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Im Anfang war das Wort - Jörg Meyrer, Dechant des Kirchengemeindeverbandes Bad Neuenahr-Ahrweiler

Meine Cousine Gaby versucht gegenwärtig in Bad Neuenahr in der Kreuzstraße (ihre Straße war inmitten des tragischen Geschehens) ihr Haus wieder bewohnbar zu machen. Ihre Wohn- und Schlafetage darin ist zur Zeit unbewohnbar, da wir beim Rückbau feststellen mussten, dass die alten Dämmstoffe durchfeuchtet waren und zu schimmeln begonnen hatten. Alles stinkt zu jenem Himmel, der so weit ist und der - seit er am 14. Juli 2021 seine Schleusen zu einer Sintflut öffnete - eher ein Unort ist. Immer wieder leitet mir meine Cousine die Botschaften von Jörg Meyrer weiter. Er ist Pfarrer in Bad Neuenahr- Ahrweiler. Und er spricht den Menschen Mut zu; einen Mut, der ihm selbst verloren zu gehen drohte und der erst wieder wächst - Tag für Tag - seit Menschen aus ganz Deutschland mit Wort, Tat und Spenden ihm und den Menschen im Ahrtal wieder Zuversicht vermitteln.

Im folgenden der Wortlaut seiner heutigen Botschaft (vom 18. August 2021). Danach greife ich seine Geschichte auf. Er ist jener Pfarrer, den die Bild am Sonntag auf der Titelseite ihrer Ausgabe vom 25. Juli im Kontext der Geschichte "Ganze Familie von der Flut verschluckt" mit den Worten zitiert: "Ich rede nicht mehr mit Gott". Zwischen dem Interview, das Pfarrer Jörg Meyrer der Bild am Sonntag gegeben hat und den nachstehenden Worten liegen fast vier Wochen. Ich gebe das Interview im Anschluss an seine heutige Botschaft im Wortlaut wieder.

Jörg Meyrer am 18. August 2021: "VERBUNDEN Schon ganz lange ist mir klar, dass ich nicht alleine leben möchte. Für mich ist das nicht gut. Deshalb haben immer wieder einzelne im Pfarrhaus mit gewohnt... mit manchen davon hab ich "Leben geteilt", z.B. Marc Weber - Jetzt in der Katastrophe im Ahrtal erleben wir eine ganz neue VERBUNDENHEIT: - fremde Menschen kommen zu uns und packen an, einfach so... und manche davon werden zu Freunden! Ihr kennt alle solche Engel auf zwei Beinen, die für uns da waren und sind. Ihre Solidarität lässt uns leben, ohne ihre Verbundenheit würden wir im Dunkeln verzweifeln, hätten wir die ersten Wochen nicht überstanden. - VERBUNDEN sind wir auch in der Verletzlichkeit. Wir alle tragen schwer an den Erlebnissen der Flut, der Nacht und der Bilder danach, der Nachrichten über die Verstorbenen und das Schicksal von Freunden. Wir müssen nicht immer stark sein, dürfen Schwäche zeigen, weinen miteinander, nehmen uns in den Arm... Das ist ja neu... gab es so dicht und intensiv nicht... und tatsächlich werden wir an den Wunden der Katastrophe noch lange tragen. Und dazu je nach Situation seelsorgliche oder therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist gut! - VERBUNDEN sind wir mit so vielen nicht nur über Hilfe, sondern auch über das Gebet. So viele beten für uns im Ahrtal, versichern das täglich neu, - wahrscheinlich waren es noch nie so viele. Ein Netz aus Gebeten, das uns trägt, auch und gerade wenn wir durchhängen. - VERBUNDEN bleiben, das wäre ein großer Wunsch. Von Walporzheim und in Marienthal weiß ich, dass die anstehenden Entscheidungen täglich gemeinsam besprochen werden, Aufgaben angeschaut und dann verteilt oder gemeinsam angegangen werden. Das ist eine völlig neue Art des Miteinanders! Eine völlig neue Form der gemeinsamen Verantwortung und damit von politischen = gesellschaftlichen Prozessen. Das ist was Zukunftsfähiges, Verbindendes, es holt uns raus aus dem Drehen um uns selbst, das uns auch allein sein lässt... Gemeinsam sind wir stark. VERBUNDEN werden wir die größten Herausforderungen schaffen. Solidarisch wächst uns eine Zukunft entgegen, die auch für die nachfolgenden Generationen noch gut und glücklich lebbar ist. Bleiben wir verbunden!"

"Ein Netz aus Gebeten, das uns trägt, auch und gerade, wenn wir durchhängen." Mir - dem ich der Kirche fernstehe - vermitteln diese Worte gleichermaßen Zuversicht, Mut und Kraft. Unserer große Familie ist ja mehrfach betroffen. Während mein Neffe Haus und Hausstand verloren hat und dem Teufel in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli dem Teufel so eben noch von der Schippe weichen konnte (seine Nachbarin ist in den Fluten ertrunken, ebenso wie enge, auch ihm vertraute Freunde seiner Mutter), beklagen meine Cousine und meine Schwägerin nur den Verlust von Sachwerten, Körperlich unversehrt geblieben stellt sich die Frage nach den seelischen Wunden. Dazu spricht Jörg Meyrer im Interview mit der BamS - erschienen am 25 Juli 2021 unter dem Titel: Pfarrer bricht im BamS-Interview in Tränen aus. Es ist die erste Ausgabe der BamS, die ich in meinem Leben erworben habe, und die Art und Weise der Präsentation befremdet mich. Aber das Interview im Wortlaut mag vielleicht verdeutlichen, wie dünnhäutig der Blick und die Betroffenheit aus der Binnenperspektive ist bzw. war und dass diejenigen, die sich zu Wort melden, sich selbst in einem Ausnahmezustand befanden:

BamS: Wie schaffen Sie es, den Menschen in diesen Zeiten Trost zu spenden?

Jörg Meyrer: Ich bin da, jeden Tag einige Stunden in den Straßen bei den Menschen. Ich rede mit ihnen, höre zu.

BamS: Was erzählen Ihnen die Menschen?

Jörg Meyrer:  Alle sind traumatisiert. Ich bin seit 19 Jahren Pfarrer hier, kenne unendlich viele Menschen. Sie wollen ihre Geschichten erzählen. Sie haben Todesangst erlebt oder Todeskampf. Die Menschen kommen nicht zu mir, um sich Rat zu holen, sondern um sich die Sorgen von der Seele zu sprechen.

BamS: Auch die Gotteshäuser sind schwer geschädigt, zerstört...

Jörg Meyrer: Wir haben drei unserer großen Kirchen verloren, sie sind geflutet worden. Zwei unserer kleinen sind genauso abgesoffen wie alles andere.

BamS: Das sind Orte, an denen Menschen Trost finden.

Jörg Meyrer: Ja, natürlich! Das ist schlimm. Weil die Kirchen einsturzgefährdet sind, dürfen keine Gottesdienste stattfinden.

BamS: Stimmt es, dass alle Todesopfer verbrannt werden?

Jörg Meyrer: Nein, das ist rückgängig gemacht worden. Auch, weil der Bischof interveniert hat. Mehr weiß ich nicht. Es tut mir leid, dass ich Sie so anschreie, ich will das nicht! Das sind die Umstände. Jetzt kommen mir wieder die Tränen.

BamS: Was bringt Sie gerade zum Weinen?

Jörg Meyrer: Das passiert, wenn die Professionalität fällt.

BamS: Sie sind ja auch nur ein Mensch.

Jörg Meyrer: Ja. Natürlich habe ich die Bilder der Flutnacht im Kopf und die Geschichten der Menschen im Ohr. Es geht nicht so schnell weg. Die Gesichter der Menschen, mit denen ich jetzt spreche, die ich alle kenne - wie sie weinen und sich verändern. Wie sie weinen und trotzdem die Schippe wieder in die Hand nehmen und weitermachen und das Lachen nicht verloren haben.

BamS: Welche Worte finden Sie, um Menschen zum Weitermachen zu bewegen?

Jörg Meyrer: Dafür finde ich keine Worte. Das sagen die Menschen zu mir.

Bams: Wächst seit der Katastrophe der Zulauf zu den Gotteshäusern und Gott?

Jörg Meyrer: Nein, die Menschen haben anderes zu tun.

BamS: Beten Sie?

Jörg Meyrer:  Nein, ich rede im Moment gar nicht mit Gott.

BamS: Wieso?

Jörg Meyrer: Weil ich es nicht kann.

BamS: Hat Gott Sie enttäuscht?

Jörg Meyrer: Nein, ich finde keine Worte. Die Worte, die ich sonst gebraucht habe, passen nicht.

BamS: Bitten Sie Gott auch nicht um Hilfe?

Jörg Meyrer: Nein, das muss Gott selber machen. Er weiß doch, was hier los ist und wie es mir geht.

BamS: Stellen Sie sich Fragen nach dem Warum?

Jörg Meyrer: Nein, die Kraft habe ich nicht. Dafür ist es noch zu früh. Wann soll ich denn auch reflektieren? Ich stehe morgens um fünf auf und gehe nachts um zwölf ins Bett. Ich habe keine Antworten, wo soll ich sie hernehmen?

BamS: Sind Sie auch selbst von der Flut betroffen?

Jörg Meyrer: Ich wohne im Pfarrhaus. Das Wasser lief im Erdgeschoss vorne rein und hinten wieder raus. Die untere Etage ist komplett zerstört. Aber ich hatte Glück: Meine Wohnung ist im ersten Stock, da ist nichts passiert. Ich wohne also im Paradies, gehe abends in mein Bett schlafen. Aber ich habe kein Wasser und keinen Strom. Das wird noch lange so bleiben. Wir sind alle überfordert. Sie merken, mir fehlen wieder die Worte. Es sind Bilder wie im Krieg. Damit umzugehen ist schwer. Ich habe so was doch auch noch nie gemacht (weint). Wann denn auch?

BamS: Fangen die Menschen an, jetzt Halt im Glauben zu suchen?

Jörg Meyrer: Das wäre zu viel gesagt. Aber es gibt mehr Menschen, die jetzt daran glauben, dass es etwas über uns gibt. Mit Kirche habe ich momentan nichts am Hut. Das Allerletzte, woran ich gerade denke, ist das System Kirche. Gehen Sie davon aus, dass ich für den Lden Kirche gerade gar nichts mache.

BamS: Für wen machen Sie es dann?

Jörg Meyrer: Für die Menschen, mit denen ich hier lebe (weint). Für wen denn sonst?

BamS: Finden denn wirklich Beerdigungen statt?

Jörg Meyrer: Im Moment sind die Leichen noch gar nicht freigegeben, es darf noch keiner beerdigt werden. Die Menschen können sich nicht einmal von ihren Liebsten verabschieden. Die Stadt fragt uns, wie wir beerdigen wollen. Sie schlägt Uhrzeiten vor und möchte fünf Beerdigungen zur gleichen Zeit stattfinden lassen. Da bin ich gar nicht dafür. Aber diese Sachen machen gerade meine Kollegen. Ich muss bei den Menschen sein. Um ein Lichtlein ins Dunkle zu stellen. Davon gibt es ja zum Glück genug.

BamS: Von welchen Lichtern sprechen Sie?

Jörg Meyrer: Der Zusammenhalt, das ist das hellste Licht. Ohne das gegenseitige Helfen hätten wir uns doch schon längst die Kugel gegeben.

 

Kommt –

Kommt, reden wir zusammen
wer redet ist nicht tot,
es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not.

Kommt, sagen wir:
die Blauen, kommt,
sagen wir: das Rot,
wir hören, lauschen, schauen
wer redet, ist nicht tot.

Allein in deiner Wüste,
in deinem Gobigraun –
du einsamst, keine Büste,
kein Zwiespruch, keine Fraun,

und schon so nah den Klippen,
du kennst dein schwaches Boot –
kommt öffnet doch die Lippen,
wer redet, ist nicht tot.

Gottfried Benn

 

"Jetzt in der Katastrophe im Ahrtal erleben wir eine ganz neue VERBUNDENHEIT: - fremde Menschen kommen zu uns und packen an, einfach so... und manche davon werden zu Freunden!"

Jörg Meyrer findet Trost und Kraft in der Anteilnahme und der tätigen Hilfe so Vieler - Jörg Meyrer wird auch für uns in der Kreuzstraße, in der Apollinarisstraße, in der Otlerstraße und auf Godeneltern zu einer wichtigen Stimme der der Zuversicht und der Versöhnung, für ihn vielleicht sogar mit Gott, dessen Stimme er in der Not nicht mehr zu hören vermochte.

 

 

   
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