Was nun, Herr Kant?
Mit dieser Frage näherte sich Thomas Assheuer Immanuel Kant 2015 (ZEIT 49/15, S. 49)
Heute mögen wir erkennen, wie weit sich das Russland Putins in der Gemeinschaft der Völker isoliert hat und zu einem neuen Paria der Weltgeschichte mutiert - ja, dazu taugen auch die Abstimmungsverhältnisse in der Uno - und die Enthaltungen Chinas und Indiens bei der Verurteilung der russischen Aggression der Ukraine gegenüber mögen im Reflexionshorizont der folgenden Überlegungen durchaus bemerkenswert sein; zumindest hoffe ich dies. Denn es mag durchaus einsichtig sein - selbst wenn wir bedenken, dass die Vernunft immer nur die eine Vernunft sein kann und Gründzüge einer universellen Vernunft ferner denn je erscheinen -, dass es für das Handeln Putins keine vernünftigen Gründe gibt. Nicht nur, dass er das Völkerrecht auf brutale Weise missachtet. Er vergibt sich und seinen U N T E R T A N E N die Chance ein Land mit reichen Ressourcen zu blühenden Landschaften zu entwickeln. Politische, ökonomische, aber vor allem auch ethische (Vernunft-)Gründe entbehren in seinem Denken und Handeln jeglicher Spurenmächtigkeit. Kant war offensichtlich geschichtsphilosophischer Pessimist. Umso bedenkenswerter, dass er alle Vernunftgründe auf seiner Seite hat, wenn er das Recht begreift als den "Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit vereinigt werden kann."
Wie konnte jemand so kühn denken? Was Immanuel Kant (1724-1804) wohl tatsächlich zum "Giganten" macht, bringt Thomas Assheuer mit der Feststellung auf den Punkt, das Kant für eine "kopernikanische Wende" in der Erkenntnistheorie stehe:
"Er war davon überzeugt, dass Philosophen, die ausschließlich nach dem 'Ding an sich' suchen, keine Erkenntnis gewinnen. Statt immer nur die Gegenstände anzustarren, täten sie besser daran, sich mit dem Menschen zu beschäftigen, mit seinen Erkenntnisarten und seinem Wahrnehmungsapparat."
Thomas Assheuer meint, auf diese Weise habe Kant seine Zeitgenossen provoziert. Aber bis heute begegnen wir durchgängig einer Haltung, in der Menschen ihre Weltbilder distanzlos bewohnen; Weltbilder erster Ordnung, die das "Ding an sich" zur Prämisse haben, die auf absoluten Wahrheitsansprüchen und Letztbegründungen fußen. So bleibt auch Niklas Luhmann ein einsamer Rufer in der Wüste und die Luhmannsche Lektion ungehört. Der Imperativ triumphiert über den Konjunktiv, obwohl der Zufall regiert.
Weiter unten stellt Thomas Assheuer fest, das Kant Aufklärer war - sapere aude -, aber kein Träumer: "Torheit, Eitelkeit, Herrschsucht gehörten zum Menschen dazu, dieser habe nun einmal einen 'Hang zum Bösen', später sprach Kant gar vom 'radikal Bösen'."
"Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden."
Wen verwundert es da, dass Kant als Grantler galt. Thomas Assheuer bezieht sich auf diese Einschätzung, indem er darauf hinweist, dass Kant immer darauf hingewiesen habe, den Menschen präge eine tiefe "Unvertragsamkeit", eine "ungesellige Geselligkeit":
"Diese 'ungesellige Geselligkeit' bedeutete: Die Menschen können einander nicht leiden und mögen doch nicht voneinander lassen. Sie ziehen sich in die Vereinzelung zurück - und spüren zugleich ein Ungenügen an ihr."
Aber immerhin resultiert bei Kant aus dieser Lage der ungemeine Impuls, sich eine gemeinsame Rechtsordnung zu geben. Die dialektische Pointe bei Kant laute: "Es ist die soziale 'Unvertragsamkeit', die die Menschen dazu bringt, sich eine republikanische Verfassung zu geben."
Immanuel Kant im Originalton:
"Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit vereinigt werden kann."
Es ist dann - so Thomas Assheuer - bei Kant nur noch ein kleiner Schritt zu der genialen Idee, dass - wenn sich die einzelnen Bürger durch den freien Gebrauch ihrer Vernunft eine rechtliche Ordnung geben könnten -, dass dies den "unvertragsamen" Nationen untereinander auch gelingen könnte.
Elf Philosophinnen und Philosophen hat die ZEIT gebeten angesichts der enttäuschten Hoffnungen - der Barbarei in der Welt - sich der Frage zu stellen, was Kants Idee zum ewigen Frieden in Zeiten ewiger Kriege noch bedeuten könne.
Das führt Rainer Forst immerhin zu der trotzigen Einsicht (im Angesicht des Terrors in der Welt), dass wir - wenn wir begännen die Existenz der Unvernunft für eine Widerlegung der Vernunft zu halten - die Philosophie gleich ganz sein lassen sollten: "Denn wer über die Welt verzweifelt, der verzweifelt in der Regel deswegen, weil er nicht sieht, wie die Vernunft einen konkreten Weg weisen kann, der auf Akzeptanz stößt. Aber es gibt keine andere Richtschnur bei der Suche danach."
Dass wir nicht sehen können, dass wir nicht sehen können, was wir nicht sehen können bringt uns zum blinden Fleck aller Erkenntnis - weit weg vom "Ding an sich" und natürlich auch zu einer unvermeidbaren Skepsis:
"Doch keine Einsicht ohne Blindheit. Die sogenannte Kybernetik zweiter Ordnung lehrt uns zu sehen, dass man nicht sehen kann, was man nicht sehen kann. Dass man nicht sehen kann, dass man nicht sehen kann, was man nicht sehen kann, ist aber die Definition des blinden Flecks. Das ist aus dem geworden, was Philosophen früher einmal 'transzendental' genannt haben. Der blinde Fleck einer Beobachtung ist die Bedingung ihrer Möglichkeit, und daran zerschellt Vernunft. Man kann blinde Flecke nicht vermeiden. Aber man kann versuchen, sie deutlich zu machen, indem man Begriffsunterscheidungen und Theorieunterscheidungen der eigenen Analyse klar zu erkennen gibt, sie also gewissermaßen ausstellt. Und die Frage lautet dann: Welches Theoriedesign macht die Einsicht in die eigene Blindheit erträglich? Wie muss eine Theorie beschaffen sein, die durch ihr Wissen um ihren blinden Fleck nicht blockiert ist (Norbert Bolz, in: Luhmann-Lektüren, Berlin 2010)?"
Vernunftgläubigkeit und Vernunftkritik begegnen sich in Kants fundamentaler Einsicht, dass uns Menschen die Dinge an sich nicht zugänglich sind. Die Würde des Menschen bleibt nur dann unversehrt, wenn wir dies in wechselseitiger Anerkennung respektieren. Gewiss muss erst und uneingeschränkt die körperliche Unversehrtheit des Menschen als Absolutum verankert sein, wenn der Streit der Argumente zu akzeptablen Lösungen führen soll. Immerhin manifestiert sich dies in der Nachfolge Kants in der Errungenschaft republikanischer, rechtsstaatlicher Verfassungen. Auch im Kleinen müsste sich dies allerdings widerspiegeln, zumindest, wenn die "ungesellige Geselligkeit" ein erträgliches Miteinander bedeuten soll.
Peter Sloterdijk weist im Übrigen darauf hin, dass jene, die für sich einen höheren Ernst reklamierten, als Fürsprecher einer Realität erster Ordnung auftreten und in der Regel distanzlos agieren. Dies trifft in besonderer Weise auf einen Wladimir Putin zu, der vom Wiedererstehen einer der untergegangenen Sowjetunion vergleichbaren Einflusszone träumt und dies mit verqueren, abstrusen geschichtsklitternden Phantasien unterlegt. Eine distanzierte Grundhaltung – eingedenk unvermeidbarer blinder Flecken – fördere hingegen „eine Neigung zum Desengagement von fixen Meinungspositionen“. Hier komme zum Tragen, was Niklas Luhmann eine Haltung der Selbst-Desinteressierung nennt. Warum dies so ungemein wichtig ist, wird überdeutlich in der von Peter Sloterdijk vorgenommenen Unterscheidung von Weltbildern erster Ordnung auf der einen Seite und einer Haltung, die den Realitätsglauben als auswechselbare Größe begreift, auf der anderen Seite:
„Denn es geht hier, möchte ich vermuten, um nichts Geringeres als das allen Weltbeschreibungen erster Ordnung inhärente Paranoia-Potential und die von ihm gebundene und entbundene Gewalt. Wo immer Menschen anfangen, ihre Weltbilder distanzlos zu bewohnen und ihre Einteilungen des Seienden im Ganzen als eine Arena realer Kämpfe zu erleben, dort sind sie der Versuchung ausgesetzt, für ihre Identitätskonstruktebis zum bitteren Ende zu kämpfen und für ihre Fiktionen zu töten.“ (Peter Sloterdijk, in: Luhmann Lektüren, Berlin 2010, S. 153)