Was ist eine Familie und was macht sie besonders? - Teil II (hier Teil I)
Monika Betzler und Jörg Löschke versuchen die Frage, was eine Familie ist und was sie besonders macht, innerhalb des Kompendiums: Philosophie der Kindheit (herausgegeben von Johannes Drerup und Gottfried Schweiger, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Berlin 2023) auf knapp 30 Seiten (S. 235-263) zu beantworten.
Gegen Ende findet sich folgende conclusio:
„Wer den Begriff der Familie aufrichtig und kompetent anwendet, der versteht, dass der Gebrauch des Begriffs immer auch Implikationen für die Frage hat, wie man aus der Binnenperspektive der Familie mit anderen Familienmitgliedern umzugehen hat und wie man aus der Außenperspektive die Familie schützt und durch etwaige Maßnahmen als Verband befördert. Im Gegensatz zu dünnen Begriffen enthalten dicke Begriffe jedoch auch Beschreibungen, die informative Auskunft darüber geben, warum wir einen Grund oder eine Pflicht haben.“
Der Gebrauch des Begriffs Familie beinhaltet grundsätzlich intentional-programmatisch-ethische Aspekte, ohne dass man dies selbst alltäglich jederzeit bedenkt oder reflektiert. In einem operational-prozessualen Sinne kann es daher sehr viel hilf- und aufschlussreicher sein, wenn man auf die unmittelbare Praxis schaut. Die nachstehend noch einmal aufgegriffenen Unterscheidungen von Betzler/Löschke versetzen uns denn auch durchaus in die Lage mit Hilfe eines plausiblen Begriffsrasters unsere Wahrnehmung des uns umgebenden und begleitenden Erfahrungs- und Gestaltungsraums familialer Beziehungen zu schärfen.
Auch wenn der moderne Mensch die Neigung hat, sich nicht mehr unmittelbar verpflichten zu lassen bzw. sich irgendetwas oder irgendwem verpflichtet zu fühlen, findet er sich häufig in Kontexten wieder, die ihm in umgekehrter Weise spiegeln, dass andere Menschen im familialen Kontext durchaus Gründe sehen – oder gar Pflichten -, die resultieren aus gelebter verlässlicher Bindung, aus gütertheoretischen Auffassungen, die nur innerhalb einer Familie unmittelbaren Sinn ergeben. Betzler/Löschke fassen dies in der oben zitierten conclusio zusammen.
Im Ursprungsbeitrag habe ich ein Fallbeispiel vorgestellt, das im Sinne der geschilderten Fakten und Umstände durchaus spezifische Merkmale aufweist, das aber von den Grundmustern und Grundprinzipien her in Familien tausendfach vorkommt. Gerade deshalb macht es ja Sinn Betzler/Löschke zu folgen und aus all den unterschiedlichen Fallbeispielen, die sich erheben und schildern lassen, generalisierende Schlussfolgerungen zu ziehen. So stoßen wir auf verschiedene Aspekte, die im Folgenden noch einmal geschärft werden sollen:
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Verlässliche Bindung
Betzler/Löschke stellen fest:
„Verlässliche Beziehungen sind letztlich nichts anderes als die Anerkennung besonderer normativer Beziehungen, die spezielle Pflichten beinhalten.“ (S. 244)
Selbst, wo sich Menschen nicht verpflichten lassen, sind sie möglicherweise bereit, Familienbeziehungen als ein besonders robustes Gut zu betrachten. Und dies selbst dann noch, wie Betzler/Löschke betonen, wenn die Beziehungen nicht gerade gut verliefen und Beziehungsmitglieder sogar wenig Interesse signalisierten, sie zu pflegen. Warum also sind Familienmitglieder daran interessiert, dieses Gut selbst dann noch zu erhalten und zu realisieren? (Vgl. S. 244f.)
Mit Blick auf konflikthafte Familiendynamiken können hier viele intervenierende Variablen eine Rolle spielen: Man kann in der Vergangenheit Vieles verkehrt gemacht haben. Man hat möglicherweise Beziehungen innerhalb der Kernfamilie so sehr belastet und strapaziert, dass sich Familienmitglieder abwenden.
Andererseits erweise sich insbesondere in Krisensituationen, dass die Bindungen zu den nächsten Familienangehörigen dennoch verlässlich sind. Es müsse viel geschehen, damit die Bindung zu den eigenen Eltern oder Kindern nicht mehr wertgeschätzt werde, betonen Betzler/Löschke.
Ein Indikator dafür, dass Verlässlichkeit dennoch wertgeschätzt wird, lässt sich daran ablesen, ob beispielsweise in Not geratene Familienmitglieder ihrerseits trotz Vorbehalten Hilfe annehmen – sogar Hilfe von Familienmitgliedern, die man ansonsten sehr kritisch sieht, gar ablehnt. Immerhin akzeptiert man in diesem Falle zumindest aus Pflichtempfinden oder sonstigen Gründen erfolgende Unterstützungsleistungen.
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Gütertheoretische Aspekte
Sehr viel diffuser und auch komplexer erscheint die Bemühung um gütertheoretische Aspekte. Hier geht es ja nach Betzler/Löschke immerhin um Beziehungsgüter, an denen die Familie eine gemeinsame Identität ausbildet. Sie sprechen von einem intergenerationellen Narrativ, das jedem einzelnen Familienmitglied ermögliche, sich selbst im Lichte eines solchen Narrativs zu verstehen. Als Beispiel nennen Betzler/Löschke Weihnachten. Dieses Gut könne nicht externalisiert und außerhalb der Eltern-Kind-Beziehung realisiert werden – eine Person könne keine externen Dienstleister engagieren, um dieses Gut an ihrer Stelle mit den eigenen Kindern zu realisieren. Vielmehr sei es ein Gut, das auf der Basis der gemeinsam geteilten langjährigen Geschichte der Eltern-Kind-Beziehung, in der schon viele Weihnachtsfeste zusammen gefeiert wurden, nur von den jeweiligen erwachsenen Kindern mit ihren Eltern realisiert werden könne.
Zum Exempel: Ist es gewiss belastend und schmerzhaft, irgendwann von Weihnachten als einem gemeinsamen Narrativ abzusehen – meinetwegen die Eltern am Heiligen Abend auszuschließen – so mag man sich doch zumindest die Frage stellen, wie die eigenen Kinder eine solche Haltung sehen und bewerten?
Denn die belastenden Auswirkungen familiärer Zerwürfnisse und Konflikte offenbaren sich vor allem im intergenerationellen Kontext. Zumal am Ende eines Lebens empfiehlt beispielsweise Wolfgang Schmidbauer der mittleren Generation, zumindest zu überdenken, ob es nicht an der Zeit sei, die Bereitschaft zu einem Vergeben bzw. Verzeihen mit Blick auf frühere Verfehlungen und Versäumnisse zu erwägen – Belastungen und Kränkungen, mit denen man im Übrigen auch die eigenen Kinder konfrontiert, wenn es an der Bereitschaft zur Versöhnung mangelt.
Gleichwohl bleibt in einer so verfahrenen Ausgangslage – folgt man Beztler/Löschke – zu bedenken, dass Familien andererseits nach wie vor offenkundig die besten Arrangements darstellen, um Kinder großzuziehen. Schließlich hat man ja selbst eine Familie gegründet und Kinder in die Welt gesetzt und erzogen. Intimität und Familienerlebnisse garantieren unter anderem, dass Kinder stabile Bezugspersonen haben. Für ein gelingendes Aufwachsen bilden stabile Bezugspersonen eine unverzichtbare Grundlage. (Vgl. S. 249) Die eigenen Kinder mag man da sicherlich nicht ohne weiteres fortgesetzten Loyalitätskonflikten aussetzen (siehe hierzu die kürzlich in ZEIT und SPIEGEL dazu angebotenen Beiträge).
Sehen wir also Familie durch die Brille verlässlicher Bindung und gütertheoretisch unterfüttert, gelangen wir zu einer Betrachtungsweise, die zur (Rück-)Besinnung ermuntert. Denn wer gefährdet mutwillig – selbst wenn er die Beziehung zu seinen eigenen Eltern problematisch sehen mag – das Wohlergehen der eigenen Kinder?
Betzler/Löschke geben zu bedenken:
„Eltern verstehen sich selbst besser, indem sie sich selbst bei der Erziehung ihrer Kinder beobachten, und Kinder verstehen viele ihrer Eigenarten, indem sie ihre Eltern beobachten. Und eine reziproke und besondere Sorge um das Wohlergehen des anderen ist ebenfalls ein wichtiges Gut der Eltern-Kind-Beziehung. Eltern haben oft sogar eine größere Sorge um das Wohlergehen ihrer Kinder als um ihr eigenes Wohlergehen, und Kinder haben oft zumindest im Erwachsenenalter eine ähnliche Sorge um das Wohlergehen ihrer Eltern.“ ( S.250f.)
In Sonderheit der letzte Aspekt, der die Sorge in den Vordergrund stellt, möge den/die ein oder andere(n) noch einmal dazu ermuntern, hinter den offenkundigen Versäumnissen und Fehlleistungen der Eltern das starke Motiv der Sorge zu erkennen. Das Wohlergehen ihrer Kinder war möglicherweise immer ein Fokus des Handelns, auch wenn vieles Andere erst im hohen Alter zu einem Ausgleich führen mag. Vor geraumer Zeit hat im Übrigen Barbara Supp in ihrem Beitrag Happy Birthday Boomer – ähnlich wie Wolfgang Schmidbauer – die besondere Rolle der Boomer als (Ver-)Mittlergeneration hervorgehoben: Solide ausgebildet, besser informiert und geschult als ihre Elterngeneration, vielfach auch überlegen in der Einschätzung und Bewertung sozialer Prozesse und Dynamiken – nicht zuletzt seien und wären es die Boomer, die gesellschaftlichen Wandel im Sinne von gerechteren und humaneren Verhältnissen beförderten.
Gregory Bateson ist wohl der Aphorismus zuzuschreiben, gesund sei, wer sich frei in seiner Familie bewegen könne. Für Eltern und Großeltern mag dies mit Blick auf ihre Kinder der augenscheinlichste Indikator für Gesundheit in ihrer umfassendsten Vorstellung sein: Dass nämlich gesund jemand ist, dem man im basso continuo – bei allen Hochs und Tiefs – im Großen und Ganzen ein bio-psycho-soziales Wohlbefinden attestieren könne (das sich im Übrigen auch in einem entsprechenden Selbstbild spiegle).
Zuletzt verdichten Betzler/Löschke den Familienbegriff als sogenannten dicken Begriff und versuchen eine Antwort darauf, was darunter zu verstehen ist:
„Alle (vorgestellten) Ansätze teilen trotz und nicht zuletzt auch wegen ihrer unterschiedlichen praktischen Interessen und methodischen Strategien das Merkmal, den Begriff der Familie in einer normativen bzw. evaluativen Weise zu gebrauchen. Demzufolge kann man gar nicht verstehen, was eine Familie ist, ohne gleichzeitig auch zu verstehen, was die Familie besonders macht: Familie ist ein sozialer Verband, der denjenigen, die Mitglied dieses Verbands sind, aus ihrer erstpersonalen Perspektive praktische Gründe (oder Pflichten) gibt, sich um die Familie und ihre Mitglieder um ihrer selbst willen zu sorgen und mehr zu tun als für Fremde oder Mitglieder anderer Gruppen.“ (S. 255)
Ein dicker Begriff von Familie, erlaube die skizzierten unterschiedlichen Ansätze in einer produktiven Weise innerhalb eines vereinheitlichenden Rahmens zu fassen und neu in einem weiteren begriffsanalytischen Rahmen zu situieren. (Dicke Begriffe – so die Autoren – seien dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen deskriptive und normative Komponenten verbunden seien.) So kommen wir also schließlich zu einer Begriffseingrenzung, mit der ich diese nachgetragene Würdigung der Bemühungen von Betzler/Löschke eröffnet habe:
„Wer den Begriff der Familie aufrichtig und kompetent anwendet, der versteht, dass der Gebrauch des Begriffs immer auch Implikationen für die Frage hat, wie man aus der Binnenperspektive der Familie mit anderen Familienmitgliedern umzugehen hat und wie man aus der Außenperspektive die Familie schützt und durch etwaige Maßnahmen als Verband befördert. Im Gegensatz zu dünnen Begriffen enthalten dicke Begriffe jedoch auch Beschreibungen, die informative Auskunft darüber geben, warum wir einen Grund oder eine Pflicht haben.“ (S. 258)
Überblicke ich die Geschichte meiner eigenen Herkunftsfamilie, dann dominiert – jenseits einer begründungspflichtigen Argumentation – die Sorge ihrer Mitglieder um ihre Mitglieder um ihrer selbst willen. An einer Vielzahl von konkreten Ereignissen und Handlungen würde ein Beoabachter belegen, dass alle Familienmitglieder stets unter Beweis gestellt haben, dass sie bereit waren für die Mitglieder ihrer Familie mehr zu tun als für Fremde oder Mitglieder anderer Gruppen. Und dabei ist nie die Frage gestellt worden, wer wem wofür möglicherweise zu danken hat!
Es verhält sich wohl vielmehr so, dass jenseits einer expliziten Haltung des Dankes, die tätige Sorge um- und füreinander einen Rahmen schafft, in dem sich Schuldgefühle, Fürsorge, Dank und nachgetragene Liebe <Peter Härtling: Wie wird man der, der man war (der, den manche ihr
armseliges Leben lang bleiben)?>in einer diffusen Gemengelage vermischen. Darin und daraus einen Weg zu finden, stellt eine der vornehmlichsten Herausforderungen für Eltern und Großeltern dar. Häufig sind es aber die Enkelkinder, die im besten Fall durch ihre Unbefangenheit und Unvoreingenommenheit die ersten Brücken über vermintes Gelände bauen.