertel eröffnen die Altersbezüge – mit ein paar Ersparnissen und vielleicht der ein oder anderen Immobilie – eine lange Freizeitphase des Lebens.“

Gleichwohl geht Jens Jessen davon aus, dass das Alter, das nicht mehr mit Krankheit und Armut assoziiert werde, häufig zu einer Projektionsfläche unerfüllter Wünsche gerate. Je unbefriedigender das Berufsleben – so seine These – desto größer die Neigung, alles auf die Zeit des Ruhestandes zu projizieren, was man sich versagt habe oder versagen zu müssen glaubte:

„Jetzt muss das Buch geschrieben (na klar, FJWR), der Fremdsprache gelernt, das lange vernachlässigte Hobby wiedererobert, mitunter auch die Ehe verlassen werden, die man sich plötzlich als Gefängnis denkt. Der auf Freiersfüßen animiert wandelnde Pensionär ist geradezu der Inbegriff jenes Wahns, der sich ausgerechnet das Greisenalter als Moment des Neuanfangs imaginiert.“

Gewiss ist es ein Wagnis, sich den Überlegungen Friedmann Schulz von Thuns auszusetzen und sich nicht naiv den neuen Lebensabschnitt des Ruhestandes gewissermaßen als tabula rasa vorzustellen. Von Thun stellt in den Raum, dass man ja auch bis dahin als lebendiges menschliches Gegenüber, als Partner in einer komplexen sozialen Welt des Berufs, der privaten und öffentlichen Sphären der Gesellschaft agiert habe: „Und meine Annahmen und Überzeugungen davon, worum es im Leben geht und was letztlich zählt, sind unweigerlich mit im Spiel, auf und zwischen den Zeilen.“ Und je mehr dieses existenzielle Credo durchdacht, durchfühlt und durchlebt sei, umso mehr Seelentiefe könne erreicht werden. Insofern spricht einiges für folgenden Hinweis Jessens:

„Denn das Alter ist nicht nur ein Phänomen des Körpers, sondern auch der Seele, und diese kann von der Last des gelebten Lebens, den Erinnerungen, Erfahrungen, Niederlagen, Anspannungen, beschwerter sein, als das Körpergefühl es vorgaukelt. Der Körper ist oft fitter als der Geist, das ist eine Wahrheit, die nach Kräften beschwiegen wird (auch wenn die Angst vor Alzheimer und Demenz umgeht).“

Jens Jessen findet eindrucksvolle Bilder für drohende Vereinsamung und das Gefühl der vollkommenen Bedeutungslosigkeit anheimzufallen:

„Jene Rentner, die sich vom Ruhestand vor allem Ruhe erhofften, werden am bittersten enttäuscht. Die Ruhe erweist sich als dröhnende Stille […] Ihnen, die gewohnt waren, die E-Gitarre am Verstärker zu spielen, ist plötzlich, als sei der Stecker gezogen. Sie müssen ihr Leben auf einmal unplugged leben, ohne Publikum und Applaus. Sogar Buhrufe sind willkommen.“ Schon taucht das Damoklesschwert der Altersdepression auf. Jessen meint, sie sei keine neue oder modisch erfundene Krankheit und müsse nicht der Einsamkeit entspringen. Sie könne inmitten von Familie, Geselligkeit, Reisen ausbrechen: „allein aus Mangel an Dringlichkeit. Alles, was im Ruhestand gemacht wird, könnte ebenso gut unterlassen werden. Das ist das kleine schmutzige Geheimnis der Altersfreizeit. Die Rente kommt so oder so – das ist gut für den Schlaf, aber schlecht fürs Aufstehen.“ Jens Jessen wird wenig später die Schlüsselfrage stellen: „Welchen Sinn haben überhaupt Dinge, die man bloß für sich selber tut?“

Kleine Randbemerkung: Friedemann Schulz von Thun schreibt in der Einführung: „Ein >erfülltes Leben< wird sich aber als eines erweisen, das nicht nur das Ego und den lustvollen Genuss auf Erden zu steigern trachtet, sondern seine Würde und seine Erfülltheit auch dadurch gewinnt, dass es Aufgaben wahrnimmt, die dem Wohl des Ganzen dienen, von dem wir ein Teil sind.“

    • Wie viele Ruheständler habe ich – gemeinsam mit Studienkollegen – einen jour fix begründet, an dem sich der club de pensionistas (danke Walter für die originelle Namensgebung) wöchentlich trifft; ein offener Debattierclub, der Raum gibt gleichermaßen für Privates wie die großen und kleinen Fragen der Politik und des gesellschaftlichen Geschehens.
    • Ob man Dinge „bloß für sich selbst tut“ ist und bleibt immer eine Frage der Perspektive. Grundfähigkeiten der Empathie, der Anteilnahme – eines generellen Verantwortungsbewusstseins – helfen grundsätzlich dabei, erstens zu unterscheiden, was „nur für mich ist“ bzw. was in den sozialen Raum ausstrahlt und zweitens, welchen Aktivitäten ich Vorrang einräume: Mit dem Ausstieg aus dem beruflichen Feld wurden bei mir – trotz Sanierung des Elternhauses – so viele Valenzen frei, dass es mir ein Anliegen und ein Vergnügen war, eine Zeitung zu begründen für die Senioreneinrichtung, in der meine Schwiegermutter lebte. Eine Reihe von höchst anregenden Veranstaltungen im Rahmen der kulturellen Verankerung von Senioreneinrichtungen im kommunalen Raum war eine der beglückenden Folgen.
    • Mit Hartmut Rosa habe ich zuletzt noch einmal die Familie als sozialen Resonanzraum vermessen. Die Familie ist und bleibt der zentrale Resonanzhafen mit unendlich vielen Echo-Facetten. Die Elternrolle nach wie vor aktiv zu gestalten wird im besten Fall erweitert durch die unendlich vielgestaltige und bereichernde Rolle, die Großeltern zuwächst. Das Netzwerk einer vielgliedrigen und herausfordernden Verwandtschaft bleibt – wie gesagt im besten Fall – der differenzierteste Resonanzraum, über den wir verfügen; allenfalls getoppt von einer gleichermaßen intakten Wahlverwandtschaft.

Im Übrigen stellt auch Jens Jessen – in durchaus ironischer Manier – in den Raum, dass im Alter die Stunde des Ehrenamtes schlage:

„Wer Herausforderung und Belastung sucht, ist hier an der richtigen Stelle. Das Ehrenamt bringt alle schmerzlich vermissten Querelen des früheren Berufslebens zurück, den Kampf der Eitelkeiten, des Ehrgeizes, der Besserwisserei. Ehrenämter können sogar echtes Burn-out hervorbringen und an den Rand der Erschöpfung führen.“ Gleichwohl: „Gemeinnütziges Engagement erlöst von dem Alterserlebnis der Überflüssigkeit.“

Zentral und für die Übernahme ins Langzeitgedächtnis (:-)) gedacht bleibt Jessens essentielle Erkenntnis: „Nicht fromme Einkehr erlöst, sondern die Tat. Nicht die Sorge um das Selbst, sondern die Verantwortung für andere.“

Bringt man diese Grundhaltung in Passung mit der anderen zentralen Message Jessens, dann könnte tatsächlich eine Kultur des Ruhestandes, des Alterns und des Alters entstehen, die uns Alte mit mehr Zuversicht in die Zukunft blicken lässt: „Erfüllung besteht darin, das zu tun, wozu man begabt ist – auch im Alter.“ Aber auch hier – dies entspricht Jessens Gesamtresümee – folgt die Bemerkung: „Und hoffentlich nicht erst im Alter.“ Der Renteneintritt werde eben deshalb oft als so dramatisch empfunden, weil er wie ein letzter Weckruf daherkomme.

Der Schnittpunkt zwischen Jens Jessen und dem zwanzig Jahre jüngeren Mark Schieritz erfolgt aus der abschließenden Mahnung Jessens, mit der in den Raum gestellt wird:

„Das gesetzlich festgeschriebene Renteneintrittsalter ist nicht nur ein gewaltige volkswirtschaftliche Verschwendung, sondern für gesunde und leistungswillige Menschen auch eine sinnlose Hürde auf ihrem Lebensweg. Natürlich kann man an dieser Schwierigkeit (ein letztes Mal) wachsen – aber der Gesetzgeber könnte auch ein Einsehen haben.“

Aber auch ohne dieses Einsehen haben wir genügend Gestaltungsmöglichkeiten in der Hand und sind keineswegs auf ein Einsehen (:-)) des Gesetzgebers angewiesen.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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