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Ijoma Mangold: „Totalitäres Biedermeier“ – „Uns fehlt die Tugend der Demut“ (Ein Gespräch mit dem Philosophen Michael Sandel, geführt von Elisabeth von Thadden) und Martina Kix erklärt, wie aus „Layla“ ein „Protestsong“ wurde (alles in der ZEIT vom 27. Juli – 32/23, Seiten 46, 43 und 41)

 

N i m b y - Not in my back-yard oder: Sankt Florian wird uns schon retten*

Wir saßen im Café
und tranken klares Wasser.
Wir fingen an zu grübeln und hatten nichts im Tee.
Zuletzt entstand der Eindruck, ich sei ein Menschenhasser.

Es waren nur drei schlichte Fragen,
und doch ging es um Kopf und Kragen:
Kommt der Strom nur aus der Dose und das Wasser aus dem Hahn?
Und die Freiheit zu Bleiben und zu Gehn, ist nicht nur leerer Wahn?

Da rief von Malle Pinkwarts Omma* übers warme Meer:  *(im Link Zeitleiste: 35:48 ansteuern)
Freitag, Samstag ist hier alles dicht - kommt doch alle her.
Layla ist schon da und viele ihrer Freier,
hohl im Kopf, doch in der Hose dicke Eier.

Ich kann nicht, ruft Herr Schultz: Hab Land Sickness und fliege nach Korea.
Da ruft die Eva, die von Redecker: Bleibt doch alle hier!
Und du, Herr Schultz, denk an Medea,
bevor die (Groß)Mutter wird zum Tier!

Der Welt, in der, von der wir leben, sind wir egal.
Gleichwohl geraten Fluten, Dürren uns zur Mahnung,
und die Vergnügen werden schal.
Im Ahrtal hat man davon mehr als eine Ahnung.

Und doch gehn uns die Kleber auf den Sack,
bald gibt es Feuer unter Pflegebetten,
N i m b y - not in my back-yard - ruft das Pack,
Sankt Florian wird uns schon retten!

Eigentlich ist dies bereits Kommentar genug. Aber der Reihe nach:

Nimby ist vor etwa drei Wochen entstanden nach einem anregenden Gespräch mit meinem Freund Herbert und nach der Lektüre von Elisabeth von Thaddens Vorstellung Nikolaj Schultzens in der ZEIT (30/23 - Wie geht’s dem Ich?). Vergangene Woche dann die oben genannten Beiträge. Sehr spät – Ijoma Mangold mit seinem Verriss Eva von Redeckers. Es handelt sich um einen Totalverriss, der bereits im Titel Gestalt annimmt, wenn Mangold von totalitärem Bidermeier spricht. Ich habe keine Ahnung, wie der Vermögensstand und der Phantombesitz Ijoma Mangolds sich darstellen – und es interessiert mich im Übrigen auch nicht. Aber wer in der ZEIT an herausragender Stelle schreibt, dem sollte doch zumindest eine Intelligenzverkörperung zu eigen sein, die es erlaubt über den Tellerrand bildungsbürgerlicher Attitüden hinauszuschauen und Kontextbedingungen zu gewärtigen, die immerhin – um es zurückhaltend auszudrücken - Anlass zur Besorgnis geben. Es beeindruckt über alle Maßen, wenn Ijoma Mangold in pseudoliberaler Haltung – gewissermaßen in freiheitskämpferischer Attitüde – feststellt, Kapitalismuskritik habe schon immer einen Hang zur naturromantischen Regression an den Tag gelegt. Ihm ist zu wünschen, dass er auch in zwanzig Jahren noch in der Lage ist – natürlich in vollklimatisierten Redaktionsräumen - darüber nachzudenken, ob über dem Buch von Eva von Redecker tatsächlich ein Hauch von totalitärem Biedermeier lag. Möge ihm dann die frische Nordseebrise weder nasse Füße verursachen noch der fünfundzwanzigste Dürresommer in Folge ihm nostalgische Regressionsphantasien und -sehnsüchte nach einer gemäßigten Klimazone ins Herz hauchen.

Vermutlich ist es nicht üblich, dass auch ein profilierter Literaturredakteur zur Kenntnis nimmt, was ansonsten noch in der von ihm bedienten ZEIT-Ausgabe zu lesen ist. Die letzte Bemerkung Michael Sandels im Gespräch mit Elisabeth von Thadden hätte ihm vielleicht zu denken gegeben:

„Uns fehlt die Tugend der Demut. Sie ist es, die uns zu mehr Offenheit erziehen kann, die uns die Zufälle des Lebens erkennen lässt, die uns hilft, in unserem Gemeinwesen wechselseitige Verpflichtungen wahrzunehmen, die Erfolgsethik der Gewinner zu überwinden und gegenüber anderen großzügig zu sein.“

Zumindest hätte sie Mangold die Gelegenheit eröffnet, darüber nachzudenken, dass – wie Sandel meint – die liberale Idee von Freiheit vielleicht nicht zwangsläufig bedeutet, zu bekommen, was man möchte – und das um jeden Preis. Er hätte den Begriff des Phantombesitzes in diesem Sinne angemessener einordnen können und zumindest Sandels Argument erwägen können, in dieser Gestalt handele sich um eine verarmte Idee, da sie sich auf Konsumbedürfnisse beschränke, „ohne zu ergründen, ob sie geeignet sind, ein gutes Leben und das Gemeinwohl zu stärken“.

Bleibefreiheit in Sinne Eva von Redeckers bedeutet in der Tat einen Paradigmenwechsel. Dieser Paradigmenwechsel erweist sich möglicherweise nicht nur in ökologischer Hinsicht als überlebensnotwendig. Wenn Mangold - und uns allen - nicht die Grundlagen für ein Leben in Freiheit um die Ohren fliegen sollen, dann gewinnt der Begriff des Phantombesitzes noch eine andere Färbung. Michael Sandel meint, wirtschaftliche Macht werde demokratisch kaum noch zur Rechenschaft gezogen:

„Die Ungleichheiten an Wohlstand, an öffentlicher Macht, aber auch an sozialer Wertschätzung sind so stark ausgeprägt, dass die Menschen sich nicht mehr als Bürger wahrnehmen, die ein gemeinsames Projekt verfolgen, über das sie miteinander öffentlich streiten. Sie nehmen sich nicht mehr als politisch handlungsfähig wahr.“ Und wählen dann AfD!

Ja, dann ist man möglicherweise auch bereit – oder auch dumm genug -, in der AfD tatsächlich einer Alternative für Deutschland zu sehen. All dies wird Robin Leutner wenig scheren. Es sei denn, seine Ballermann-Identität ist nur eine Facette im Spiel des „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“

Randbemerkung: Jemand wie ich – ein 71jähriger junger, alter Mann, der sein Leben gelebt hat – taugt nicht zum Moralapostel; Moral hat er allenfalls in ein Pflichtethos überführt, mit dem sich leben und sterben lässt. Und Jan Philipp Reemtsma mag man, wenn er von der unaufhebbaren Uninformiertheit der Mehrheit spricht, zurufen: Steig ab von deinem hohen Ross! Gleichwohl hat seine Perspektive etwas Bestechendes, liest man Martina Kix‘ Erkenntnisse darüber, "wie aus Layla ein Protestsong wurde“:

  • DJ Robin ist ein self-made-man. Layla hat ihn in die Champions-League der Ballermann-DJs katapultiert mit entsprechender Ausstrahlung auf’s Festland der restlichen 16 Bundesländer. Martina Kix protokolliert: "Robin Leutners Gage pro Auftritt liegt bei 7000 Euro. In einem normalen Monat hat er etwa zehn Auftritte von Brake bis Schüttorf und spielt mindestens einmal pro Woche auf Mallorca und Lloret de Mar, manchmal auch in Kroatien oder auch in der Schweiz. Im vergangenen Jahr sei er zwischen Mai und Dezember 192-mal aufgetreten, sagt er. >Ich bin kein Millionär, aber uns geht’s ganz gut damit.<“ (Ganz nebenbei bemerkt, ergeben 192 x 7000,- Euro immerhin 1.344.000 Euro – vor Steuern versteht sich, FJWR).
  • Robin Leutner - alias DJ Robin - führt uns vor Augen, wie eine von Michael Sandel gemachte Bemerkung ganz konkret zu verstehen ist. Wir sollten – so Sandel – nicht vergessen, „dass es biografische Zufälle und pures Glück gibt, die über Lebensläufe entscheiden“. (Diese Perspektive ist mir äußerst vertraut (:-) - Kurz vor Schluss I). Es gelte wahrzunehmen, „dass wir in Herkünfte, in Familien, in Nationen, in Infrastrukturen eingebettet sind, die unsere individuelle Handlungsfähigkeit erst ermöglichen und prägen. Ohne diese Einbettungen wären wir als Individuen nicht, was wir sind.“ Die Kurzbiografie Robin Leutners liest sich (wiedergegeben von Martina Kix) durchaus wie ein Tellerwäscher-Karriere – Ende offen: „>Ich bin mit Party-Schlagern groß geworden<, sagt er. Mit Songs wie Hey, wir wollen die Eisbären sehen oder dem Pur-Hitmix. Sein Vater Maik, Kanalarbeiter und DJ-Ötzi-Double, und seine Mutter Alexandra, Erzieherin, meldeten ihn gleich nach der Geburt im Faschingsverein an. >Ich war ein Vereinskind: Fußball, Handball, Faschingsprinz<, sagt Leutner in schwäbischem Singsang. Schon als Grundschüler habe er aufgelegt. >Ein Freund meiner Eltern war mein großes Vorbild. DJ Paule legte bei allen Geburtstagen auf<, sagt Leutner. Als der DJ an einem Herzinfarkt starb, wollte Leutner sein Werk fortsetzen. Er trug Zeitungen aus, um DJ Paules Witwe die Anlage abzukaufen. >Ich lieb es, die Leute zum Tanzen zu bringen.< Das glaubt man sofort, wenn man die Handy-Videos seiner alten Auftritte vor dem Layla-Hype auf Facebook anschaut.“ Und dann passiert Layla: „Als er den Song im März 2022 im Bierkönig am Ballermann das erste Mal spielte, passierte erst mal nichts. >Ich dachte, da lag ich wohl daneben. Das war’s dann<, sagt Leutner. Doch als er am nächsten Tag am DJ-Pult stand, skandierten schon Leute: >Wir wollen die Layla hören!< Er spielte den Song mehrmals in einer Stunde. >Alle sangen so laut mit, ich hörte die Musik gar nicht mehr<, sagt Leutner. Hinter der Bühne habe er dann geheult. >Ich wusste: Wir haben einen Hit<, sagt Leutner.“
  • Ein Lehrstück der Agenda-setting-Theorie: Die Währung heißt Aufmerksamkeit – Erst entsprechende Aufmerksamkeit generiert Kohle: „Zur deutschlandweiten Bekanntheit verhalf Layla nicht nur die legendäre Schinkenstraße, die Partymeile am Ballermann, sondern auch das Kiliani-Volksfest in Würzburg. Die Veranstalter verbannten Layla im Juli vergangenen Jahres von ihrer Playlist. Die Argumentation: In dem Lied werde der arabische Vorname Layla als Puffmama besungen. Somit sei der Text eine Diskriminierung, sagte ein Sprecher der Stadt damals. Ein Schützenverein in Düsseldorf schloss sich an. Plötzlich interessierten sich alle für die Moral eines Ballermann-Schlagers.“
  • Niveau lässt sich immer unterbieten: „>Den Text haben wir bei zwanzig Bierchen geschrieben<, sagt Leutner.“ Und im Übrigen ist alles doch ganz einfach und ganz schlicht: „>Layla reimt sich einfach auf ‚geiler‘, deshalb haben wir den Namen ausgewählt<, sagt Leutner. Nie wären sie auf den Gedanken gekommen, der Song könnte als sexistisch oder diskriminierend wahrgenommen werden. Er habe ihn sogar seiner Mutter vorgespielt, sagt Leutner. >Wir können den Vorwurf bis heute nicht nachvollziehen<.“ (sagt Leutner, hättest Du noch ergänzen müssen, Martina Kix).
  • Und dennoch: „Die gute Nachricht: Das ZDF hat ihn eingeladen, beim Mallorca-Fernsehgarten Die schlechte: Bumsbar, seinen neuen Song, darf er dort nicht spielen." Das ZDF zwischen Skylla und Charybdis.

