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Heinrich Böll und Joachim Meyerhoff: Provinzialismus und Regionalismus als Hort bodenständigen Erzählens

Einem der intimsten und leidenschaftlichsten Kenner des Werks Heinrich Bölls zugedacht

In der dritten, 1972 erschienen Auflage eines Sammelbandes mit dem Titel: Der Schriftsteller Heinrich Böll (erstmals 1959 bei Kiepenheuer & Witsch) findet sich bei Karl Korn: Heinrich Bölls Beschreibung einer Epoche folgende Anmerkung: 

"Böll hat vor Jahren nicht ohne Ironie einer Art Regionalismus oder Provinzialismus der erzählenden Literatur das Wort geredet. Solches bezeichnet vordergründig bei Böll allemal die alte römische, die katholische und die moderne industrielle Metropole am Rhein, allenfalls noch die Rübenäcker der Kölner Bucht und die Eifel als Vorland."

Bei Joachim Meyerhoff (Jg. 1967): Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war (auch bei Kiepenheuer & Witsch - 41. Auflage 2020) bildet nunmehr die Stadt Schleswig - jeweils auf halbem Weg zwischen Flensburg und Rendsburg - die untrennbare Aura zu seinen kindheits- und jugendbezogenen Erzählungen: "Von Schleswig nach Kiel sind es circa sechzig Kilometer. Der nordeutsche Winter ist trist. Bis Mittag wird es kaum richtig hell und ab vier schon wieder stockdunkel." Im Kern ist es in der Tat jene Atmosphäre der Tristesse, in die Joachim Meyerhoff - Josse, wie ihn sein Vater liebevoll nennt - seine skurillen, humoresken Geschichten implementiert.

Ich möchte heute Morgen nicht näher auf diese skurillen Geschichten eingehen, deren Unterhaltungswert durch die Schreibe Joachim Meyerhoffs garantiert und geadelt wird. Dass sich aber Meyerhoffs Unterhaltungskunst eben nicht nur in Skurillem und Amüsantem erschöpft, haben beredtere Kritiker als ich sattsam attestiert. Ja, "Meyerhoffs Roman ist ein wunderbares Vaterbuch, zärtlich, komisch und am Ende untröstlich traurig." (FAZ) Auch ZEIT online möchte ich zustimmen: "Ein mitreißender, bewegender, lebenskluger und romantischer Roman." Und meinetwegen auch dem SPIEGEL: "Dass Meyerhoff neben komischen und tragischen auch [...] traurige Geschichten zu erzählen hat, zeigt, dass es ihm nicht nur um Effekt, sondern auch um Wahrhaftigkeit geht."

Nur soviel, bevor ich - wiederum - eine Seite O-Ton hier anbiete - um neugierig zu machen, um Besinnung anzuregen, um fragend vor Fragen zu stehen; um Antworten zu finden, die uns ein Stück weit über die Sümpfe der alltäglichen Niederungen hinweg tragen: Selten hat sich jemand so radikal und schonungslos ausgesetzt, wie Joachim Meyerhoff in seinen Büchern. Ohne dabei auch nur in Ansätzen scham-, würde- oder respektlos zu erscheinen, dekonstruiert Meyerhoff - ähnlich wie Heinrich Böll -, das, was wir Familie nennen. Er gibt auf seine Weise eine Antwort auf die Frage: Was ist eine Familie und was macht sie besonders? Und all das, um am Ende - wie Monika Betzler und Jörg Löschke - auf seine Weise zu sagen:

"Familie ist ein sozialer Verband, der denjenigen, die Mitglied dieses Verbands sind, aus ihrer erstpersonalen Perspektive praktische Gründe (oder Pflichten) gibt, sich um die Familie und ihre Mitglieder um ihrer selbst willen zu sorgen und mehr zu tun als für Fremde oder Mitglieder anderer Gruppen.“

Es erscheint mehr als delikat und skurill, wenn Joachim Meyerhoff - gemeinsam mit seinem Bruder - nach dem Tod des Vaters das Sinnbild des notorischen Fremd- und Linksgehers allumfassend und schonungslos entdeckt und enttarnt, wenn sie gemeinsam die bis zum Ableben des Vaters unentdeckte Zweitwohnung in Kiel auflösen - in einem Akt der liebevollen Distanzierung: "Dann stand mein Bruder plötzlich auf und fing einfach an zu tanzen. Ich sah ihm dabei zu, und dann tanzte ich auch. Wir tanzten beide in dieser Wohnung, und aus dem Kieler Hafen lief eine riesige Fähre aus, festlich beleuchtet."

Der Abschied ist in der Tat ein brutal-schmerzhafter, ein brutal-enthüllener, ein zärtlich-liebevoller; kaum zu fassen und zu begreifen in seinen paradoxen und widersprüchlichen Facetten (so mit Blick auf die späte Versöhnung der Eltern). Es lohnt und es bleibt alternativlos Joachim Meyerhoffs - auch sprachlich - furiose Rekonstruktion einer furchtbaren Familie zu lesen. Wer ist jener Jochachim - Josse - Meyerhoff, der sich auszieht und sich zu seinem toten Vater ins Bett legt (siehe Seite 343)? Es hilft und heilt da in der Tat nur lesen. Die conclusio aus Meyerhoffs Irrungen und Wirrungen steht auf Seite 348. Ich gebe sie hier ohne Kürzung wieder:

"Es kommt mir mehr und mehr so vor, als wäre die Vergangenheit ein noch viel ungesicherterer, weniger verbürgter Ort als die Zukunft. Das, was hinter mir liegt, soll das Gesicherte sein, das Abgeschlossene, das Gewesene, das nur darauf wartet, erzählt zu werden, und das vor mir soll die sogenannte zu gestaltende Zukunft sein?
Was, wenn ich auch meine Vergangenheit gestalten muss? Was, wenn nur aus einer durchdrungenen, gestalteten Vergangenheit so etwas wie eine offene Zukunft entstehen kann? Es ist ein bedrückender Gedanke, aber hin und wieder kommt mir das Leben, das noch vor mir liegt, wie eine für mich maßgeschneiderte, unumgänglich zu absolvierende Wegstrecke vor, eine Linie, auf der ich vorsichtig bis zum Ende balancieren werde.
Ja, daran glaube ich: Erst wenn ich es geschafft haben werde, all diese abgelegten Erinnerungspäckchen wieder aufzuschnüren und auszupacken, erst wenn ich mich traue, die scheinbare Verlässlichkeit der Vergangenheit aufzugeben, sie als Chaos anzunehmen, sie als Chaos zu gestalten, sie auszuschmücken, sie zu feiern, erst wenn alle meine Toten wieder lebendig werden, vertraut, aber eben auch viel fremder, eigenständiger, als ich mir das jemals eingestanden habe, erst dann werde ich Entscheidungen treffen können, wird die Zukunft ihr ewiges Versprechen einlösen und ungewiss sein, wird sich die Linie zu einer Fläche weiten
."

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund