Sloterdijk‘sche Ermunterungen – Von mörderischen Beobachtern und poetischen Aussetzungen
Für Bettina!
In den letzten Wochen - das kumuliert bei mir immer um den 21. Juni, die Sommersonnenwende - steht einmal mehr Familie im Vordergrund meiner Beiträge. Soeben erfahre ich von meiner Schwester, dass Bettina - die älteste Tochter ihrer Nichte in Trostberg - ihr Abitur mit der Durchschnittnote von 1,5 abgeschlossen hat. Sechs Jahre ist es nun schon her, dass ich mit meiner Schwester gemeinsam ihren Bruder (wer im übrigen wissen will, warum das nicht mein Bruder ist, erfährt es über Hildes Geschichte) und seine Familie in Trostberg besucht habe. Bettina stieg demnach seinerzeit eben in die Mittelstufe ein. Ulla erzählt mir, dass Bettina nun in Regensburg ein Studium der Rechte beginnen will. Zu alldem, zum überwältigenden Erfolg im Schulabschluss möchten wir gratulieren.
Wir wünschen Bettina einen guten Start ins Studium. Mit dem Einstieg ins Studium verbindet sich einer jener markanten Wendepunkte im Lebenslauf, von denen in Niklas Luhmanns Skizze zu einer Lebenslauftheorie die Rede ist. Den nachfolgenden Text widme ich Bettina. Möge sie ihre Silbe weiter auf diese Weise zum Klingen bringen:
"Jeder Mensch verkörpert eine Silbe, ein einmaliges unverwechselbares Gewächs aus Konsonanten und Vokalen, eine lebende Silbe, unterwegs zum Wort, zum Text [...] Was wir das Individuum nennen, ist zunächst nur das lebende Pergament, auf dem in Nervenschrift von Sekunde zu Sekunde die Chronik unserer Existenz aufgezeichnet wird [...] Nur weil wir schon mitten in einer Geschichte sind, können wir anfangen, unsere Geschichte zu erzählen. Wir sind im status quo genommen alles andere als unbeschriebene Blätter. Vom ersten Atemzug an, ja von den frühesten Stadien der intrauterinen Nacht an, ist jedes Leben schriftempfindlich wie eine Wachstafel – und irritierbar wie der lichtempfindlichste Film."
Bettina ist bereits mitten in ihrer Geschichte - und sie erzählt eine beeindruckende Geschichte mit ihrem Schulabschluss und dem Weg dorthin. Dass der Weg ein guter und erfolgreicher werde, dass wünschen Ulla, ihre Großtante, und Josef, der Bruder ihrer Großtante!
Vorbemerkung zu den Sloterdijkschen Ermunterungen:
In Zeiten, da sich rechtes Gedankengut wieder beginnt breit zu machen und dabei sogar auf Akzeptanz stößt, geht es nicht mehr nur um poetische Aussetzungen. Es geht um klare Positionierungen in einer seit 71 Jahren Bestand habenden Demokratie, die als Geschenk der Siegermächte daherkam. Stand sie, betrachtet aus der Logik eines nie wirklich einstellungsmäßig verankerten und verwurzelten - und letztlich gescheiterten Versuchs republikanischer Grundorientierung in der Variante der Weimarer Republik eigentlich auf verlorenem Posten, so hatte sie erst recht nach dem 12 Jahre andauernden Terrorregime der Nationalsozialisten mit den materiellen und seelischen Verheerungen eines verlorenen Krieges und in dessen Rahmen erfolgten - nahezu - singulären Gewaltorgien -vor allem des Holocaust - umzugehen.
Die Wiedergeburt deutscher Tugenden spiegelte sich zunächst im frühen Wirtschaftswunder und hatte ihr Pendent nicht nur in der Unfähigkeit zu trauern, sondern vielmehr in der Abwehr und Zurückweisung der notwendigen Auseinandersetzung mit der kollektiven und individuellen Schuldfrage. Mit der Revolte Ende der 60er Jahre zeigte sich die Ambivalenz einer unausweichlichen Konfrontation sowohl mit den faktischen Verfehlungen des Nationalsozialismus als auch mit den unzureichenden individuellen Möglichkeiten, dieser Konfrontation auf angemessene Weise zu begegnen. Die Revolte von '68 war notwendig, sie hat die Republik verändert - in ihren abartigen Auswüchsen des Terrors von links ist sie Geschichte. Erst mit der Rede Richard von Weizäckers am 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag gewann diese unumgängliche Auseinandersetzung Sprache und Form, so dass sich all das, was wir heute mit der Errungenschaft einer adäquaten Erinnerungskultur verbinden, Zug um Zug entwickeln konnte. Richard von Weizäcker redete Klartext:
"Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft."
Es kann und darf kein Zurück geben hinter diese Einsicht! Dazu gehören zweifellos auch die Versuche sich mit der Rolle der Deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg auseinanderzusetzen (erster Versuch der Wehrmachtsausstellung 1995). Neuerdings alarmiert uns Terror von Rechts und die Versuche einer Geschichtsklitterung vom rechten Rand her, dessen Repräsentanten inzwischen in allen deutschen Parlamenten sitzen. Dafür gilt es sich im Übrigen zu schämen. Die alte Scham, die aus Schuld Verantwortung wachsen ließ, bekommt ein neues Gesicht. Und zur Scham kommt der Zorn angesichts der unsäglichen Äußerungen eines Björn Höcke und seines präsenilen Schutzpatrons Alexander Gauland.