Erklären muss uns jetzt Martina Kix noch, wie aus „Layla“ ein Protestsong wurde!

„Durch den Erfolg von Layla wurde die Schmuddelecke Party-Schlager plötzlich in den Mainstream gedrückt und mit einer neuen Gegenwart konfrontiert, die Cancel-Culture- und MeToo-Debatten führt. Weil sich der Ballermann dazu verhalten musste, wurde aus Layla ein Prostestsong, der Ballermann zu einer Protestbewegung gegen eine allzu textanalytische Wokeness. Layla diente als Freiheits-Chiffre derer, die nicht nur feiern, wie sie wollen, sondern die auch sonst nicht gerne auf etwas verzichten.“

Woke ist ein im afroamerikanischen Englisch in den 1930er Jahren entstandener Ausdruck, der ein „erwachtes“ Bewusstsein für mangelnde soziale Gerechtigkeit und Rassismus beschreibt (Wikipedia).

Wir lesen bei Martina Kix, dass jedes Jahr 2,4 Millionen Deutsche nach Mallorca fliegen – „viele nehmen die Hits, die dort in Dauerschleife laufen, wie Souvenirs mit nach Hause“. „Viele“, aber sicher lange nicht alle. Und wer sie nicht mit nach Hause nimmt, muss deshalb kein Spießer sein. Wer ist der Spießer? (Die nun folgenden Songzitate - in An- und Abführungszeichen - sind sämtlich dem Beitrag von Martina Kix entnommen; alles andere, jenseits von An- und Abführungszeichen, habe ich hinzugefügt):

„Der Zug, der Zug, der Zug hat keine Bremse
Döpp, döö-döö-döö-dööp
Döö-döö-döö-dööp“
und

„Anna-Lena kommt da, wo’s ihr gefällt“
und

„Lea, Lea, Lea im BH, die mach ich heute klar“

und ich sing:

„olé, olé, olé, dicke Titten“

(dazwischen gibt’s dann fette Fritten, FJWR(:-))

Und ich sing:

„Oral in den Kanal“,
„denn heute sind wir wieder bumsbar,
Geile Mädels, geile Jungs da.
Wir feiern heut‘ die ganze Nacht zusammen,
bis die Sonne wieder lacht und dann“ ?????

Dann gehn wir mit Ijoma auf die Straße
und singen frohen Muts:

„Wir wollen die Eisbären sehen“,
die kommen auch nach Malle -
in Grönland wird’s zu warm!

Und wer im Land bleibt
und sich redlich nährt,
der hat halt keine Eier,
der ist, der ist ein Biedermeier -
<pardon, ein Biedermann, ne Biederfrau>(:-)

 

Ijoma Mangold bekommt für seinen Versuch ein mangelhaft bis ungenügend. Er hat sich bemüht, aber es reicht nicht aus. Elisabeth von Thadden ist meine Heldin (schon immer). Und Martina Kix bekommt meine Anerkennung für einen Beitrag, den sie recht souverän zwischen Skylla und Charybdis hindurchgesteuert hat.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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