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Wenn Du noch eine Mutter hast I

Es ist  -  mal wieder  -  Muttertag

Was ist eine Mutter? Eine einfache, große Frage zum Muttertag an eine EU-Kommissionspräsidentin, eine Hirnforscherin, eine Soldatin und andere „entbindende Personen“ VON TINA HILDEBRANDT UND ELISABETH RAETHER – in der ZEIT 20/23, Seite 6

Viele, die meine Blog-Beiträge lesen, kennen mich irgendwie von irgendwann und irgendwo. Ich bin 71 Jahre alt, männlich, habe nicht entbunden, habe aber viel geschrieben, vor allem inspiriert von Karl Otto Hondrich über Bindung, Geborgenheit und Entschiedenheit – zuletzt auch angeregt von Maximilian Probst über Verbindlichkeit. Ich habe auch schon die steile These vertreten, dass wir unser soziales Zusammenleben und die Art und Weise, wie wir Konflikte lösen, auf andere Weise gestalten würden, wenn Männer die Entbindenden wären. Andererseits spricht aber letztlich wenig für diese Annahme, da eine soziale Missgeburt wie Adolf Hitler vor allem unter Frauen den stärksten Rückhalt fand. Gleichwohl hätten bei militärischen Auseinandersetzungen die Kinder von Mördern – wie beispielsweise Wladimir Putin (samt seiner Führungsclique) an vorderster Front zu stehen. Eine Sensibilität oder schlichte Vorstellung davon, was es bedeutet, Raketen auf wehrlose Männer, Frauen, Kinder, alte Menschen, beeinträchtigte Menschen – im Übrigen auch entbindende Personen – abzufeuern, ist bei sozial debilen Menschen, wenn überhaupt, nur durch unmittelbare eigene Betroffenheit zu erzeugen. Es fällt mir schwer, solche Sätze zu schreiben und den dahinter stehenden Sinn als Option in Erwägung zu ziehen. Dies scheint mir auch ein Reflex auf die Enttäuschung zu sein, dass - anders als infolge der sowjetischen Intervention in Afghanistan - die Mütter ganz offenkundig im Zuge der russischen Aggression gegen die Ukraine keine Rolle zu spielen scheinen.

Wie anders kann man Olha Bihar auch nur ansatzweise verstehen? Sie wird uns vorgestellt als Soldatin in der ukrainischen Territorialverteidigung:

„Ich habe einen Vertrag unterschrieben und werde bis Kriegsende dienen. Mein kleiner Stas ist sechs. Es ist hart für mich, nicht bei ihm zu sein. Seit Beginn der Invasion habe ich ihn nur drei Tage gesehen. Manchmal fühlt es sich so an, als könnte er mich vergessen. Wir sprechen nur auf Skype oder Telegramm. Er mag es nicht, lange zu sprechen, er ist ja ein Kind […] Meine Aufgabe ist, dass Stas in Sicherheit lebt. Seit einem Jahr befindet er sich an einem sicheren Ort. Mein Stas hat nicht eine Rakete gesehen, nicht einen Schuss gehört. Das ist mein Ziel. Er lebt mit Verwandten in einem großen Haus mit zwei Hunden. Er nimmt Kunstunterricht und hat online Schulunterricht. Ich glaube, er erlebt eine glückliche Kindheit. Dass ich an seinem Leben nicht teilnehmen kann, ist schwierig für eine Mutter. Ich sage mir, meine Abwesenheit ist nur vorübergehend und wichtig dafür, dass er in Sicherheit leben kann.“

Menschenrechte sind auch Kinderrechte; Kinder sind die Menschen, von denen viele behaupten, sie seien unsere Zukunft – eine, logisch betrachtet, komplette Idiotie. Aus der Notwehr, für ihre Kinder (wie für alle Bürger der Ukraine) einzutreten, sie zu schützen, leitet sich das Recht auf Selbstverteidigung ab. Selten liegen die Verhältnisse dabei so glasklar, wie bei der russischen Aggression der Ukraine gegenüber. Ähnlich wie das nationalsozialistische Terrorregime kann sich die russische Führung auf kein völkerrechtlich vertretbares Anliegen berufen. Der Befehl ohne Not, auf wehrlose Menschen zu schießen, erfüllt den Tatbestand des heimtückischen Mordes. Wer hier den Ausnahmezustand verfügt, und Dörfer und Städte eines souveränen Landes in Schutt und Asche legt und damit den Tod ungezählter Menschen beabsichtigt, kann dies nur auf der totalitären, von Carl Schmitt eingeführten Unterscheidung von Freund und Feind vollziehen. Dabei genügt den Vertretern faschistischer Ideologie die reine Etikettierung eines Gegners als Feind. Wer die menschenverachtende, weil kategorisch vorgenommene Freund-Feind Unterscheidung nachvollziehen will, lese Carl Schmitts Kampfschrift: Der Begriff des Politischen aus dem Jahr 1932!

Auf dieser abartigen, rassistisch motivierten Unterscheidungslinie fußend erschoss im Februar 2020 ein Rechtsextremist in Hanau neun Menschen. Unter ihnen war Hamza Kurtovic, der Sohn von Dijana Kurtovic: Sie sagt:

„Mein Sohn fehlt mir jeden Tag. Ich dachte es würde leichter werden. Aber es wird schwieriger, weil er immer länger weg ist. Wenn ich seine Freunde sehe, zufällig, wenn ich erfahre, dass sie heiraten, dann rast mein Herz. Ich war schon immer so, dass ich wissen wollte von den Kindern: Wo geht ihr hin, mit wem, wann kommt ihr wieder? Seit Hamza tot ist, habe ich große Angst um meine anderen beiden Söhne, um meine Tochter […] Die Tat ist bei uns vor der Tür passiert. Ich kann als Mutter noch etwas tun für meinen Sohn, ich kann an ihn erinnern. Und Aufklärung verlangen […] Ich fühle mich nicht schuldig. Hamza war ein friedlicher Junge, wir hatten nie Probleme mit den Behörden oder der Polizei. Aber einen Vorwurf mache ich mir: dass wir, als der NSU aufgedeckt wurde, nicht reagiert haben. Dass wir danach nicht mehr getan haben.“

Es fällt schwer, Robert Steinhäuser (Amoklauf 2002 in Erfurt), den Täter von Hanau, aber auch Wladimir Putin, Josef Stalin oder Adolf Hitler in ihrem sozialen Analphabetismus, ihrer emotionalen Debilität und in ihrer Menschenverachtung danach zu befragen, was den Humus bereitet hat für die radikale Grenzüberschreitung, nach der es kein Zurück mehr gibt; nach der die Schuld ins Unermessliche wächst, die sich in Gewaltorgien manifestieren, und die ausschließlich auf der Tatsache fußen, dass jemand den kategorialen Mord in sein politisches Kalkül und Handeln integriert und den Anderen, den Fremden zum Feind erklärt.

Der Muttertag ist der Tag, an dem alle Mütter (selbstredend auch die Väter) sich die Frage stellen müssen, ob und in welcher Weise ein Nährboden bereitet wird für dieses kategoriale, unversöhnliche Freund-Feind-Denken. Ein solches Denken verbietet sich in einer demokratisch verfassten, offenen Gesellschaft. Es bildet den zentralen Kontraindikator für den fundamentalen Leitwert einer zivilisierten Gesellschaft. Das zivilisatorische Minimum beruht auf der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz. Eine entsprechende Streitkultur basiert auf rechtsstaatlichen Prinzipien, die eine gewaltsame Lösung von Konflikten ausschließt.

Die mächtigste Mutter Europas, Ursula von der Leyen (siebenfache Mutter), hat – mit Blick auf den Nährboden sozialer Pathologien ein Generalrezept in petto – zumindest mit Blick auf die Frage, was eine Mutter im Kern ausmacht:

„Aus meiner Erfahrung als Mutter ist es diese ganz eigene, tiefe Bindung zum Kind. Diese überwältigende und vor allem bedingungslose Liebe diesem kleinen Wesen gegenüber, die ab dem ersten Moment da ist, das kann man kaum beschreiben.“

Unter Einschluss des Vater – ein „unvergleichlicher Vater“ - ihrer sieben Kinder beantwortet sie die Frage, was Mütter besonders gut können:

„Ooooh … jetzt muss ich das richtige Wort für ein Gefühl finden … Das ist dieses … (überlegt länger) Wärmen. Ich müsste noch länger nachdenken, aber das trifft es eigentlich für mich am besten: Kindern auf dem Weg ins Leben Wärme spenden, und das in jedem Sinn.“

Wer diese lebendige Kultur des Wärmegebens und -tauschens nicht erfahren hat, wer möglicherweise Missachtung, Missbrauch – das Gegenteil von Wertschätzung und Akzeptanz erfahren hat, muss sich vermutlich nur bedingt erklären, wenn er nicht nur eine misanthropische Haltung an den Tag legt, sondern auch einen feindselig gestimmten Habitus entwickelt. Erklären muss sich derjenige, der – trotz „bedingungsloser Liebe“ und integriert in den Kreislauf des Wärmetauschens – aus dem Ruder läuft und das zivilisatorische Minimum verfehlt. Viel zu wenig beachtet sind Klaus Theweleits Thesen zu den nicht zu Ende geborenen (insbesondere) Männern.

Noch ein Wort zu Rabenmüttern: Der Verhaltensbiologe Thomas Bugynar attestiert den Raben zum wiederholten Mal „ein außergewöhnliches soziales Miteinander“. Sie leben offenkundig nicht nur in monogamen Langzeitbeziehungen. Im Großen und Ganzen - mit sicherlich markanten Unterschieden in der Abstimmung - beteiligen sich Rabenmütter und –väter mehr oder weniger gemeinsam an der Jungenaufzucht. Über Rabenmütter weiß er zu sagen:

„Rabenmütter sind top, sie behandeln ihre Kinder alle gleich. Das lässt sich evolutionär einfach erklären: Die Mütter können sich im Gegensatz zum Vater ganz sicher sein, dass die Kinder von ihnen abstammen. Das Wort Rabenmutter entstand, weil Rabenkinder laut schreien im Nest. Nicht weil sie vernachlässigt werden, sondern damit sie mehr bekommen als ihre Geschwister. Raben müssen nicht wie andere Singvögel fürchten, gefressen zu werden, sie sind groß und haben keine Nestfeinde.“

Übrigens: Die europäische Union kann man inzwischen als eine soziale Gemeinschaft betrachten, in der zwar viele laut schreien – als wirkliche Nestfeinde betrachten wir uns aber nicht mehr. Man braucht sich nur 110 bzw. 85 Jahre zurückzuversetzen, um zu begreifen, wie gewaltig, wie segensreich sich Europa verändert und entwickelt hat. Den Russen hat der Kuckuck (nicht zum ersten Mal) eine Missgeburt ins Nest gelegt, dass inzwischen vor lauter Scheiße überquillt. Lange hält dies kein Sozialwesen durch. Irgendwann muss man groß saubermachen, wenn man nicht im eigenen ideologischen Dreck ersticken will.

 

* Der Text dieses Liedes wird sicher vielen Lesern im Halse stecken bleiben und Übelkeit verursachen, suggeriert es doch unterscheidungslos, dass Mutterschaft und die relational daraus erwachsende Mutterrolle grundsätzlich als unantastbares positiv-heldenhaftes Urphänomen Geltung beanspruchen könne. Darin greift zweifellos eine rührselige, anachronistische Interpretation fragwürdiger Rollenzuschreibungen Raum, die mit aktueller gesellschaftlicher Realität wenig zu tun hat. Andererseits erwachsen aus diesem rührseligen Mutter-Mythos jene Sinnfacetten, die sich in den Aussagen Olha Bihars oder Ursula von der Leyens auch heute widerspiegeln. Und der auf Joseph von Eichendorff zurückgehende Aphorismus: Wir sehnen uns nach Haus und wissen nicht wohin? hat zwar Gott im Blick, rührt aber möglicherweise das Gemüt in der Sehnsucht nach liebevoller Zuwendung und Geborgenheit im Sinne eines gediegenen zu Hause.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund