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Michael Kleeberg - Dämmerung oder Sonnenfinsternis?
So wie am 21. Juni eines jeden Jahres Melancholia – aus einem gleichermaßen naheliegenden wie individuell nachvollziehbaren Grund – das Zepter übernahm, so durchströmte mich am 21. Dezember eines jeden Jahres ein verhaltenes, gleichwohl belebendes Aufatmen. Der längste Tag und die längste Nacht begründeten ein homöostatisches Schwebegefühl; die Illusion einer Balance verbunden mit der Suggestion, in den unvorhersehbaren Wellenbewegungen im Ozean des Lebens übers ganze Jahr gesehen, doch ein vermeintlich erträgliches Gleichgewicht aufrecht erhalten zu können.
Dies ist seit dem 21. Dezember 2023 anders – so grundlegend anders, dass ich nun in der Gewissheit leben muss, die Sonne niemals mehr in meinem Leben zu erblicken. Gleich einem neuen Himmelsgestirn verdeckt seither – ganz offenkundig in einer noch kaum fassbaren Endgültigkeit - Michael Kleebergs Dämmerung die Sonne. Nur noch das schwache Leuchten der Korona nährt die Illusion, man habe es vielleicht doch nur mit einem zeitweiligen Ereignis, wie bei einer totalen Sonnenfinsternis zu tun. Am 21. Dezember 2023 las ich Kleebergs Epilog, mit dem Charly endgültig in den Glutofen des Krematoriums geschoben wurde, den Michael Kleeberg auf den letzten der 477 Seiten zu seiner endgültigen Betriebstemperatur hochfährt.
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Markus Deggerich: Fast hätte ich meine Mutter umgebracht (SPIEGEL 52/23, S.94-95)
Wie mir am Heiligen Abend noch eine Weihnachtsgeschichte geschenkt wurde(:-)) - oder: Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott
Vorbemerkung: Nach der gestrigen kurzen Würdigung der lebenslangen Forschungsbemühungen des Forscher- und Ehepaares Karin und Klaus Grossmann blieb als ein Schlüsselbegriff vermeidendes Verhalten im Gedächtnis, das entsteht, wenn ein Kind keine Schwäche zeigen darf und negative Gefühle mit sich ausmachen muss. Seit langem leistete ich mir gestern die aktuelle Ausgabe des SPIEGEL, weil sie aus gegebenem Anlass mit dem Titel aufwartete: Für immer Sohn – Wie Mütter das Leben von Männern prägen
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Peter Sloterdijk - ein Tröster, dem Bescheidenheit zuwächst!?
für jemanden, der heute einen runden Geburtstag begeht - ein paar sympathiegeschuldete Impressionen mit der Hilfe von Thomas E. Schmidt (ZEIT 47/23)
"Mon dieu, als ich noch alles wußte, da war ich ein ziemlich laut tönendes Erz und eine überklug klingende Schelle." Thomas E. Schmidt, der seine Besprechung des dritten Bandes von Zeilen Tage von Peter Sloterdijk (Suhrkamp - Berlin 2023) mit Der alternde Zarathustra überschreibt, wählt aus der Vielzahl und Vielgestaltigkeit des Zitierbaren u.a. diese - Bescheidenheit und Einsicht in die eigenen Grenzen signalisierende - Fundstelle aus den auf 583 Seiten zusammengestellten Tagebuchnotizen aus. Möglicherweise neigte ich, der seine eigenen Überlegungen mit einem überreichen Zitaten- und Fundstellenschatz aus den Sloterdijkschen mäandernden Absonderungen unterfüttert, auch zu der Unterstellung, "dass Peter Sloterdijk von seiner Position aus klarer sehe, schon indem er mutiger erschien".
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Wenn ich noch einmal Kind sein dürfte - Weihnachten 2023
Um den aktualisierten Beitrag zu Weihnachten 2023 aufzurufen, bitte die Überschrift anklicken! Die nachfolgenden Anmerkungen - insbesondere zum Interview mit Karin und Klaus Grossmann - sind als Einleitung zu verstehen.
Selten hat der Advent uns seine Unmittelbarkeit mit einer solchen Intensität vermittelt, wie in diesem Jahr. Warten wir doch nicht – wie Millionen Menschen – auf die Geburt des Jesuskindes, wie in jedem Jahr; erwarten wie vielmehr die Geburt unseres dritten Enkelkindes im ausgehenden Advent. Auch wenn seine Eltern nicht herbergslos sind und auf der Suche nach Beistand, erfasst uns (Großeltern) Unruhe neben froher Erwartung. 2004 hat Karla das Licht der Welt erblickt, 2016 ist Mathilde geboren worden, 2019 Leo und 2020 Jule. Ob das fünfte Urenkelkind Hildes noch 2023 oder erst 2024 das Licht der Welt erblickt, steht wahrlich noch in den Sternen. Hilde ist die Urgroßmutter, bei der so vieles zusammenläuft und von der so vieles ausgeht. Lisa heißt die andere Urgroßmutter bei Leo und bei Jule. Sie hat uns 2020 verlassen. Und Theo und Leo sind die Urgroßväter – zumindest bei Matti, bei Leo und Jule der erste (Theo) und bei Leo und Jule (auch) der zweite. Ihr merkt, wir schauen hier nicht mehr familienbezogen, sondern wir haben die Sippe im Blick. Denn der/die neue Erdenbürger(in) macht Annerose zum dritten Mal zur Oma wie posthum Hans Josef zum Opa.
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Wie gehen wir durch die Geschichte - wie geht Geschichte durch uns hindurch?
Dieses Jahr gibt es von mir keinen Adventskalender - der Advent 2023 hat mir aber eine der schönsten Geschichten der letzten Jahre geschenkt!
Was sind Diskurse? fragt Peter Sloterdijk in seinem dritten Band von Zeilen und Tage (Notizen 2013-2016, Suhrkamp 2023). Seine Antwort: "Schemata des Aussagens von Sachverhalten. Floskelsysteme, Formulierungsroutinen." Anfang November erwischte mich covid19 zum zweiten Mal (zumindest meiner Kenntnis nach - validiert durch einen tatsächlich durchgeführten Test). Noch ein wenig reduzierter in meinen Außenkontakten kam mir eine merkwürdig schlichte, aber gleichermaßen faszinierende Idee. Seit meinem ersten Umzug (1974) trage ich mit mir anwachsende Kartons mit Bilderfluten in die Welt - seit gut zwanzig Jahren nicht mehr so sehr materialisiert (auf Fotokarton), sondern eher als digitale Friedhöfe, in denen sich sichtbare Zeugnisse unseres Driftens durch diese Welt manifestieren. Aber auch in den besagten Kartons mögen es weit mehr als mehrere tausend belichtete Fotoleichen sein, die hier ein merkwürdig invariantes Dasein fristen. So kam ich also auf die Idee diese Kartons zu öffnen und mir eine aufmerksame bis ängstliche Auseinandersetzung mit einer Unzahl aufs Papier gebannter Augenblicke zuzumuten. Sekündlich war klar, dass Fotos in erster Linie Papiermüll darstellen, gestattet man ihnen nicht eine sinnerzeugende - zumindest sinnahnende - Belichtung gewissermaßen durch Erinnerungsarbeit. Schreibintensive und -gebundene Versuche meinerseits sind inzwischen Legende. Auch in diesen Versuchen haben Fotos einen Kontext gefunden; erst durch Kontextualisierung werden Zugänge möglich.
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