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Sterbetagebuch: Zum Tode meiner Mutter (3.7.1924-27.7.2003)
Heute jährt sich der Todestag unserer Mutter zum zwanzigsten Mal. Wir befinden uns auf Juist; meine Schwester ist mit von der Partie. Ulla ist am 5.6. des Jahres 81 Jahre alt geworden. Mein 71ster Geburtstag war am 21. Februar des Jahres. Zwanzig Jahre nach dem Tod meiner Mutter nimmt das seinerzeit "just in time" aufgeschriebene "Sterbetagebuch" zunehmend eine andere Färbung und Bedeutung an. Meine Schwester ist dem Teufel in den letzten beiden Jahren zweimal knapp von der Schippe gesprungen. Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten sind hinterlegt. Nach zwanzig Jahren Abstand konfrontiert uns das Lesen dieses Tagebuches mehr und mehr mit der eigenen Endlichkeit: mors certa - hora incerta.
Das folgende Sterbetagebuch meiner Mutter ist erstmals veröffentlicht worden in: „Hildes Geschichte“, in der ich versucht habe, die familiendynamischen Turbulenzen, die unsere Familiengeschichte entscheidend prägen, wenigstens blitzlichtartig bis seismografisch – und eingedenk der unvermeidbaren „blinden Flecken“ – „aufzuzeichnen“. Die Langfassung findet ihr unter „Hildes Geschichte“.
Insofern bildet der nachfolgende Text eine Auskoppelung und setzt ein mit einem 51 Jahre umfassenden Zeitsprung – von meiner eigenen Geburt bis hin zu den letzten Lebensmonaten meiner/unserer Mutter: 51 Jahre später – so alt war ich 2003 – habe ich deinen finalen Wendepunkt, an dem das geschehen sollte, was in jedem Leben unausweichlich und notwendig wird, seismografisch registriert – in deinem Sterbetagebuch. In der Fuge deines Lebens will ich dem basso continuo nicht nur im Beginnen folgen, sondern auch in seinem Verklingen. Und ich möchte heraus horchen, welche Motive, welche Töne, welche (Dis-)Harmonien nachklingen und sich zu neuen Klangfolgen verdichten. Ja, ich weiß, ein Tagebuch – auch ein Sterbetagebuch – ist kein Instrument der Kommunikation. In einem Tagebuch verdichten sich bestenfalls Tintenkleckse zu mehr oder weniger bedeutungsvollen und sinnträchtigen Gedankensplittern, bewahrt vor der Ereignishaftigkeit und dem gnadenlosen Zerfall, die mit ihrem Gedacht-Sein einhergehen – Zerfallsprodukte mit atemporaler Zeitstruktur. Dein Sterbetagebuch konnte zuletzt nichts haben von der heimeligen Schreibstube, die ich mir immer wieder einrichte; in der man gediegen und gelassen die Unterschiede zwischen „erlebtem“ und „erzählten“ Leben zu registrieren vermag und in diesem Schürfen nach Sinn dem Fluss des Lebens die menschliche Seite abgewinnt. Genau 10 Jahre später – im Juli 2013 –, der Zeitpunkt, an dem ich es hier (in „Hildes Geschichte“) nahezu unverändert einfüge, kommt es mir selbst wie das Zucken und Zappeln einer Fliege vor, die Marmelade gefallen ist. Ein Zucken und Zappeln deshalb, weil so eindrücklich wird, wie brutal der Abstand schrumpft, der der Not und der Hitze dieses Aufbruchs ins Finale ein wenig Linderung und Milde hätte vermitteln können. Aber in dieser Klammer vom gleichermaßen chaotischen wie spurenmächtigen Aufbruch ins Leben, seiner Weitergabe bis hin zu seinem Verlöschen, liegt die Bedingung für das, was war und das, was kommen darf:
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Ecce Homo - Werner Mittelstaedt
Kurskorrektur - Bausteine für die Zukunft (2004 Büchergilde Gutenberg) - zwischen den nachfolgend wiedergegebenen Thesenbzw. Vorschlägen Mittelstaedts und dem aktuellen politischen Diskurs liegen fast zwanzig Jahre, kaum zu glauben!
Die große Kluft zwischen Wissen und konkretem Handeln - Künftige Lösungen dürfen nicht wieder Teil der Krise werden (Seite 53-56):
- Wir benötigen letztendlich Lösungen, die nicht dazu beitragen, auf die ein oder andere Weise wieder Teil der Krise zu werden. Aufgrund der Komplexität der zu lösenden Probleme und Kirsen mutet dies wie die Quadratur des Kreises an - damit ist gemeint, dass wir tiefgreifende Lösungen benötigen, die nicht nur lokal, sonder auch global wirken.
- Manche Menschen sind der Auffassung, dass die Menschheit zur Wiedererlangung (!) ihrer Zukunftsfähigkeit nicht mehr die richtigen Antworten finden wird, weil der Zeitrahmen, in denen Lösungen für dieses Ziel heranreifen könnten, viel zu klein wäre. Zur Untermauerung dieser Einschätzung wird angeführt, dass der Egoismus des Menschen, kombiniert mit Nationalismus, Machtgier und Fundamentalismus unterschiedlichster Provinienz, die ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Lösungsversuche und Einsichten oft im Keim ersticken würden. Dieser Einschätzung muss heftig widersprochen werden, weil sie unverantwortlich ist. Wieviel Zeit der Menschheit zum Handeln tatsächlich zur Verfügung steht, um nicht vollends zukunftsunfähig zu werden, kann niemand genau vorhersagen. Einschätzungen wie die oben angeführten tragen zur Resignation bei.
- Um die aus heutiger Sicht sich anbahnende Megakrise der Menschheit doch noch abzuwenden, bedeuten realistische Lösungen, sie unter weitestgehender Einbeziehung der bestehenden Wert- und Handlungsmuster anzugehen.
- Ökonomische, soziale, kulturelle und politische Lösungen müssen für die Mehrheit der Menschen nachvollziehbar und konsensfähig sein. Zukunftsfähigkeit und evolutionäre Zukunftsgestaltung im Sinne des Leitbildes der nachhaltigen Entwicklung kann nur unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten erreicht werden, die im Prinzip schon heute vorhanden sind: Ausreizung wissenschaftlich-technischen Know-hows zur Wiedergewinnung und Substitution von Ressourcen; Produktionenen mit größerer Effizienz und möglichst geringem Naturverbrauch müssen vorangetrieben werden (vg. Weizsäcker u.a. 1995); verbreitete Nutzung von Methoden für ein besseres Verständnis komplexer Strukturen zur Lösung von Umweltproblemen (vgl. Vester 2000).; viel strengere Umweltgesetze und konsequentere Umweltüberwachung; Schaffung einer Weltumweltpolitik; grundlegende Reformen der Vereinten Nationen mit dem Ziel einer Weltfriedenspolitik; Steuern auf zukunftsunfähige Produktionen; für Konsumenten nachvollziehbare Zertifizierungen von Konsumgütern aller Art mit Hinweisen auf Zukunftsfähigkeit bzw. Zukunftsunfähigkeit; breite Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung gegenüber den zukunftsgefährdenden globalen Megatrends unter Einbeziehung individueller Handlungsmöglichkeiten und Verantwortungspotentiale; individuelle Abgaben (Entwicklungshilfesteuern) für die Länder des Südens, um nur einige Schlagworte zu nennen.Ich kommentiere einmal mit meinem letzten lyrischen Erguss - wie gesagt fast 20 Jahre später und mehr als ernüchtert:
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Warum ich der Katholischen Kirche nicht mehr angehören möchte – das Bekenntnis eines notwenigen Austritts aus Verantwortung (am 18.7.2023)
So beten wir im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, der früher einmal ein Gespenst war, Amen. (Michael Moore)
Michael Moore (Stupid White Men bei Piper 2002 erstmals verlegt) schließt mit dieser Formel sein von Sarkasmus geprägtes Gebet an den dreifaltigen Gott ab, mit dem er denselben bittet, im Allgemeinen wie im Spezifischen für Gerechtigkeit in der Welt zu sorgen. Mit Sarkasmus bezeichnen wir beißenden, bitteren Spott und Hohn. Häufig offenbart sich in ihm nicht nur schlichte Kritik an gesellschaftlichen Gegebenheiten, sondern auch das Eingeständnis, solchen Gegebenheiten nicht wirksam und nachhaltig beikommen zu können. Michael Moore trifft mit seinem Zynismus einen Kern: Ja, ein Gespenst geht um in Europa und in der Welt. Und dieses Gespenst heißt Christentum in Gestalt seiner Kirchen, in dem sich der Antichrist zu erkennen gibt.
Mein Austritt aus der Katholischen Kirche erfolgt spät – zu spät, um damit noch umfassend belegen zu können, wie sehr ich mich von dieser Kirche und wie sehr sich diese Kirche von meinem Denken, Fühlen und Hoffen entfernt hat. Trotz dieses Eingeständnisses habe ich mir auch diese Entscheidung nicht leicht gemacht.
Weiterlesen: Warum ich der Katholischen Kirche nicht mehr angehören möchte
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Nikolaj Schultz: Land Sickness - Landkrankheit
(eine deutsche Übersetzung befindet sich in Vorbereitung)
Tagebucheintrag vom 8. August 2000 (aus: FJWR, Komm in den totgesagten Park und schau, Seite 101f.)
Vielleicht lege ich mit diesem Selbstbekenntnis die Grundlage für die wechselseitige Anerkennung eines ausgeprägten Eigensinns:
Heute ist mein zweiter Arbeitstag nach dem Sommerurlaub, und ich sitze morgens um 8.00 Uhr in meinem Büro. Das letzte 1 ½ Jahr auf dem Oberwerth. 2001/02 werden wir nach Metternich umziehen, fünf Minuten vor meiner Haustüre. Wehmut stellt sich ein, hier in der Stille in der kleinen Zwischenwelt nach dem Sommersemester. Die Uni ist ausgestorben. Im aufbrechenden Zeitalter des virtuellen Campus wirken die Scheingefechte um die „Präsenz-Uni“ gleichermaßen irritierend wie geisterhaft. Am präsentesten, körperlich gegenwärtig sind in dieser Uni diejenigen, die am ehesten die virtuelle Zukunftsvision verkörpern, die Informatiker. Sie können sich noch nicht ganz lösen – jedenfalls die materiellen Underdogs – von den Fesseln der Hardware. Aber diejenigen, deren körperliche und geistige Verfassung für Fesselungen solcher Art einfach keine viablen und passenden Schnittstellen aufweisen, genießen weiterhin die ungemeinen Vorzüge eines Hochschullehrer-Daseins. Die Gänge, die Zwischenräume der Uni sind menschenleer. Es herrscht Ruhe. Ich komme mir dabei ungemein privilegiert vor. Mein Zimmer hier im Nordflügel des A-Gebäudes, auf der Rheinaue des Oberwerths gelegen, ist ein Refugium – zumindest für diese kleine Zwischenwelt. Heute Nacht hat es geregnet. Ich sitze hier im Dachgeschoss bei geöffnetem Fenster, höre die Vögel zwitschern und das entfernte dumpfe Wummern der Rheinschiffe. Ein schwerer, satter Spätsommertag gewinnt langsam Konturen. Es ist bewölkt und auf eine Weise grau und matt, wie ich es mag. Die stille, regennasse, feuchte Atmosphäre stimuliert mich. Hier und jetzt kann ich deutlich fühlen, warum ich glaube ein „Nordmensch“ zu sein.
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Benedikt Bösel: Rebellen der Erde (VII)
Rebellion im Garten!?
Ja, bei traditionell sozialisierten Hobbygärtnern ist eine der existentiellen und folgenreichen Unterscheidungen die zwischen gewünschten bzw. geduldeten Kräutern auf der einen Seite und den Unkräutern auf der anderen Seite. Bei Benedikt Bösel erhalten nun Anne Kaulfuß und Deacon Dunlop die Gelegenheit uns darauf hinzuweisen, dass "Unkräuter und Schädlinge nur im Kopf existieren". Auf Seite 171 in: Rebellen der Erde: Wie wir den Boden retten – und damit uns selbst (München 2023) ist also zu lesen:
„Unkräuter und Schädlinge existieren nur im Kopf. In der Natur gibt es weder Unkräuter noch Schädlinge, beides sind menschengemachte Konzepte: Beikräuter, so nennen wir sie, signalisieren als Zeigerpflanzen den Zustand des Bodens. Brennnesseln und Melde etwa zeigen einen Nährstoffüberschuss an, den sie in den oberirdischen Pflanzenteilen binden. Ackerschachtelhalm und Disteln zeigen Verdichtungen an, die sie mit ihrem Wurzelnetzwerk versuchen aufzubrechen. Das Beikraut sollte dort, wo es nicht stört, stehen bleiben. Überall da, wo Beikraut nicht erwünscht ist, behebt man zunächst die angezeigte Störung, also zum Beispiel bereits überdüngten Boden nicht noch mehr düngen und verdichtete Bereiche mit der Grabgabel lockern.“