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(M)Ein Adventskalender (21) heute öffnen wir das einundzwanzigste Türchen/Fensterchen

In den hier schon häufiger bemühten philosophischen Essays Odo Marquards findet sich eine kleine Festrede, die sich im Sinne einer kleinen Philosophie des Festes für die überlebensnotwendige Bedeutung des Moratoriums im Alltag ausspricht. Wie meist, überzeugt Odo Marquard auch bei dieser Gelegenheit durch eine klare, transparente Gestaltung seiner Gedanken, die er in vier Etappen durcheilt. In der ersten Etappe erscheint das Fest schlicht als Moratorium des Alltags: Dem ein oder anderen Leser meines Blogs wird nicht entgangen sein, dass ich alljährlich meine Sehnsucht nach dem Fest der Feste in meine Weihnachtsbotschaft kleide: Wenn ich noch einmal Kind sein dürfte!Ein Versuch, gleichzeitig zu sich selbst zu finden und sich Distanz zum eigenen Leben zu erlauben, ein Ritual, das ich seit Jahren pflege.

Aber dieses Ritual bleibt dem 24. Dezember vorbehalten. Was als Kind noch selbstverständlich war, stellt sich mit zunehmendem Alter wieder ein. Was man unter einem Moratorium versteht, war mir als Kind natürlich unverständlich - aber es entsprach sowohl meinem Empfinden als auch meiner Praxis - die Gestaltung und der weihevolle Respekt vor der Weihnachtszeit, die mit dem 24. Dezember ihren Höhepunkt erfuhr. Odo Marquards Analysen kommen zwar staubtrocken daher, bestätigen aber meine frühe Intuition zutiefst:

1. Moratorium des Alltags: das Fest

Vermutlich ist es die Schlichtheit der Gedanken, die uns auf überraschende Weise hilft, etwas zu verstehen, was im ganz normalen Alltag unterzugehen droht: "Feste zu feiern ist menschlich; und ich glaube, es ist nur menschlich. Weder Sterne, Meere, Steine, Feuersbrünste noch Pflanzen noch Tiere feiern Feste." Odo Marquard schreibt aus der bekennenden Haltung eines Festmuffels, räumt aber ein, dass selbst diese feierschwachen Menschen gar nicht umhin könnten, die stets nötigen und unentwegt wiederkehrenden menschlichen Feste mitzufeiern. Und so wird uns en passent klar, was wir verlieren bzw. riskieren, wenn wir uns der Feier verweigern!

"Willkommen zu sagen zu Menschen, wenn sie geboren sind; Abschied zu nehmen von Menschen, wenn sie gestorben sind; gute Wünsche zu sagen an Menschen, wenn sie - durch Heirat oder berufliche oder politische Entscheidungen - Wichtiges vorhaben; Dank zu sagen für das, was gut und zugleich nicht selbstverständlich war; und schließlich dabei überall Gott die Ehre zu geben oder - hilfsweise - seinen Surrogaten, auf die Menschen offenbar nicht verzichten können, sobald sie auf Gott verzichten wollen."

In dieser kompakten, Anlässe summierenden Haltung - meint Odo Marquard - sei die Einsicht unvermeidlich, dass die Menschen feiernde, also festliche Lebewesen seien. So versteht er das Fest - wohlgemerkt als bekennender Festmuffel - als ein "Anthropinon" - etwas ausschließlich Menschliches.

Die philosophische Dimension dieser schlichten Ausgangslage erkennt Marquard in dem Alleinstellungsmerkmal, dass der Mensch sein Leben - im Gegensatz zu anderen Lebewesen - nicht nur lebe, sondern dass er sich auch noch zu ihm verhalte. Dies wiederum könne er nur, weil er auf Distanz zu seinem Leben gehe: "Sein Leben leben: das ist beim Menschen sein Alltag. Auf Distanz gehen zu seinem Leben: das ist beim Menschen das Fest."

Den anschließenden Gedankengang - oder besser der anschließende Argumentationsgang könnte man (auch) verstehen als eine Kritik an fragwürdigen Entwicklungsverläufen der bürgerlichen Gesellschaft bezogen auf ihre Feierwut als Entwertung des ursprünglichen Sinnes von Festen. Odo Marquard stellt zunächst fest, dass man das Fest bislang fast immer nur - und er sagt: notabene: mit völligem Recht - gegen den Alltag verteidigt habe. Er hingegen legt Wert darauf, dass man den Alltag auch gegen das Fest verteidigen müsse:

"Denn das Fest - meine ich - hört dann auf, Fest zu sein, wenn es - statt neben den Alltag zu treten - an die Stelle des Alltags tritt und dadurch den Alltag auslöscht." Es gebe für das Fest eben auch die andere Gefahr, dass es nämlich zum Fest ohne Alltag werde. Alltag und Fest: beide liefen dann Gefahr, in dem unterzugehen, was Odo Marquard das "totale Fest" nennt - verbunden mit dem totalen Moratorium des Alltags.

2. Moratorium des Alltags: der Krieg

"Ein derart totales Fest - das totale Moratorium des Alltags - ist der Krieg." Die Frage, wie es eigentlich komme, dass die Menschen des 20. Jahrhunderts zu zwei Weltkriegen psychisch bereit waren, werde ich mit Odo Marquard zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgreifen. An dieser Stelle verfolge ich zunächst sein "Plädoyer für eine Kultur der Feste" - immerhin das Plädoyer eines Festmuffels.

3. Plädoyer für eine Kultur der Feste

Resümmierend hält Odo Marquard fest, dass seine kleine Philosophie des Festes vor allem zu einer Kritik des "totalen Festes" geraten sei: "Wenn das Fest zur ganzen Wirklichkeit und die ganze Wirklichkeit zum Fest werden soll - zum einen einzigen Alleinfest: zu jenem absoluten Moratorium des Alltags, das weder den Alltag noch andere Feste neben sich duldet und nur noch Ausnahmezustand ist -, geht es nicht gut. Es kann daraus nichts menschlich Aushaltbares werden, denn wer - und das wäre ja die Intention dieses absoluten Festes - die Erde zum Himmel machen will, macht sie zuverlässig zur Hölle."

So gelangt Odo Marquard zu Einsichten, die uns 30 Jahre nach ihrer Formulierung in ihrer Trivialität das Wesentliche enthüllen: Denn wem es gelinge, sich mit seinem Alltag zu versöhnen, und wer sich durch den Sonntag - durch die Vielheit und Buntheit der Feste - mit seinem Alltag versöhne, der brauche nicht jenes "Moratorium des Alltags", das den großen Ausstieg in den Ausnahmezustand bedeute: vom "alternativen Leben" bis zum Krieg: "Das mag auch von den halb- oder nichtreligiösen Festen gelten. Darum sollte man gerade auch die zweitbesten Feste nicht tadeln: von der Kunst - wenn sie nicht gerade das Leben ersetzen will - über die Naturzuwendung - wenn sie nicht gerade das Leben ersetzen will - über den Sport - wenn er nicht gerade das Leben ersetzen will - bis zu jener halbfestlichen Form, des Alltagsmoratoriums auf genau befristete Zeit, die in der modernen Wohlstandswelt entstanden ist: dem Urlaub." Der Festmuffel Odo Marquard wird geradezu zu einem leidenschaftlichen Verfechter des Festgedankens, wenn er ihn zuletzt einbettet in den Horizont der antiken Philosophie:

"Dabei sind - meine ich - die menschlichen Feste so weitherzig zu pflegen, dass bei ihnen (wie es die antiken Philosophien empfehlen) alle drei menschlichen Lebensformen, die die antike Ethik unterschied - das genießende Leben, das praktische Leben, das beschauliche Leben - auf ihre Kosten kommen können." Die Conclusio öffnet den Raum für menschliche Eigenart und Eigensinn auf bemerkenswerte Weise: "Die genießenden Menschen amüsieren sich beim Fest; die praktischen machen - beim festumgebenden Rummel - ihre Geschäfte; die frommen und beschaulichen Menschen aber begehen das Fest, wie es - die anderen Formen des Feierns mit ermöglichend - zentral gemeint ist: beschaulich, bittend und dankend, betend. Auf diese Weise - in all seinen Formen, vor allem aber nicht als Ersetzung, sonder als Ergänzung des Alltags - brauchen die Menschen das Fest. Denn der Mensch ist das exzentrische Lebewesen, das ohne das Fest nicht auskommen kann. Entweder feiert der Mensch Feste, oder er sucht sich schlimme Ersatzformen des Festes - bis hin zum Krieg." Letzteres nicht nur in der Ukraine, nicht nur in Syrien, sondern überall, wo Menschen das/die Andere(n) und das Fremde nicht gelten lassen können

Da bleibt nur der Wunsch für eine besinnliche Weihnacht, so dass wir uns irgendwann vielleicht unbefangen und unvoreingenommen auch wieder eine frohe Weihnacht wünschen können - und sie vor allem auch als solche erleben.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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