Francesca Melandri zeigt uns, was wir zu tun haben!
Ich danke Marisa Brass für: Francesca Melandri, Kalte Füße (Verlag Wagenbach, Berlin 2024)
Der folgende Beitrag - Franz und Jurij - ist bereits Anfang April 2022 in diesem Blog veröffentlich worden. Wenige Tage nach der Invasion russischer Truppen in die Ukraine war mir bewusst, dass Wladimir Putin jener brutalen Politik - seiner imperialistischen Politik - die Krone aufsetzt, indem er den Befehl zum Einmarsch der russischen Armee(n) in die Ukraine gibt (siehe dazu die Links ganz am Ende). Ich zitiere Francesca Melandri in der Auseinandersetzung mit ihrem Vater aus dem letzten Kapitel ihres Buches: Kalte Füße (Verlag Wagenbach, Berlin 2024):
"Eins habe ich verstanden, Papa: Das Gegenteil von Krieg ist nicht Frieden um jeden Preis, sondern Rechtsstaatlichkeit. Es sind die Gesetze, die den Schulhoftyrannen daran hindern, den Schwächeren zu verprügeln, und die den Schwächeren vor Schikanen schützen. Aber Rechtsstaatlichkeit ist nicht ist nicht nur ein juristisches oder politisches Konstrukt, es ist vor allem ein Ziel, das wir anstreben. Sie kann nur dann in einer Gesellschaft verwurzelt werden, wenn das unmenschliche Recht des Stärkeren bei ausreichend vielen Menschen einen unbändigen Abscheu hervorruft [...] Der Satz, du hättest uns die Freiheit gelehrt, ist eine Phrase, und Phrasen sind uns bekanntlich verhasst. In Wahrheit hast du etwas Besseres getan, vielleicht ohne es selbst zu wissen: Du hast uns beigebracht, unsere Freiheit als naturgegeben und selbstverständlich anzusehen. Du hast Menschen aus uns gemacht, die sich wehren, wenn man ihnen ihre Freiheit nehmen will [...]
Du hast dein Buch - den Sturm, so hast du es genannt - nach dem Russlandkrieg geschrieben, der ja größtenteils ein Ukrainekrieg war. Ich schreibe mein Buch in einer Zeit, da der russische Krieg gegen die Ukraine vielleicht nur der Anfang, einer größeren Explosion ist. Du als großer Visionär, faselnder Prophet und Märchenerzähler hast ihn schon vor dreißig Jahren kommen sehen. Und ich ich habe mich dir nie so nahe gefühlt, so wenig zu fassen, so sehr mein Vater [...] Wie werden wir uns verhalten, wenn der Krieg eines Tages keine Fernsehserie mehr ist, sonder der Fluch des echten Lebens? Wie entscheiden wir uns, wenn die Geschichte vor unserer Haustüre steht und uns die Schlüssel wegnehmen will [...] Werden wir diejenigen sein, die die Kerze ausgehen lassen, oder die, die sie brennend weiterreichen? Der letzte Satz in Rückkehr mit dem Verrückten lautet: Mein alter Freund, wenn wir hier nicht schnell ein Feuer entzünden, kommen wir alle um vor Kälte. Und wir? Werden wir noch rechtzeitig ein Feuer entzünden können? Ich weiß es nicht, Papa. Aber wenn der Sturm kommt, werden wir es erfahren.
In Liebe, Bestürzung und Hoffnung,
Deine
Francesca Romana Alberta Elisabetta, Amelia Felicissima"
Bevor ich nun Franz und Jurij das Wort gebe, greife ich den weiter oben geäußerten Kerngedanken Francesca Melandris auf. Meine Mit-Pensionistas merkten in einer unserer Montagsrunden an, dass die vor 80 Jahren von Eugen Kogon vorlegte Analyse zu den Grundlagen staatlichen Terrors zu kompliziert und zu komplex sei. Der in Buchenwald befreite Eugen Kogon hätte das für das einfache Volk einfacher und schlichter formulieren müssen. In hohem Respekt vor Francesca Melandri gebe ich meine Übersetzung Eugen Kogons in Einfach-Sprech wieder (den Originaltext von Eugen Kogon kann man sich über den nachstehenden Link ("der komplette Beitrag hier") verfügbar machen:
Terror und Terrorismus in Schlichtdeutsch/Einfachsprech (der komplette Beitrag hier):
Du lebst in Freiland. Eines Tages klopft jemand an Deiner Haustüre. Du öffnest, und jemand schlägt Dich mit einem Knüppel unvermittelt zu Boden. Deine Nase ist gebrochen, und einige Deiner Zähne fehlen Dir. Als Du Dich mühsam erhebst, packt Dich der Schläger und wirft Dich aus Deinem Haus. Du versuchst ihn zur Rede zu stellen, weil Du wissen willst, was das alles soll. Der Schläger lässt Dich nicht zu Wort kommen, tritt Dir in den Arsch und brüllt nur noch: „Hau ab, ab heute gehört das alles mir – ich bin der Stärkere, und wir leben ab heute in Meinland!“
Auf der Straße triffst Du viele andere, denen es genau so ergangen ist. Sie erzählen, dass einige, die versucht haben sich zu wehren, sogar totgeschlagen worden sind. Auf Deinen Vorschlag, Euer Recht einzuklagen und vor Gericht zu ziehen, erfährst Du, dass der Schläger alle Richter selbst eingesetzt hat und die Polizei bzw. die PolizistInnen nur machen, was er ihnen befiehlt. Alle, die sich nicht daran halten, erklärt er zu seinen F e i n d e n. Die einen lässt er einsperren, andere wirft er aus dem Land - einige, von denen er meint, sie könnten ihm gefährlich werden, lässt er verurteilen und hinrichten. Seine Schlägertrupps sorgen für Ruhe und Ordnung.
Einige von euch können in das Nachbarland fliehen – nach Friedland. Dort sind die Menschen zwar alle verschieden, leben aber friedlich miteinander. Sie haben eine Regierung und ein Parlament. Über das Parlament bestimmen sie die Regeln ihres Zusammenlebens selbst. Die Regierenden haben ihre Ämter nur auf Zeit – sagen wir vier Jahre -, dann wird neu gewählt. Auf eine Armee von Knüppelträgern haben sie verzichtet, weil sie ja alle friedlich miteinander leben. Und wenn es Streit gibt, dann suchen sie nach Lösungen. Dafür haben sie Gerichte, wo manchmal auch Berater und Vermittler helfen. Wenn sich die Streitparteien nicht einigen können, fällen Richter ein Urteil, dass sich an den Regeln ihres Zusammenlebens orientiert. Alle müssen die gemeinsamen Regeln einhalten. Verletzt jemand die Regeln muss er sich vor Gericht verantworten. Vor dem Gericht sind alle gleich.
Eines Tages kommen Schlägertrupps mit Knüppeln nach Friedland und werfen auch dort die Menschen aus ihren Häusern und sagen: „Wir sind die Stärkeren, und deshalb machen wir, was wir wollen.“ Doch diesmal sperren sie alle, die ihren Anweisungen nicht folgen, in Lager, schlagen sie tot. Sie sagen: „Ihr seid nicht unsere F r e u n d e, ihr seid unsere F e i n d e, und wir wollen euch hier nicht mehr haben!“ Sie besetzten das überfallene Land, gliedern es Meinland ein und geben ihm einen neuen Namen: V e r e i n i g t e s B l u t l a n d
Einer aus meiner Pensionistas-Runde schrieb darauf hin: "...und welche Lösungen gibt es dem zu begegnen - außer Gegengewalt?"
Das einzige, was mir dazu einfällt - angesichts des Bösen (ja, ja - ich weiß... aber ganz nebenbei: haben wir Deutschen nicht gelernt: Gewaltverzicht und Anerkennung der Grenzen?!) lieder muss es heute auch klingen wie: A B S C H R E C K U N G - versuch es erst gar nicht und mache dein eigenes Land zu blühenden Landschaften - zumal, wenn dein Reichtum so unermesslich ist, wie in deinem fernöstlichen Riesenreich!
Details
Veröffentlicht: 02. April 2022
Franz und Jurij
Franz, der Vater meiner Schwester, liegt auf einem deutschen Soldatenfriedhof in der Ukraine/Saporoschje. Über 400.000 deutsche Soldaten verloren im Zweiten Weltkrieg auf dem Gebiet der Ukraine ihr Leben. Jurij verlor sein Leben als 23jähriger Angehöriger der russischen Invasionsarmee in den ersten Tagen des völkerrechtswidrigen Einmarsches der Russen in die Ukraine. Franz und Jurij beginnen ein Gespräch, in dem die Lehren aus der deutschen und der russischen Aggression zu ziehen sind.
Ich danke Marisa Brass für: Francesca Melandri, Kalte Füße (Wagenbach, Berlin 2024) - "Was bedeutet Krieg? Und was, wenn man auf der falschen Seite kämpft? Francesca Melandri erzählt die Geschichte ihres eigenen Vaters - und bringt die Stille einer ganzen Generation zum Sprechen." Zum Einsatz italienischer Verbände im Rußland-Feldzug (Barbarossa) siehe: hier!
Franz: Was ist das seit Wochen für ein Höllenlärm da draußen? Wer stört unsere Totenruhe und dringt ein in das Reich der Toten?
Jurij: Verzeih, wir wollen Euch nicht in Eurer Totenruhe stören. Wir haben uns die Zeit nicht ausgesucht, und keiner von uns wollte sterben, hier in der Ukraine, im März 2022! Aber was machst Du hier? Du bist doch offensichtlich ein Deutscher?
Franz: Ich liege seit Ende September 1943 auf diesem Friedhof. Ich bin auf dem Rückzug meiner Einheit hier in der Nähe gefallen – vor fast 80 Jahren. Die Generation Deiner Großeltern hat gegen uns gekämpft. Heute – nach fast 80 Jahren – kann ich sehen, was damals geschehen ist. Es ist übrigens in allen Geschichtsbüchern nachzulesen.
Jurij: Ich bin erst 23 Jahre alt. Kannst Du mir sagen, warum ich so früh sterben musste?
Franz: Das kannst Du Dir nur selbst beantworten. Ich glaubte damals fest an unsere Sache und konnte nicht ansatzweise erkennen, dass wir den Eid auf einen elenden Verbrecher geschworen hatten. Immer wieder ist es ihm – unserem Führer – gelungen, uns zu täuschen. Den Überfall auf Polen 1939 hat er uns als Notwehr verkauft. Noch heute klingen seine Sätze mir wie Hohn in den Ohren: „Polen hat nun heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten!“
Jurij: Ich komme aus Insa, einer kleinen Stadt, mehr als 700 Kilometer weg von Moskau. Die Stadt liegt an der Eisenbahnstrecke (Moskau–Rjasan–Rusajewka–Sysran–Samara; Streckenkilometer 727 ab Moskau). Von der großen Politik wissen die Menschen dort nichts. Wir glauben, was unser Führer uns sagt. Dass ich nun hier in der Ukraine liege, dort wo Eure Gebeine vermodert sind, mag ich selbst nicht glauben. Viele von uns haben keine Ahnung, was unsere Führung mit diesem Krieg bezweckt. Und ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wofür ich sterben musste.
Franz: Kleiner Jurij. Du tust mir leid. Viele von uns wussten wenigstens wofür sie gefallen sind – für unseren Führer, für unser Volk und unser Vaterland. Mein Kompaniechef hat meiner Frau am 25.9.1943 geschrieben, dass ich auf dem Heldenfriedhof von Saparorshje mit allen militärischen Ehrungen beigesetzt worden bin. Es wurde sogar eine Aufnahme von meiner letzten Ruhestätte gemacht. Mein Tod galt als Unglücksfall und wurde als umso bedauerlicher betrachtet, „als Uffz. Streit bei Vorgesetzten und Untergebenen als guter Kamerad besonders beliebt war“. Der Kompaniechef äußert meiner Frau gegenüber die Überzeugung, „daß sie diesen für Sie und Ihre Kinder so schweren Schicksalsschlag standhaft hinnehmen werden“. Er verabschiedete sich angemessen „mit deutschem Gruß“.
Jurij: Moment, ich hatte zu Hause eine ehrenvolle Beisetzung. Ein Kamerad trug mein Foto vorweg – vor den Fahnenträgern. Es gab Kränze in den russischen Nationalfarben und an den Straßen standen die Bürger Spalier.
Franz: Gratuliere! Das wird Deine Eltern und Deine Verwandten trösten. Aber was ist denn da bei Euch los? Ihr kämpft ja wie damals die Amerikaner: Wochenlange Bombardements, Raketen, Raketen, Raketen – ohne Rücksicht auf Verluste. Und dann massenhaft schweres Gerät - aus dem alten T34, dem wir mit großem Respekt begegnet sind, habt ihr den T72 und schließlich den T90 gemacht – und kommt nicht voran. Wie man Krieg mit Panzern führt, das hätten wir Euch beibringen können. Da fahrt Ihr die zwei befestigten Hauptachsen Richtung Kiew und lasst Euch von den ukrainischen Spezialtrupps auseinandernehmen. Kein Wunder, dass Ihr seit Wochen auf der Stelle tretet. Da wird Eure Führung zu Kriegsverbrechern, weil sie versuchen, mit Raketenbeschuss vor allem die Bevölkerung zu terrorisieren und zu demoralisieren. Wir haben das damals nicht anders gemacht. Aber wir hatten wenigstens Erfolg damit!
Jurij: Meine Kameraden - und auch ich - haben angenommen, dass die Ukrainer uns als Befreier begrüßen – als Befreier von einem faschistischen Terrorregime!
Franz: Wie grün seid Ihr denn? Kein Wunder, dass Ihr wie das reinste Kanonenfutter daher kommt. Faschismus?!?! Weißt Du denn, was Faschismus ist? Dass kannst Du bei uns Deutschen lernen, Du dummer, armer, kleiner Jurij. Das heißt, Euer Führer, der Wladimir, der hat seine Lektionen gelernt: In einer faschistoiden Gesellschaft sorgst Du zuallererst dafür, dass es im Land keine Opposition mehr gibt! Das heißt, Du eliminierst und sperrst alle weg, die nicht auf Linie sind; Rechtsstaat und Gewaltenteilung sind die ideologischen Knüppel des Westens. Damit gibt sich ein traditions- und geschichtsbewusster russischer Führer nicht ab. Gleichschaltung der Medien heißt die Devise. Auf die Verbreitung von Fake News stehen 15 Jahre Straflager. Der faschistische Staat ist ein Polizeistaat. Schau doch, was auf Euren Straßen los ist! Das heißt, da ist ja eben nichts los, weil lachende und weiße, leere Transparente tragende Bürger von Euren Knüppelgarden kassiert werden. Wenn Ihr den Wladimir noch ein paar Jahre gewähren lasst, dann könnte sich mein Führer bei Euch fast zu Hause fühlen.
Jurij: Es war nicht fair, uns in dem Glauben zu lassen, die Ukrainerinnen und Ukrainer würden uns als Befreier begrüßen. Die haben auf uns geschossen – und die haben uns ins Herz getroffen. Wir haben erst begriffen, was da eigentlich geschieht, als wir auf diesen unerbittlichen Widerstand stießen. Viele von uns waren sehr schnell demoralisiert und verzweifelt. Es gab sogar Fälle, wo die Kameraden die eigenen Fahrzeuge zerstört haben, um ja nicht weiter zu müssen. Viele von uns stehen nicht hinter dem, was sie da tun sollen!
Franz: Das ist der Anfang vom Ende. Unser Führer hat uns von Anfang an eingehämmert, dass wir zu Felde ziehen gegen die "bolschewistischen Untermenschen" und gegen die "jüdische Weltverschwörung"; das war unsere tiefste, kollektiv verankerte Überzeugung. Euer Führer hingegen verstrickt sich in unauflösbare Widersprüche: Einen jüdisch-stämmigen Präsidenten und eine vom Volk legitimierte Führung will er Euch als Nazis verkaufen. Er will sich als Befreier und Retter der vom Genozid bedrohten Russen in der Ukraine inszenieren. Das glaubt ihm doch selbst niemand im Donbas.
Jurij: Jewgenij (er war einer unserer ersten Toten) – ein Freund – telefonierte, kurz bevor es am 24. Februar losging, mit seiner Mutter, wir würden nach Smolensk zu Manövern geschickt (eine Stadt im Westen Russlands, rund 80 Kilometer von der Grenze mit Belarus – Anm. Verf.). Die Mutter sagte zu ihm: "Lügst du mich an? Was für Manöver?" Sie sagte, sie wisse von Manövern mit Belarus, die seien aber vorbei. Sie habe große Angst; sie habe gehört, es gebe Unruhen in der Ukraine. Sie wollte, dass er sofort zurückkomme, sie befürchte, dass er vielleicht gar nicht mehr zurückkommen werde. Ich hörte noch, wie er zu ihr sagte: "Was spinnst Du da?" Uns war überhaupt nicht bewusst, wohin wir geschickt werden. Wir haben einfach geglaubt, dass wir zu Manövern fahren. Keiner von uns konnte sich vorstellen, dass es so ein Blutbad geben würde. Wahrscheinlich hat das niemand gedacht, nicht einmal Putin selbst.
Franz: Ich bin hier, wo ich seit September 1943 meine letzte Ruhestätte gefunden habe, bereits im August 1941 gewesen. Ich kann Dir nur sagen, dass man den Krieg nur annimmt und ihn mit der unvermeidbaren, unerbittlichen Härte führt, wenn man weiß, dass man Krieg führt und wofür man ihn führt. Wir sind Ende Juni 1941 von Tomaszow aus über Lemberg (heute Lwiw) mit unserer Division (9. Panzerdivision) Richtung Kiew vorgestoßen. In unserem Divisionsbericht steht, dass wir entscheidend daran beteiligt waren, den Kessel um drei Sowjetarmeen zu schließen, um uns anschließend den kriegswirtschaftlichen Angriffszielen zuzuwenden: „Die ukrainischen Eisen- und Manganerzvorkommen sowie ihre Energiezentrale am Dnjepr-Staudamm – Erfolge, die mit der Eroberung der Gebietshauptstadt Dnjepropetrowsk ihren krönenden Abschluß fanden und mehrfach Anlaß zu Sondermeldungen des OKW waren. Die wendige Führung der 9. PzDiv und ihre in die Tiefe der feindlichen Abwehr gerichtete Stoßkraft hatten sich auf ihrem 4. Kriegsschauplatz erneut bestätigt und ihre Überlegenheit in allen Lagen sichtbar gemacht.“ Junge, weiß Du was das bedeutet? Wir haben die Generation Deiner Großväter zu Hunderttausenden in den Tod und die Gefangenschaft geschickt – ohne Pardon. Wir haben die anfänglichen Signale der ukrainischen Bevölkerung, uns als Befreier zu begrüßen, konsequent ignoriert. Wir haben ihre Dörfer geplündert und ihre Städte in Schutt und Asche gelegt – aber nicht nur mit Terror aus der Luft – wie Ihr –, sondern mit der tiefen Überzeugung, Deutschland und Europa vor dem Bolschewismus zu bewahren. Eure Überzeugungen hängen in der Luft – Ihr armen naiven Jungs; lediglich Euer Führer sehnt sich nach den Zeiten der sowjetischen Hegemonie zurück, ein armer Irrer, der ins falsche Jahrhundert gefallen ist.
Jurij: Du hast gut reden, liegst hier seit 80 Jahren herum, schaust Dir die Läufte der Weltgeschichte an und kannst Dich besinnen. Und Du hast ja recht: Die meisten von uns sind vollkommen naiv und unvorbereitet in diesen Krieg geschickt worden. Die Ukrainer sind unser Brudervolk; viele von denen sprechen russisch, haben Verwandte und Freunde in Russland. Den meisten von uns fehlt jegliche Überzeugung, jegliche Motivation gegen die Krieg zu führen und auf die zu schießen. Mein Führer – ich kann es ja jetzt ohne Angst haben zu müssen bekennen: Dieser kranke Despot, der Wahrheit zu Fake-News umdeutet und uns seine Fake-News als Wahrheit verkauft, hat uns verraten. Ihm ist es scheißegal, wie viele von uns sterben; die Mütter und Witwen, die Familien, die unseren Tod beklagen, sind ihm gleichgültig. Der Zorn meiner Mutter und der Zorn aller Mütter mögen ihn strafen. Er soll keine ruhige Nacht und keinen unbeschwerten Tag mehr haben. Er hat seine Seele dem Teufel verkauft.
Franz: Ja, mein Kleiner, so kann das nichts werden. In den 80 Jahren in fremder Erde – dort, wo Ihr heute wie Kriegsverbrecher wütet – habe ich begriffen, was die Voraussetzung dafür ist, was Hitler anzetteln konnte und was Putin anstrebt: Willst Du Erfolg haben mit Deiner Mission, dann reicht es nicht, dass diese Mission im Kopf des Führers verankert ist. Sie muss in die Köpfe, in die Seelen, in die Herzen der Kämpfer implantiert werden, die seine Visionen in Taten umsetzen. Das ist alles halbherzig und ohne Aussicht auf Erfolg, was Ihr da versucht. Die radikale, unerbittliche Trennung der Welt in Freund und Feind, die muss jegliche Empathie, jegliche Empfindlichkeit für das legitime Recht der anderen auslöschen. Rücksichtslos und gnadenlos musst Du Deine Mission verfolgen. Heute weiß man, dass wir – die Deutsche Wehrmacht – das größte Verbrechen auf uns genommen haben: den Massenmord an der Generation Deiner Großväter. Von den rund fünfeinhalb Millionen Rotarmisten, die wir gefangengenommen haben, sind über drei Millionen umgekommen. Wir haben die Gefangenen ihrem Schicksal überlassen und keine Vorsorge für ihre Ernährung getroffen. Wir wussten, dass wir gegen eine „feindliche Rasse“ und „Kulturträger minderer Art“ kämpften. Uns hat man ein „gesundes Gefühl des Hasses“ eingeimpft. Bei vielen hat dies jeglicher „Gefühlsduselei und Gnade“ den Boden entzogen. Was Ihr erreicht, ist lediglich, dass die Ukrainer beginnen Euch zu hassen. Zu Recht: Ihr hantiert wie wir, wie die Berserker – als Kriegsverbrecher; nur ohne die notwendige Überzeugung und ohne den notwendigen Habitus. Du tust mir leid, kleiner Jurij!
Jurij: Ja, Du hast gut reden, alter Mann. Natürlich haben wir in der Schule gelernt, dass Ihr als Vertreter der arischen Rasse Euch als Herrenmenschen verstanden habt. Ich wäre gerne nächsten Monat - am 9. Mai - bei der alljährlichen Siegesparade dabei gewesen. Da feiern wir nämlich, dass Hochmut vor dem Fall kommt. Moskau habt Ihr nur durch Eure Fernstecher gesehen. Unsere Großväter haben die russischer Flagge auf dem Brandenburger Tor und dem Reichstag gehisst. Ja, ich wäre gerne zurückgekehrt zu meiner Julika. Sie ist schwanger, und mein Sohn wird seinen Vater nun nicht kennenlernen. Und ich darf ihn nicht in die Arme schließen. Verdammt sei der Krieg und alle Kriegstreiber. Was haben mir Vladimir und Vitali angetan. Nichts!!! Du verdammter Kriegstreiber. Ohne Not hast Du uns geopfert. Mehr als wir nun je erreichen können, hätten wir durch harte Verhandlungen für uns herausgeholt. Ihr Deutschen habt Euch rehabilitiert. Mein Sohn wird noch büßen für das, was wir den Ukrainerinnen und Ukrainern antun.
Franz: Nein, Jurij - Du hast nicht das Recht mich einen alten Mann zu nennen. Ich war eben einmal sechs Jahre älter als Du, als ich - genauso wie Du - den Höchstpreis entrichtet habe. Meine beiden Söhne habe ich noch in meinen Armen gehalten, und auch meine Tochter durfte ich ein einziges Mal sehen und in meinen Armen wiegen. Wir haben einen verbrecherischen Krieg geführt. Und bei Gott möchte ich heute schwören, dass ich mein Leben anders geführt hätte, hätte ich den Weitblick und den Rückblick von heute gehabt. Meine Kinder haben es besser gemacht. Ich weiß, dass ich zu Hause - im Herrgottswinkel - einen Ehrenplatz hatte und dass meine Frau und meine Söhne mir ein liebevolles Andenken bewahrt haben. Beide haben einen anderen Weg eingeschlagen. Aber auch sie haben sich ihre Zeit nicht ausgesucht. Dass der eine eine respektable Karriere bei der bayrischen Polizei gemacht hat und als Sozialdemokrat dritter Bürgermeister seiner Heimatstadt geworden ist, zeigt immerhin, dass Blut nur die eine Sache ist. Haltung und (demokratische) Überzeugungen verdanken sich in den meisten Fällen dem Zeitgeist; in den wenigsten Fällen sind sie ein persönliches Verdienst. Die Mitglieder der Weißen Rose haben wir seinerzeit verachtet. Der andere hat als Werkzeugmacher eine ordentliche Ausbildung und einen respektablen Broterwerb vorzuweisen. Auch meine Tochter - zweitältestes meiner Kinder - hat sich im Leben bewährt und knüpft nicht im Entferntesten an meine politische Verirrung an. All das wird noch viel deutlicher, wenn ich auf meine Enkelkinder und Urenkel schaue. Auch wenn ich meine Gene in ihnen verankert habe, so haben sie mit meinen politischen Verirrungen nicht das Geringste gemein. Das ganze Gegenteil ist der Fall. Also mein kleiner Jurij - verzeih diese Anrede von einem nur wenige Jahre älteren -, Du bist nicht Putin und Dein Sohn wird es in eigenen Händen haben, welchen Weg er geht. Der Genosse Putin wird dann lange Vergangenheit sein, und es wird an Euch Russen sein, ihn als Kriegsverbrecher in Euren Schulbüchern und Erzählungen zu erinnern. Eine Horde Idioten - so wie ich selbst einer war, in meiner Jugend -, die gibt es auch heute anscheinend noch in Deutschland. Aber meine Kinder und Kindeskinder verbieten ihnen, selbst mich für Ihre abartigen und widerwärtigen politischen Phantasien zu reklamieren. Ich hoffe, dies kann Dir ein kleiner Trost sein.
Jurij: Trost kann keiner sein für mich in dieser Welt. Ich gestehe, dass ich Dein Schicksal - ganz im Gegenteil zu meinem eigenen - nicht bedaure. Du hast - wie Du selbst sagst - in voller Überzeugung gehandelt, auch wenn Du Dir gewiss die Zeit nicht ausgesucht hast. Ich hingegen bin von vorne herein betrogen worden. Es wird mir speiübel, wenn ich daran denke, dass Putin und die ihn umgebende Oligarchenclique uns nicht nur um unser Leben bringen, sondern das russische Volk um seinen Reichtum und seine Ehre. Gott möge darauf achten, dass mein Sohn erfährt, was mit seinem Vater geschehen ist; mit seinem Vater, den man ausgeschickt hat, auf Brüder zu schießen. Gott sei mir und Jewgenij gnädig.
Franz: Leider sind wir beide den Hetzreden unserer Führer erlegen, ob nun willentlich oder nicht. Über Moskau - habe ich gehört - soll das erste Flugblatt der Weißen Rose regnen. Sie meinten mich, genauso wie sie Dich meinen. Unser Blut ist Zeugnis für die Hybris der wahren Untermenschen. Das Flugblatt endet mit den Sätzen:
"Daher muss jeder einzelne seiner Verantwortung als Mitglied der christlichen und abendländischen Kultur bewusst in dieser letzten Stunde sich wehren, soviel er kann, arbeiten wider die Geissel der Menschenheit, wider den Faschismus und jedes ihm ähnliche System des absoluten Staates. Leistet passiven Widerstand - Widerstand -, wo immer Ihr auch seid, verhindert das Weiterlaufen dieser atheistischen Kriegsmaschine, ehe es zu spät ist, ehe die letzten Städte ein Trümmerhaufen sind, und ehe die letzte Jugend des Volkes irgendwo für die Hybris eines Untermenschen verblutet ist.
Vergeßt nicht, daß ein jedes Volk diejenige Regierung verdient, die es erträgt!"
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