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Wolf Singer und Robert Harris - sind solide Demokratien totalitären Systemen doch überlegen? Wolf Singer liefert uns ganz am Ende seiner Ausführungen ein offenkundig unschlagbares Argument (:-))

Soeben habe ich Robert Harris‘ Vaterland (wer interessiert ist, kann sich hier zum Roman orientieren) zu Ende gelesen (ich glaube ein Geschenk von Michael – vielen Dank dafür). Ziemlich am Ende auf Seite 370f. liegen Charlie und March auf dem Bett und gehen noch einmal ihre Fluchtpläne durch. March hat – wir bewegen uns 1964 (Nazideutschland beherrscht Europa) – auf abenteuerliche Weise von Teilnehmern an der Wannsee-Konferenz bei Seite geschaffte Dokumente in seinen Besitz gebracht; diese Szene spielt am 19. April, einen Tag vor Hitlers 75sten Geburtstag. Nach der Flucht über die Schweiz in die Vereinigten Staaten wollen sie diese Dokumente, die das Menschheitsverbrechen der Nazis belegen, zur Veröffentlichung bringen. Es kommt zu folgendem Dialog:

Charlie: Die drucken das. Gott, wenn die das nicht drucken, stell ich mich wie einer von den Verrückten, deren Romane nicht veröffentlich werden, in die Fifth Avenue und verteil Kopien an die Passanten. Aber mach dir keine Sorgen – die werden das drucken, und wir werden die Geschichte verändern.

March: Aber glaubt uns irgendwer? Ist das nicht alles viel zu unglaubwürdig?

Charlie entgegnet: Nein, denn jetzt hätten sie Tatsachen, und Tatsachen veränderten alles. Ohne die habe man nichts, eine gähnende Leere. Aber leg Tatsachen vor – bring ihnen Namen, Daten, Befehle, Zahlen, Zeittafeln, Ortsangaben, Koordinaten, Fahrpläne, Fotos, Diagramme, Beschreibungen – und plötzlich besitzt die Leere eine Geometrie, wird der Vermessung zugänglich, ist zu einem festen Gegenstand geworden. Natürlich könnte man den festen Gegenstand ableugnen oder infrage stellen oder einfach nicht beachten. Aber jede solche Reaktion sei per definitonem eine Re-Aktion, die Antwort auf etwas, was existiere. Manche Leute werden es nicht glauben wollen – sie werden es nicht glauben wollen, egal wie viele Beweise wir vorlegen. Aber ich glaube, wir haben hier genug, dass wir Kennedy (Joseph Kennedy – erklärter und bekennender Rassist und Antisemit – ist Präsident der USA und auf Entspannungskurs mit Nazi-Deutschland) stoppen können. Kein Gipfeltreffen. Keine Wiederwahl. Keine Entspannung. Und in fünf Jahren oder in fünfzig wird die Gesellschaft hier auseinanderfallen. Man kann auf einem Massengrab nichts aufbauen. Menschen sind besser – sie müssen einfach besser sein –, daran glaube ich – du nicht auch?

Er antwortete nicht.

Nun bringe ich Wolf Singer ins Spiel. Er gibt der ZEIT auf Seite 34 der aktuellen Ausgabe (11/23) ein Interview (Wolf Singer, geboren am 9. März 1943 in München, ist einer der einflussreichsten Hirnforscher. 1981 wurde der Arzt und Neurophysiologe an das Frankfurter Max-Planck-Institut für Hirnforschung berufen. Im April 2011 wurde er emeritiert). Einer breiten Öffentlichkeit ist er bekannt geworden durch die Kontroverse um die Frage, inwieweit es einen freien Willen gibt. Genau hier fädele ich in das Interview ein. Interessant sind seine Ausführungen zur systemischen Überlegenheit demokratisch-pluralistisch verfasster Gesellschaften - nicht nur, weil wir daran glauben wollen, sondern weil sich offenkundig in ihnen ein evolutionärer Vorteil gegenüber totalitären Systemen manifestiert:

ZEIT: Auf einem Kongress von Philosophen haben Sie vor vielen Jahren einmal erklärt, es gebe keinen freien Willen – und damit eine enorme Debatte ausgelöst. Eine bewusste Provokation?

Singer: Im Gegenteil, ich wollte lediglich aufklären, bin aber gründlich missverstanden worden. In der FAZ folgerte ein Redakteur: Wenn alles determiniert ist, dann gibt es keine Schuld und ohne Schuld keine Strafe. Das führt direkt in die Anarchie.

ZEIT: Kein freier Wille, das klingt einfach nach einer massiven Beleidigung des menschlichen Egos.

Singer: Ich habe nie nachvollziehen können, warum manche das als Angriff auf die Menschenwürde begriffen haben. Die Evidenz ist doch erdrückend: Alles, was in uns und um uns herum geschieht, hat Einfluss auf das Gehirn. So wie dieses Gespräch unsere Gehirne im Augenblick, aber auch in alle Zukunft verändert. In dem Sinne sind wir neurobiologisch determiniert. Aber natürlich müssen wir uns selbst zuschreiben – wem denn sonst? –, was wir tun, und dies verantworten. Und ebenso selbstverständlich müssen wir belangt werden, wenn wir gesellschaftliche Regeln brechen. Der freie Wille ist eine Zuschreibung, die wir in unser Selbstmodell integrieren konnten, da wir die Vorgänge in unserem Gehirn, die unsere Entscheidungen vorbereiten, nicht wahrnehmen können. Aber wie gesagt: Solche Zuschreibungen haben ihre eigene Realität und sind wirkmächtig.

ZEIT: Sie haben einmal bedauernd festgestellt, dass vielen Menschen heute die Verankerung im Transzendentalen fehle. Gibt es eine Lösung?

Singer: Ich glaube, die Lösung kann nur eine säkulare Ethik sein. Und die muss möglichst früh in unseren Gehirnen verankert werden. Der Schlüssel liegt in der Erziehung. Wir müssen lernen, uns als Knoten in einem hochkomplexen Netzwerk zu begreifen, dessen Stabilität davon abhängt, dass sich alle anständig verhalten.

ZEIT: Und was motiviert uns zum Anstand?

Singer: Wir sind Teil eines evolutionären Prozesses, dessen Anfänge uns verborgen sind und dessen Entwicklung wir nicht vorhersagen können. Menschen haben ähnliche Bedürfnisse und Wunschvorstellungen von der Zukunft. Kollektive Erfahrungen und wissenschaftlich begründete Einsichten sollten ausreichen, um uns so einzurichten, dass wenigstens ein Teil unserer Hoffnungen erfüllt wird.

ZEIT: Wie organisiert man diesen Zusammenhalt?

Singer: Ich denke, Demokratien sind aufgrund ihrer konstitutiven Diversität und Toleranz für unterschiedliche Meinungen und Interessen eine gute Option. Nur komplexe Systeme mit nicht linearer Dynamik sind fähig, sich selbst zu organisieren und zu stabilisieren. Dazu braucht es Pluralität und die enge horizontale Vernetzung der Akteure. Stark hierarchische, totalitäre Systeme sind dagegen extrem anfällig. Sie beruhen auf der Illusion, es gäbe allwissende Dirigenten. Abgesehen davon sind vertikal strukturierte System nicht zur Selbstorganisation fähig. Sie verzichten auf die Synergien verteilter Kompetenzen und entbehren deshalb jedweder Resilienz gegenüber Unvorhergesehenem. Nicht von ungefähr hat die Evolution extrem komplexe Systeme hervorgebracht, die auf Selbstorganisation vertrauen und keines Dirigenten bedürfen. Nehmen Sie das Gehirn als Beispiel.

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund