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Nikolaj Schultz: Land Sickness - Landkrankheit

(eine deutsche Übersetzung befindet sich in Vorbereitung)

Tagebucheintrag vom 8. August 2000 (aus: FJWR, Komm in den totgesagten Park und schau, Seite 101f.)

Vielleicht lege ich mit diesem Selbstbekenntnis die Grundlage für die wechselseitige Anerkennung eines ausgeprägten Eigensinns:

Heute ist mein zweiter Arbeitstag nach dem Sommerurlaub, und ich sitze morgens um 8.00 Uhr in meinem Büro. Das letzte 1 ½ Jahr auf dem Oberwerth. 2001/02 werden wir nach Metternich umziehen, fünf Minuten vor meiner Haustüre. Wehmut stellt sich ein, hier in der Stille in der kleinen Zwischenwelt nach dem Sommersemester. Die Uni ist ausgestorben. Im aufbrechenden Zeitalter des virtuellen Campus wirken die Scheingefechte um die „Präsenz-Uni“ gleichermaßen irritierend wie geisterhaft. Am präsentesten, körperlich gegenwärtig sind in dieser Uni diejenigen, die am ehesten die virtuelle Zukunftsvision verkörpern, die Informatiker. Sie können sich noch nicht ganz lösen – jedenfalls die materiellen Underdogs – von den Fesseln der Hardware. Aber diejenigen, deren körperliche und geistige Verfassung für Fesselungen solcher Art einfach keine viablen und passenden Schnittstellen aufweisen, genießen weiterhin die ungemeinen Vorzüge eines Hochschullehrer-Daseins. Die Gänge, die Zwischenräume der Uni sind menschenleer. Es herrscht Ruhe. Ich komme mir dabei ungemein privilegiert vor. Mein Zimmer hier im Nordflügel des A-Gebäudes, auf der Rheinaue des Oberwerths gelegen, ist ein Refugium – zumindest für diese kleine Zwischenwelt. Heute Nacht hat es geregnet. Ich sitze hier im Dachgeschoss bei geöffnetem Fenster, höre die Vögel zwitschern und das entfernte dumpfe Wummern der Rheinschiffe. Ein schwerer, satter Spätsommertag gewinnt langsam Konturen. Es ist bewölkt und auf eine Weise grau und matt, wie ich es mag. Die stille, regennasse, feuchte Atmosphäre stimuliert mich. Hier und jetzt kann ich deutlich fühlen, warum ich glaube ein „Nordmensch“ zu sein.

Die Sonne zu erahnen, sie auch zu spüren, aber immer die Aussicht zu haben, im mitteleuropäischen britisch-kühlnassen Regenklima tief durchatmen zu können, lässt mich leben und gibt mir innere Ruhe. Die beiden Fensterflügel, die erst in Brusthöhe beginnen, lassen nur einen Blick auf den grau verhangenen Himmel und die Kronen der Kastanienbäume und Akazien zu. Die Fensterflügel sind durch Sprossen in jeweils sechs Quadrate eingeteilt. Das untere rechte Quadrat des rechten Fensters lässt einen Blick zu. Die Baumkronen heben sich in unterschiedlichen räumlichen Distanzen vom Grau des Himmels ab. Geographisch und meteorologisch bekenne ich mich an dieser Stelle zum „Nordmenschen“ – vielleicht lege ich mit diesem Selbstbekenntnis die Grundlage für die wechselseitige Anerkennung eines ausgeprägten Eigensinns. Wenn Süd- und Nordmenschen ihre Eigenarten pflegen, kann daraus eine attraktive „Melange“ unterschiedlichster Anregungen entstehen!?

Ich leide also unter Landkrankheit - Land Sickness. Seit mehr als zwei Jahrzehnten untergräbt der Klimawandel mein Lebensgefühl - möglicherweise mit nachhaltigen Folgen für mein bio-psycho-soziales Wohlbefinden (so definiert die WHO im Übrigen ihre Vorstellung von allumfassender Gesundheit). Elisabeth von Thadden geht in der aktuellen ZEIT (30/23, Seite 43) der Frage nach ob sich "eine angemessene und bewegende Sprache für das Unbehagen finden lässt, das der Klimawandel für uns moderne Menschen mit sich bringt". Dazu stellt sie uns Nikolaj Schultz vor, einen jungen Dänen mit dem angeblichen Nimbus der "Nachwuchsstar der Soziologie" zu sein. Schultz, der in Paris (bzw. in Ahus Dänemark) lebt, wohin ihn Bruno Latour gelockt hat, befindet sich im zarten Alter von 33 Jahren und hat sein erstes Buch 2022 mit seinem akademischen Lehrer Bruno Latour veröffentlicht (Zur Entstehung einer ökologischen Klasse - Suhrkamp).

Wie fühlt sich die Krankheit an, fragt Elisabeth von Thadden? Sie liege in der Luft, die wir atmen, und sie stecke im Boden, auf dem wir stehen.: "Sie geht also durch Mark und Bein, sie lässt uns danach suchen, wo sich noch leben und wohnen lässt" (spätestens hier müsste eigentlich der Querverweis auf Eva von Redeckers Bleibefreiheit erfolgen).

"Wenn das leibseelische Grundgefühl zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Nervosität war, so ist es heute die Landkrankheit: It never stops, sie ist permanent, sie steckt alles an. Die Wechselbeziehung zwischen dem verkörperten Ich und einer unheimlichen kollektiven Gegenwart der Erderwärmung ist die Conditio des spätmodernen Menschen. Landkrankheit verursacht einen unguten Schwindel, der dem vertrauten Seekrankheitsschwindel in nichts nachsteht. Der Boden schwankt, er trägt nicht, er entgleitet."

Agendasetting und Aufmerksamkeitsrichtung, Aufmerksamkeitspotential, schlicht Resonanz - dies sind wohl die Kategorien, die einen Unterschied machen. Elisabeth von Thadden merkt an, es wirke so, als seien die Alten froh, "dass nach ihnen wider Erwarten doch noch etwas Beachtliches kommt". Sie erwähnt den unterdessen 74jährigen Megaphilosophen Slavoj Zizek mit der beachtlichen Respektsbekundung : "Falls es ein Buch gebe, dass die Menschen noch ökologisch mobilisieren könne, so sei es dieses."

Schultz lasse aufhorchen mit der Anmerkung zum ökologischen Diskurs, dass die Ökologen die Leute mit ihrem permanenten Reden über das Notwendige in Panik versetzten oder aber vor Langeweile zum Gähnen. Wo aber bleibe da der theoretische Kampf um Ideen und um das Schöne, wo bleibe das gedankliche Ringen um eine mögliche Politik? Er suche nach einer individuellen Sprache für die Heimatlosigkeit des modernen Ich. Und dies sei keinesfalls zu verstehen als eine Entpolitisierung der Klimafrage. Ganz im Gegenteil: Bei Nikolaj Schultz kommt es offenkundig zu den von mir persönlich immer schon gesehenen systemischen Verstrickungen in einem die Generationen übergreifenden Geschehen:

"Ich hatte nie eine Ahnung, wo der Strom und das Wasser herkommen, die in meiner Wohnung landen."

Da bist du nicht alleine Nikolaj Schultz. Viele Menschen wissen, dass der Strom aus der Steckdose und das Wasser aus dem Wasserhahn kommt. Das ist für viele genau so gewiss, wie Tomaten und Gurken im Supermarkt wachsen! Für Nikolaj Schultz scheint sich dies nun zu ändern. Er beginnt die Abhängigkeit von Infrastrukturen zu verstehen:

"Die Welt, in der wie leben, die Welt, von der wir leben, die Welt, auf deren Kosten wir leben, will Schultz aus der Spannung zwischen Ich und Kollektivität heraus erfahrbar machen und auf diese Weise neu politisieren. Seine Großmutter, ja, jetzt taucht sie im Gespräch auf wie zuvor schon im Buch, sei heute individuell ein Opfer der planetarischen Erwärmung, von Hitze, Dürre und deren Folgen. Und doch klage er, der Enkel die Großeltern-Generation als soziales Kollektiv politisch dafür an, die Tragödie nicht verhindert zu haben. Ein Wohlstandsleben zu leben heißt im Klimawandel, andere zu zerstören oder künftig an ihrem Leben zu hindern. Und das verändert die hehre moderne Idee der Autonomie: Sie ist von Schuld nicht zu trennen, und sie entspringt der narzisstischen Hybris von der eigenen Abhängigkeit abzusehen, um sich stark zu fühlen." (mit Lyrik geht's kompakter) *

Und dennoch bekommt auch Nikolaj Schultz die Kurve - ich atme auf - bevor er ins Flugzeug nach Korea steigt, weil dort sein Buch vorgestellt wird. Die Klemme, in der wir alle stecken - sieht man einmal ab von den Spacken der AfD oder der CDU anghörenden Volksvertretern wie Erwin Rüddel (nach seiner Expertise grenzt es an Hybris, zu behaupten, die Menschen hätten einen gesicherten Einfluss auf die Erderwärmung um 1,5 Grad) - löst auch der 33jährige Jungspund, wenn auch ziemlich verkniffen, mit Bravour:

"Das Reisen macht ihm zu schaffen, das Fliegen: ein Horror. Vor Kurzem, erzählt er, stand er in Venedig, >vielleicht ist diese Stadt das Schönste, was Menschen je geschaffen haben<. Auf einmal wurde ihm schwindlig, er dachte: >Sie versinkt, und es liegt an mir<. Das kann man naiv finden oder selbstqualerisch. Aber Schultz hält einen Moralismus für fatal, der jetzt dem Einzelnen die Schuld gibt an dem systemischen Unglück, in dem wir stecken. Natürlich sind die Einzelnen verantwortlich, natürlich müssen die Gewohnheiten sich ändern, und doch muss er jetzt los, zum Flugzeug."

Eine Eva von Redecker hat mich weit mehr überzeugt - Bleibefreiheit in ihrem Verständnis hat eine ganz praktische Konsequenz. Nikolaj Schultz müsste seinen Arsch weder nach Venedig noch nach Korea bewegen, nein er sollte ihn nicht bewegen, wenn seine Botschaften ökologisch mobilisieren sollen, wie Slavoij Zizek ihm vorschnell attestiert.

 

Elisabeth von Thadden: Wie geht’s dem ich? ZEIT 30/23, Seite 43


N i m b y oder: Sankt Florian wird uns schon retten*

Wir saßen im Café
und tranken klares Wasser.
Wir fingen an zu grübeln und hatten nichts im Tee.
Zuletzt entstand der Eindruck, ich sei ein Menschenhasser.

Es waren nur drei schlichte Fragen,
und doch ging es um Kopf Kragen:
Kommt der Strom nur aus der Dose und das Wasser aus dem Hahn?
Und die Freiheit zu Bleiben und zu Gehn, ist nicht nur schlichter Wahn?

Da rief von Malle Pinkwarts Omma übers warme Meer:
Freitag, Samstag ist hier alles dicht - kommt doch alle her.
Layla ist schon da und viele ihrer Freier,
hohl im Kopf, doch in der Hose dicke Eier.

Ich kann nicht, ruft Herr Schultz: Hab Land Sickness und fliege nach Korea.
Da ruft die Eva, die von Redecker: Bleibt doch alle hier!
Und du, Herr Schultz, denk an Medea,
bevor die (Groß)Mutter wird zum Tier!

Der Welt, in der, von der wir leben, sind wir egal.
Gleichwohl geraten Fluten, Dürren uns zur Mahnung,
und die Vergnügen werden schal.
Im Ahrtal hat man davon mehr als eine Ahnung.

Und doch gehn uns die Kleber auf den Sack,
bald gibt es Feuer unter Pflegebetten,
N i m b y ruft das Pack,
Sankt Florian wird uns schon retten!

 

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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