Bernhard Schlink: Wichtig ist die Freiheit, die wir uns selbst geben
Christian Berkel hat seine mit stark autobiografischen Motiven versehene Romantrilogie beendet und mir heute im ZDF-Mittagsmagazin eine Vorstellung davon vermittelt. Was mich zentral berührt ist seine Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Schweigens in deutschen Familien. Sein wesentlicher Antrieb zu erzählen, speist sich aus der Erfahrung des Schweigens und Verschweigens. In all meinen eigenen bescheidenen Bemühungen die Schweigespirale in der eigenen Familie zu durchbrechen, fühle ich mich merkwürdig isoliert, ein Lebensgefühl, dem man vermutlich nur durch gleichermaßen unbefangenes wie raumgreifendes Erzählen begegnen könnte. Die Unbefangenheit geht mir ab; das Raumgreifende schrumpft zunehmend auf lyrische Affekte - so auch passend zur heutigen Wahrnehmung von Christian Berkel:
Die Welt kommt zu uns
(manchmal auch als Flaschenpost –
seinerzeit von Paul Celan, heute von Benedict Wells
und wiederum heute von Christian Berkel)
macht sich in uns breit,
sinkt ab in Fühlen und in Habitus.
Die Quellen gründen tief,
aus denen Lebenswasser quillt,
geklärt durch Denk- und Fühlverbote.
(Nur wenn ein Damm bricht vor der Zeit,
macht sich zuweilen Flut und Feuer breit,
zerbricht das dünne Eis der Contenance.)
Danach - und manchmal auch zuvor -
hilft Therapie
im Suchen und im Finden einer Sprache.
Und Sprache findet (manchmal) zaghaft ihren Weg
viel seltener die passende Adresse -
Für’s Zuhören wird ja nun gezahlt!
Wenn’s jenem Urgrund mangelt an Vertrauen,
wenn Schmerz und Kränkung Fundamente bauen,
versagt man sich das Fragen -
und das Erzählen wohl erst recht!
Kommt, reden wir zusammen (schrieb Gottfried Benn*) -
wer redet, ist nicht tot!
Und wusste wohl: es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not – und warnt:
Kommt öffnet doch die Lippen,
so nah schon an den Klippen
in eurem schwachen Boot.
Nur wer redet, ist nicht tot! (immer auch für Rudi - hinzugefügt am 24.02.2024)
*Gottfried Benn, Gesammelte Werke - Gedichte (Limes Verlag), Wiesbaden 1963, S. 320
Wichtig ist die Freiheit, die wir uns selbst geben
Und dann schenkt mir das chrismon-Juni-Heft ein Interview mit Bernhard Schlink, dem ich so viel verdanke – an Einsichten, an Impulsen: „Wichtig ist die Freiheit, die wir uns selbst geben“ – wichtiger jedenfalls als die Freiheit, die andere uns zugestehen, sagt der Schriftsteller Bernhard Schlink. Ein Gespräch über das richtige Leben, Gott und das Älterwerden. Am 6. Juli wird Bernhard Schlink 81 Jahre alt.
Die chrismon-Redaktion stellt Bernhard Schlink folgendermaßen vor:
"Bernhard Schlink, Jahrgang 1944, ist Jurist, Hochschullehrer - und hat viele erfolgreiche Romane geschrieben. Darunter >Der Vorleser< (1995) über den Umgang der Nachkriegsgeneration mit ihrer Elterngeneration. Der Roman wurde in 50 Sprachen übersetzt."
„Ich fühle mich immer frei.“ So antwortet Schlink auf die Frage, wann er sich das letzte Mal richtig frei gefühlt habe.
