Nachdenkliches - Kurz vor Schluss - Freundschaft als tätige Praxis
- Was hat in einem langen Leben Bestand?
Uns alle treibt zuweilen die Frage um, was einem langen Leben - bei allen Brüchen und Irritationen - Kontinuität und Sinn verleiht. Nähert man sich dem siebzigsten Geburtstag, hat man schon ein langes Leben gehabt, und die Antworten auf die zentrale Frage nach Kontinuität und Sinn zwingen sich mehr oder weniger auf, denn für einen radikalen Kursschwenk mangelt es oft genug schlicht an Zukunft; eine Tatsache, die sich schon allein empirisch aus rein statistisch veritablen Erkenntnissen speist.
In Kurz vor Schluss habe ich mich selbst in vier ausführlichen Beiträgen (Nr. 35 bis 38) mit einem Phänomen auseinandergesetzt, das nicht wenige Menschen als zentralen, vitalen Sinnstifter betrachten, wenn sie den langen Lauf ihres Lebens Revue passieren lassen. Welche Rolle spielen Freundschaft und Freundschaften in unserem Leben (zuletzt spontan erörtert in: Schreiben ist Selbstermächtigung)? Grundlegende Anregungen zur Beantwortung dieser Frage bietet Arnold Retzer an, der 2006 in Heft 2 der Familiendynamik mögliche Kriterien für Freundschaftsbeziehungen ausgelotet hat.
- Der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten
Man kann hier freilich etwas grundlegender ausholen, indem man den Lebenslauf mit Niklas Luhmann als ein Medium im Sinne eines Kombinationsprogramms betrachtet, das uns einerseits (Handlungs-)Möglichkeiten eröffnet und das andererseits gleichzeitig durch unser Handeln oder Nicht-Handeln eine von Moment zu Moment fortschreitende Festlegung von Formen bedeutet. Die Wendepunktqualitäten in einer abschiedlich und versöhnlich gestimmten Rekonstruktion des eigenen Lebenslaufs nehmen sich besonders spannend aus mit dem (Rück)Blick auf Freundschaftsbeziehungen. Ein zukunftsoffener Möglichkeitsraum verengt sich von Moment zu Moment, in dem Maß, wie vergangene, bestehende und entstehende Freundschaftsbeziehungen abgeschlossen sind, als Möglichkeit sich andeuten oder als dynamischer Prozess der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft ihre besondere Qualität verleihen. Die Qualität einer Freundschaft und die Anhaltspunkte für den substantiellen Gehalt einer Freundschaft ergibt/ergeben sich zuvorderst in Zeiten des Notstands. Notstandsgemeinschaften gründen zwar nicht auf Freundschaft, aber Freundschaft muss sich in Zeiten des Notstands bewähren.
- Freundschaft fürs Leben (hier Verweis in den Kopfzeilen auf Freundschaft II)
Im Rückblick auf ein langes Leben erinnert man sich ja zunächst einmal an die Freundschaften, die - wenn auch heute eher in seltenen Fällen - ein ganzes Leben lang halten. Bereits im Vorschulalter werden die Weichen gestellt für „Blutsbrüderschaften“, die nichts wissen von „freundschaftlicher Gleichheit, Ebenbürtigkeit und auch Eigenständigkeit“, die diese Prinzipien aber verkörpern und für die wechselseitige Inanspruchnahme, ja Einstehen füreinander in allen Lebenslagen habituell sind - gewissermaßen als vorreflexives Wissen, als selbstverständliche und alltägliche Praxis. Wenn die runden Geburtstage anstehen, dann lässt sich an den Einladungslisten, den Zu- und Absagen ablesen, ob es in einem langen Leben gereicht hat zu einem vertrauensvollen und kraftvollen, Gemeinsamkeit begründenden Einvernehmen in grundsätzlichen Fragen der Lebensgestaltung. Und wir sollten uns an der Stelle nichts in die Tasche lügen. Die Messlatte für eine solche Freundschaftskultur liegt hoch. Eine moralische Institution - wie Arnold Retzer bemerkt - kann Freundschaft nur sein, wenn sie eine Praxis begründet, die über das wechselseitige Wohlwollen deutlich hinausgeht. Das Wohlwollen einem Freund gegenüber sieht Retzer als notwendig an, aber es reiche nicht, wenn es sich nicht mit der vollzogenen Wohltat verbinde: „Mit jemandem in Freundschaft leben, heißt also eigentlich: Leben zu teilen und das Teilen zu leben. Wohlwollen kann unter Umständen auch zu untätiger Freundschaft führen. Freunde müssen sich hingegen verhalten und Tat-Sachen schaffen.“
- Freundschaft als moralische Institution?
Ganz sicher lassen sich begründete Vorbehalte äußern gegenüber der grundsätzlichen Erwägung Arnold Retzers, die Qualität einer Freundschaft in Verbindung zu bringen mit der Bedeutung einer moralischen Institution (siehe dazu die Ausführungen in Freundschaft I). Zumal Arnold Retzer betont, Freundschaft sei höchste Freiwilligkeit. Freundschaften - so Retzer - "gehorchen offensichtlich einem eigenständigen Normen- und Regelwerk". Aber ebenso wenig, wie Verstöße gegen Freundschaftsregeln rechtlich sanktioniert würden, sei Freundschaft einklagbar. Gleichwohl geht Arnold Retzer so weit, die Freundschaft als eine moralische Institution zu begreifen: Freundschaft verkörperere Tugendhaftigkeit und Rechtschaffenheit. Dementsprechend werde ein Versagen in hohem Maße als moralische Schuld empfunden. Dann kann es freilich nicht verwundern, wenn Retzer in der Praxis ein zentrales Merkmal von Freundschaft sieht: "Sie ist die Praxis selbst und nicht deren Voraussetzung." Darin liegt für Arnold Retzer letztlich das Merkmal, "an dem sich die alltägliche Brauchbarkeit von Freundschaft zu bewähren hat".
- Die nehmende Praxis der Freundschaft
Ganz gewiss ist es riskant, die Vorstellung von Freundschaft mit solch hehren Maßstäben zu belasten. Andererseits können wir im (Rück-)Blick auf ein langes Leben sehr genau unterscheiden, ob es uns in einem wechselseitigen Miteinander gelungen ist, Freundschaft(en) in diesem Sinne zu begründen und zu pflegen. Können wir für uns annehmen, gar beanspruchen, was Arnold Retzer als nehmende Praxis der Freundschaft andeutet? Das würde nämlich bedeuten, dass eine solche Freundschaft vor allem darin bestehe, dass Freunde einander in Anspruch nehmen. "Ja mehr noch: Das Tätigsein des Anderen kann eingefordert werden, es kann ein Anspruch erhoben werden. Der Beanspruchende nimmt an, dass der Freund bereit ist zu geben... Die komplexe freundschaftliche Gegenseitigkeit ermöglicht sowohl das dem Freunde gefallende Geben als auch die Bitte an den Freund um einen Gefallen."
- Wir können doch Freunde bleiben
Vielleicht hilft uns Arnold Retzer, indem er die gegenseitige Anerkennung der persönlichen Freiheit, Gleichheit und mögliche Andersartigkeit der der Freunde als basale Prämisse setzt. Dann aber muss man wissen, das all dies - die Pflege einer lebendigen Freundschaft - einem "Kunststück der Balance" gleichkommt: zu fest gezurrt, gerate die Freundschaft zu allzu strenger Verbindlichkeit; zu sehr gelockert verblasse die "wahre Freundschaft" zur unverbindlichen Freundschaftlichkeit... "Wir können doch Freunde bleiben."
- Und kurz vor Schluss?
Arnold Retzer weist darauf hin, dass Freundschaft auch schwierig werden kann - es könne zu Streit kommen. Allerdings bestehe der freundschaftliche Streit ja gerade darin, dass er tatsächlich augetragen werde: "Man ist bereit, sich auseinanderzusetzen... Ein ausgetragener Streit bewirkt meist eine Bekräftigung der Freundschaft." Er könne dazu taugen, den Kern einer Freundschaft auszuloten:
„Indem die Freunde etwas zur Sprache bringen, entbinden sie sich vom bis dahin unsagbaren 'Eigenen' und machen es zu etwas Teilbarem und (in den Grenzen der Freundschaft) Öffentlichem. Wenn nun das (Miteinander-)Sprechen das spezifisch Menschliche ist, vermenschlichen wir, indem wir sprechen, sowohl das, was in der Welt ist, als auch das, was in uns ist. Wir bringen die Welt zu uns und uns in die Welt. Die Freundschaft ist ein geeigneter Ort, beides zu ermöglichen. Indem Freunde sich im Gespräch mitteilen, eignen sie sich ihre eigene Lebensgeschichte selbstreflexiv an und machen sich Tatsachen ihres Lebens, u.a. auch ihre Freundschaft, sinnhaft zu Eigen. Freundschaftliches Mitteilen ist die Bereitschaft, sich selbst verständlich machen zu wollen.“
- Was bleibt?
Manchmal spürt man - in einem schleichenden Prozess, manchmal auch abrupt, sozusagen von einem Tag auf den anderen - wie (vermeintliche) Freundschaft mutiert zu dem, was Arnold Retzer "unverbindliche Freundschaftlichkeit" nennt. Aus meiner Sicht ist das schon eine ganze Menge, denn zuweilen mag es noch drastischer kommen und Freunde verändern durch aktives Handeln oder Nicht-Handeln einseitig ihren Status, indem sie - im Sinne konzentrischer Kreise - an den äußeren Rand rücken und unseren Bekanntenkreis erweitern. Man hat ja ungleich mehr Bekannte als Freunde. Mit jemandem bekannt zu sein verpflichtet in der Tat zu nichts - zu weniger als nichts, zu gar nichts! Man muss herausfinden, wohin eine Freundschaft (uns) treibt. Die Volksweisheit, dass 1000 Freunde in der Not auf ein Lot gehen, hat sich in den letzten Wochen gottlob - und ein Lob der tätigen Freundschaft - nicht bestätigt. Das ist der Hauptgrund, warum viele Menschen im Ahrtal wieder etwas zuversichtlicher in die Zukunft schauen. Ein Abschlussgedanke Arnold Retzers passt hierzu, wenn er meint: "Das freundschaftlich geteilte Tun der guten Freundschaft ist ein selbstverständliches Tun." So selbstverständlich, dass es wert sei, darauf hinzuweisen - etwa auf das Miteinander-Reden genauso wie auf das Miteinander-Essen und -Trinken.