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Leben lernen - mit Peter Härtling (auch für Rudi, dem ich die Nachgetragene Liebe verdanke)

Der letzte Vermerk in Peter Härtlings (1933-2017) Leben lernen – Erinnerungen auf Seite 263 (2003 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen – hier dtv, 2. Aufl. 2007) lautet:

„Es ist der 5. März 2003. Die Welt wartet auf einen Krieg. Das ist ein pathetischer Satz. Nur lässt die Zeit keinen anderen zu. Fürs Wochenende haben sich die Kinder mit ihren Kindern angesagt. Mechthild und ich werden ungeduldig warten, aufspringen, zur Tür laufen, wenn im Garten Stimmen laut werden.“

Du schreibst mir aus dem Herzen – Peter Härtling –, nur dass ich ungemein privilegierter bin - zum einen: Die Kinder und die Kinder der Kinder sind da – fast jeden Tag gegenwärtig. Auch mein alt gewordenes Ich sammelt ein (Du warst bei Deinem Eintrag noch keine siebzig – die wirst Du erst am 13. November 2003 werden). Du schreibst: „An manchen Tagen nimmt die Müdigkeit mich gefangen. Anfangs habe ich mich ihr widersetzt, nun nicht mehr. Es treten auch Schmerzen auf, die ich vorher nicht kannte. Sie gehören dem Ich, das ich noch werde.“ Und zum anderen: Wärest Du als eines Deiner Ichs noch unterwegs gewesen am 24. Februar 2022 und darüber hinaus, du hättest Dich gewundert und wärest entsetzt gewesen angesichts der brutalen und gleichermaßen völkerrechtswidrigen Aggression Putin-Rußlands gegenüber der Ukraine.

Gehen wir zurück an den Anfang von Leben lernen. Die Bücher über Alter und Altern fliegen mir schon lange zu – auch die Feuilletons (Sybil Gräfin Schönfeldt: Die Jahre, die uns bleiben – Gedanken einer Alten über das Alter greife ich just in der Adventszeit – wenige Tage, bevor sie 95jährig am 14. Dezember 2022 verstirbt. Auch sie eben erst 72 Jahre alt, als sie als Alte über das Alter schreibt – zu  ihr an anderer Stelle).

Auf Seite 14 schreibst Du – Peter Härtling –, was Du „inzwischen herausbekommen hast“ übers Altern (ich werde es an der ein oder anderen Stelle kommentieren und mit eigenen Erfahrungen anreichern):

„Altern ist anders, doch gewiss nicht besser. Meine Schritte werden kürzer. Werde ich von Jüngeren begleitet, gebe ich mir Mühe, auszuschreiten wie sie, und komme mir zugleich lächerlich vor.“

Mir ging es immer ein wenig anders – zumindest solange ich mit Rudi K. wanderte. Der hatte die Siebzig schon im Gepäck, schritt aber in einer Weise aus, dass ich – der Längere von uns beiden – kaum hinterher kam; selbst auf Wegen, die steil (so wie das Mühlental in Kattenes) von der Moselsohle auf die Höhe führen.

Du schreibst: „Jede banale Erkältung überwältigt mich, macht mich müde und raubt mir den Mut.“

Ein so erschreckend treffender Satz mit Blick auf die mich (und viele in meinem Umfeld) erreichende „Parainfluenza mit viraler Überlast und bakteriell getriggerten Spätfolgen“ – so die ärztliche Diagnose in leicht camouflierter Aussage. Zum ersten Mal in einem von Gesundheit begleiteten Leben war ich auf ein Notfall-Spray angewiesen, um der Hustenattacken Herr zu werden. Und die von Dir beschriebene Mutlosigkeit begleitete mich im November vergangenen Jahres auf dem Höhepunkt des Krankheitsverlaufes in den Niederungen einer erschreckenden, so nicht gekannten Müdigkeit.

Du schreibst: „Es gibt Stunden, in denen das Herz schwer und schmerzhaft in meiner Brust hängt. Die Zahl der Tabletten nimmt zu.“

Schwermut kenne ich nur in der verkleinerten Form melancholischer Verstimmungen, und immer war ich beglückt, ein nahezu drogen- und medikamentenfreies Leben führen zu können. Nun finde ich mich wieder - Aspirin-protect-geschützt, schon seit Jahren mit Statinen die Blutfette im Blick – und nun droht der erste Blutdrucksenker. Aber hier zu klagen, wäre wohl vollkommen daneben.

Du schreibst: „Ich schlafe länger und der Schlaf wird mir zu einer Höhle, an deren Wänden die Träume sich unsinnig und bös niederschlagen. Mir bleibt ein Trost, dass irgendwann die Höhle sich schließen wird und in der absoluten Finsternis die Bilder ihre Kraft verlieren.“

Du hast ein ungleich schwereres Leben gehabt (als ich). Wer darüber etwas wissen will, schlage nur die Seite 77 in Leben lernen auf und lese Meine Mutter (einer von so vielen bedrängenden düsteren Mosaiksteinen - siehe unten im Anhang). Da lebt in mir eher das glückliche Kind auf, dem selbst die schweren Tage (bis auf den einen im Juni 1994) - im Rückblick auf ein langes Leben - als bunte Bilderfolge an den Wänden meiner Schlafhöhle begegnen. Und ich mag gar nicht hoffen, dass sie ihre Kraft in der absoluten Finsternis einer sich schließenden Höhle verlieren werden.

Du schreibst: „Ich wende mich um und schaue zurück auf eine Gegend, in der die Zeiten Licht und Schatten einkerben, einmal voller Bewegung und einmal eisig leer. Ich rufe die Toten, erzähle Bruchstücke ihres Lebens und verletzte ihre Ruhe.“

Das wiederum kommt mir sehr vertraut vor. Ich habe mich getraut – wie dilettantisch auch immer – die Toten zu rufen und ihre Ruhe zu stören. Aber auch den Lebenden begegne ich – zuletzt immer milder und sende Licht in abgedunkelte Zonen.

Du schreibst: „Ich sage Ich, und das Ich entfaltet ein Echo, aus dem ein Ich nach dem anderen springt und wieder verstummt, verschwindet. Alle meine Ichs. Mit ihnen erkunde ich meine Unrast, meine Verwandlungen, meine Verluste und Bereicherungen, Krieg und Frieden, Ohnmacht und Friedlosigkeit. Am Ende, das mein Anfang war, wartet das Kind, das alter Mann spielt. Ich habe es eingeholt. Es spielt jetzt mich. Ich brauche seine Unschuld, die noch nicht erinnern will, denn ich alter Mann misstraue jedem Wort. Jeder Satz, den ich schreibe, sucht nach einem anderen, haltbareren. Meine Zweifel setzen den Wörtern zu.“

Lieber Peter Härtling, am 10. Juli 2017 bist Du endgültig in die absolute Finsternis Deiner Schlafhöhle abgetaucht. Auf die Frage, wie viele Sekunden (ich denke an die Sekundenuhr Jean-Remy von Matts) mir noch bleiben, darauf bleibt die Antwort offen. Aber ich arbeite jeden Tag daran, mein Misstrauen in die Wörter zu verringern. Ich suche nach Sätzen, die sich als haltbar erweisen – die aber dem Zweifel Raum geben; Sprachseismographe spüren den Verwandlungen, den Verlusten, den Bereicherungen nach. ich Ich fühle mich Dir verbunden als Wortakrobat, der vielleicht am wenigsten Zweifel hatte im verdichteten Fluidum seiner Gedichte (Meine Mutter - siehe Anhang). Alter Mann bin ich, werde ich im Angesicht meiner Kinder und Enkel – hoffentlich nicht zu rasant und mit Haltung und Anstand.

Anhang 

Peter Härtling - Meine Mutter

Drei Tage lang
starb meine Mutter.
Sie liebte unerlaubt
einen Tagedieb,
einen Wegelagerer,
einen Namenlosen,
behaupteten die Frauen,
die über ihre Treue wachten.

Keinen Brief schrieb sie,
keinen Zettel:
Komm und hol mich.
Sie lief ihm einfach
zu.
Sie lief uns einfach
weg.

Die Wohnungen waren
aus den Häusern gebrochen
und die Wege vermint.
Auf den Dächern wuchsen
Birken.
An den Horizonten schwelte
Feuer.
Und die lang gedachte 
Zeit
schmolz zu einem Tag.

Ungeduldig
brach sie auf.
Wer wollte, ungeliebt,
noch einen Namen haben?
Schön war sie
auf dem Weg zum Tier,
auf der Flucht vor 
dem eingeschränkten Leben.

Ich sah sie
vor der Stadt, dort,
wo die Soldaten ihre Pflicht vergaßen,
sah sie
in seinen Armen,
sich das Glück ausreißend
wie ein Geschwür,
ohne Gedächtnis
und leicht.

Zurückgerufen
nahm sie Gift
und starb
drei Tage lang.

 

FJWRDon’t ask – don’t tell

Die Welt kommt zu uns,
macht sich in uns breit,
sinkt ab in Fühlen und in Habitus.

Die Quellen gründen tief,
aus denen Lebenswasser rinnt,
geklärt durch Denk- und Fühlverbote.

(Nur wenn ein Damm bricht vor der Zeit,
macht sich zuweilen Flut und Feuer breit,
zerbricht das dünne Eis der Contenance.)

Danach - und manchmal auch zuvor
hilft uns dann Therapie
im Suchen und im Finden einer Sprache.

Und Sprache findet (manchmal) zaghaft ihren Weg
viel seltener die passende Adresse -
Für’s Zuhören wird ja nun gezahlt!

Wenn’s  jenem Urgrund mangelt an Vertrauen,
wenn Schmerz und Kränkung Fundamente bauen,
versagt man sich das Fragen -

und das Erzählen wohl erst recht!
Kommt, reden wir zusammen (schrieb Gottfried Benn*) -
wer redet, ist nicht tot!

Und wusste wohl: es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not – und warnt:
Kommt öffnet doch die Lippen,

so nah schon an den Klippen
in eurem schwachen Boot.
Nur wer redet, ist nicht tot!

*Gottfried Benn, Gesammelte Werke - Gedichte (Limes Verlag), Wiesbaden 1963, S. 320

   
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