„Wir sind frei, wenn wir nach dem Gesetz leben, das wir uns selbst geben. Nicht nach den Vorgaben und Vorstellungen anderer, nicht in Abhängigkeit von unseren momentanen Befindlichkeiten, Stimmungen, Launen. […] Sollte Sie irritieren, dass wir uns mit einem Gesetz Freiheit geben, denken Sie an Alkohol- und Drogenabhängige, die statt unter dem eigenen Gesetz unter dem der Sucht leben.“
Nun, die Formulierung, die vom „eigenen Gesetz“ spricht, irritiert in der Tat. Jeder Betrüger, jeder Despot könnte nach putinesken oder trampschen Linien den eigenen Irrsinn als „eigenes Gesetz“ ausgeben. Bernhard Schlink lässt dies im Sinne seiner Argumentation jedoch nicht zu; er hat vielmehr eine universale Ethik im Blick als moralgeschwängerten Aberwitz, der nur den eigenen Werten und Vorlieben Vorrang einräumt:
„Es ist das Wissen, was zählt, was man will, wie man mit sich und mit anderen richtig umgeht. Man könnte auch daran denken, von einem Lebensplan zu sprechen. Aber Gesetz trifft es besser; Lebenspläne müssen immer wieder veränderten Lebenssituationen angepasst werden. Eine Zeit lang stehen die Kinder auf dem Lebensplan, eine Zeit lang Beruf und Karriere […]. Aber wie die gewählten und gestellten Aufgaben anzugehen und ihnen gerecht zu werden ist, verändert sich nicht gleichermaßen.“
"Wie man sich und anderen richtig umgeht!" Mein Neffe hat mich einmal gefragt, warum ich mich an dem Phänomen Carl Schmitt so intensiv abarbeite? Carl Schmitt gilt noch heute manchen Rezipienten als (kon-)genialer Analyst dessen, was die Menschen im Eigentlichen, im Kern ihres Wesens bewegt. Mit seiner Schrift Der Begriff des Politischen setzt er die Fundamentalunterscheidung Freund - Feind in die Welt und geht so weit zu behaupten, ohne diese Unterscheidung gäbe es den Phänomenbereich des Politischen gar nicht. Selbst wenn man aus realitätsbegründeten Einsichten konzediert, dass diese Unterscheidung: Freund - Feind durchaus dazu geeignet ist, politische Prozesse und Konflikte zu beobachten und zu beschreiben, macht es einen Unterschied ums Ganze, wenn Carl Schmitt nicht nur entsprechende Phänomene beschreibt, sondern durch die Schrift selbst erklärt, wie man den Feind richtig definiert und dass man in bestimmten gegebenen historischen Konstellationen angemessen nur handeln kann, wenn man den Feind physisch vernichtet. Er hat dies im Kern bereits 1932 so vertreten. In seinen Tagebüchern und in seinen Kommentaren zur Gesetzgebung (die Nürnberger Rassegesetze nennt er eine >Verfassung der Freiheit<) sowie in seiner Publikation: Der Führer schützt das Recht lässt er keinen Zweifel daran, dass er mit seinem Begriff des Politischen keine (reine) Deskription der Seinswelt des Politischen anbietet, sondern vielmehr eine Betriebsanleitung, nicht (nur) zur Beschreibung von Freund-Feind-Konstellationen, sondern im Grunde - wie dann geschehen - konkrete Empfehlungen zum richtigen Umgang mit dem Feind. Putin ist ein gelehriger Schüler, der seit Jahren beweist, was die Schmittsche Formel bedeutet: Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand bestimmt. Donald Trump versucht sich gegenwärtig daran, die in 250 Jahren gewachsene amerikanische Demokratie zu zerstören (wer bestimmt hier über den Ausnahmezustand?).
Zum anhaltenden Diskurs über die Einschränkung von Grundrechten während der covid19-Pandemie hat Schlink eine klare, nüchterne Haltung – immerhin als jemand, der die Jurisprudenz nicht nur erlernt, sondern auch gelehrt hat. „Hatten Sie nicht das Gefühl, der Staat greift zu sehr in das private Leben ein, gibt vor, was man tun darf und was nicht?“ lautet die Frage:
„Nein. Der Staat wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte – woher sollte er es auch wissen? Er hat schlecht und recht versucht, das Richtige zu machen. Das ist ihm immer wieder nicht gelungen. Schon damals konnte man an manchem zweifeln, und im Rückblick sehen wir die Fehler deutlich.“
Bernhard Schlink schildert den Einfluss einer stark religiös motivierten Erziehung – der Vater war Professor der Theologie; Schlink spricht von einem Leben, wie in einem klassischen protestantischen Pfarrhaus. Er reagiert verhalten auf die Frage, ob ihn dies als Kind nicht genervt habe:
„Es gab natürlich Situationen, in denen ich lieber etwas anderes gemacht hätte. Zugleich habe ich Rituale im Leben mögen gelernt. Es müssen nicht die Rituale des protestantischen Pfarrhauses sein. Aber Rituale entlasten. […]. Meine Mutter war Schweizerin und reformiert. Mein Vater brachte die Rituale in mein und meiner Geschwister Aufwachsen, meine Mutter das Gewissen. Sie hat uns eine starke Gewissenbindung mitgegeben.“
Berhard Schlink bekennt, nicht ans Austreten aus der Kirche zu denken: „Sie ist eine Gemeinschaft von Menschen, die guten Willens sind, der ich mich verbunden fühle.“ Dabei spielt Gott eine untergeordnete Rolle:
„Ganz früh war Gott jemand wie Onkel Heini oder Tante Marie. Er gehörte gewissermaßen zur Familie. Wie von Tante Marie über Jahre nur die Rede war, ich sie nicht sah, es sie aber gab, so war es auch mit Gott. Allerdings kam Tante Marie gelegentlich, während Gott und ich uns nie begegnet sind.“
Er spricht von der Freiheit eines Christenmenschen:
„Wir sprachen über die Freiheit die andere und zumal der Staat uns lassen, und die Freiheit, die wir uns selbst geben. Es gibt auch die Freiheit des Christen, die nicht nur die Freiheit des Christen ist, die ich aber als Freiheit des Christen kennengelernt habe. Sie hat ihren Grund darin, dass wir in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt sind. Wie immer es um unsere Angelegenheiten in der Welt steht, ob wir mit den Aufgaben, die uns wichtig sind, Erfolge haben oder scheitern, ob wir mit den Dingen, die uns teuer sind, glücklich oder unglücklich sind, ob die Menschen, die wir lieben, uns wiederlieben oder enttäuschen – wir gehen weder in den Aufgaben noch in den Dingen noch in den Menschen auf. Uns ist gegeben, um die Bedingtheit von allem zu wissen, was wir tun – auch wenn wir es mit ganzem Einsatz tun.“
Unversehens begegnen wir dem modernen, gebildeten Menschen in der ambivalenten Weise, die viele von uns bedrängt. Bernhard Schlink ist der Meinung das Wissen Abstand schaffe – der Abstand wiederum schaffe Freiheit:
„Freiheit von der Sorge davon, wie, was ich tue, ankommt, ob es gemocht wird, ob ich gemocht werde. Ich kann nur tun, was richtig ist; alles andere mag kommen, wie es kommen mag.“
Das letzte Drittel des Interviews wendet sich den aktuellen politischen Entwicklungen zu und schließlich der Frage nach dem Tod. Bernhard Schlink – wen wundert es – reagiert auf die Frage, ob ihn die wachsende Resonanz der AfD in der Wählerschaft besorge, zunächst mit einem schlichten. „Ja.“ Die Ausführungen zu diesem schlichten Ja lassen allerdings keine Zweifel an der Bedrohungslage:
„Bei uns in Deutschland, in Europa, in den USA und in Asien wird der populistische Autoritarismus immer stärker. Wo er sich durchsetzt, schränkt er Recht und Freiheit drastisch ein; er beseitigt die Unabhängigkeit der Justiz und diffamiert und diskriminiert die, die nicht auf seiner Linie liegen.“
Zum Faschismus-Argument und der Vorstellung es sei „fünf vor 1933“ differenziert er:
„Es droht keine Judenverfolgung und – vernichtung. Aber was uns droht, sehen wir dieser Tage in Amerika. Dort ist eine Gleichschaltung im Gange, wie es sie 1933 teils durch staatliche Nötigung, teils in vorauseilendem gesellschaftlichem Gehorsam gab. […]. Ob es in zwei und vier Jahren wieder faire Wahlen gibt, ist offen, Trump zerschlägt die Einrichtungen, die die Fairness der Wahlen gewährleistet haben.“
Wie steht es angesichts dieser Bedrohungen mit der persönlichen Freiheit? Chrismon fragt: „Sie sind 80 Jahre alt. Wir die Freiheit mit dem Alter größer oder kleiner?“ Die Antwort mag verblüffen:
„Das Alter macht mich freier, weil seit dem Ausscheiden aus der Universität und Gericht weniger Aufgaben anstehen, die nicht danach fragen, ob sie mir gerade zupasskommen, keine Klausuren, die korrigiert werden müssen, keine Staatsprüfungen, keine Fälle, auf die ich mich vorbereiten muss.“
Zuletzt bekennt Bernhard Schlink, dass er es nicht ausschließe unter bestimmten Umständen, Hand an sich zu legen: „Mein Onkel und meine Tante haben sich mit Anfang 90 aus solchen Gründen (drohender Verlust eines selbstbestimmten Lebens, FJWR) das Leben genommen. Ich kann mir das auch vorstellen.“