Mit dieser kurzen Einleitung geht es mir vor allem darum, darauf hinzuweisen, dass auch der politische Diskurs etwas mit Selbstaussetzung zu tun hat. Das aktive Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht heute in der Auseinandersetzung mit VertreterInnen des rechten Spektrums, denen genau diese freiheitlich-demokratische Grundordnung ein Dorn im Auge ist. Denn sie geht - der Nazi-Ideologie diametral entgegengesetzt - grundsätzlich von der Gleichheit der Menschen aus. Positionen, die Theodor W. Adorno uns genauso ins Stammbuch geschrieben hat wie Zygmunt Bauman. Gerne mag als Beispiel auch meine Auseinandersetzung mit Bernhard Schlinks: Der Vorleser dienen!
Sloterdijk‘sche Ermunterungen – Von mörderischen Beobachtern und poetischen Aussetzungen - Auskopplung aus der Mohnfrau
1988 hatte Peter Sloterdijk die Stiftungsdozentur für Poetik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt inne. In seiner ersten Vorlesung „Das tätowierte Leben“ (Frankfurt 1988, 7-29) greift er die weiter oben bereits erwähnte These Paul Celans auf, wonach sich die Poesie nicht aufzwingt, sondern sich aussetzt: „La poesie ne s’impose pas, elle s’expose“. Jeder Satz, jede Passage der Sloterdijk‘schen Ausführungen sind höchst lesens- und bedenkenswert; sie sind es zweifellos auch unter (sprach)ästhetischen Gesichtspunkten. In ihrem Duktus verlaufen sie analog zur Benn‘schen Idee einer sich an höchsten Maßstäben abarbeitenden ästhetischen Transformation finaler Strömungen, setzen aber dann durchaus andere Akzente: „Die Poesie setzt sich aus, weil sie nicht weniger ist als eine Analogie der Existenz – ein objektloses, offenes Wagnis […] Sichaussetzen und Sichhinaushalten sind konstitutive Bewegungen des Menschen (Sloterdijk 1988, 8).“ Hier ist Peter Sloterdijk ganz bei Gottfried Benn. Die Ausdifferenzierung der folgenden Gedanken zu einem gleichermaßen faszinierenden wie eigensinnigen Gespinst von Metaphern führt allerdings zu der erwähnten Akzentverschiebung, weil sie einer konstitutiven Bewegung folgt, die den existentiellen Grundbestand jedes einzelnen Menschen im Blick hat:
„Meine Damen und Herren, ich spiele gern mit der Vorstellung, dass jeder Mensch eine Silbe verkörpert, ein einmaliges unverwechselbares Gewächs aus Konsonanten und Vokalen, eine lebende Silbe, unterwegs zum Wort, zum Text. Jede dieser Silben wäre ausgewachsen und individualisiert zu einer Gestalt, wie sie in keiner zweiten wiederkehrt, so wie man in alten Eichenwäldern des Südens niemals zwei Stämme von gleichem Aussehen findet. Zu dieser Vorstellung der lebenden Silben füge ich die Annahme hinzu, dass diese Silben sich selbst nicht lesen können, weil sie kein Organ haben, das der direkten Selbstwahrnehmung dient. Was diesen lebenden und sich selbst verborgenen Silben auf die Spur des eigenen Klanges hilft, wäre die Schrift. Sie ist es, die ihnen ein Medium bietet, sich in einem ‚äußeren‘ Material abzubilden, und so entstünde durch viele Schreibversuche und Kombinationen mit Nebensilben hindurch eine Annäherung an die Klanggestalt der sich verborgenen Lebenssilbe (Sloterdijk 1988, 14).“
Schon in meinem ersten Gedichtbändchen lag in der Annäherung an die eigene Klanggestalt offensichtlich ein zentrales Motiv: „Ist man eine Silbe, dann dürfte es nahe liegen, sich hinzuschreiben, und für eine Silbe, die ihren Klang, ihre Niederschrift, ihre Materialisierung, ihre richtigen Nachbarschaften sucht, ist die Formulierung, ‚sie setzt sich aus‘ besonders am Platz (Sloterdijk 1988, 14).“ Was Sloterdijk hier rettet (und was für die eigene Klangerzeugung konstitutiv erscheint, ist an den Begriff der Suche gekoppelt. Hier folgen wir der Ahnung, dass diese Form der Klangerzeugung (über Sprache) auf der einen Seite nie wissen und kalkulieren kann, was dem an Klangwahrnehmung auf der anderen Seite (im sozialen, auf Kommunikation verwiesenen Feld) entspricht.
„Denn jedes Leben ist auf seine Weise auf dem Sprung zur Sprache – es ist schon erfüllt von Klängen, von Wörtern, von Grundbildern und von Szenen, mit denen es den Text seines alltäglichen Romans aufschreibt. Das Anfangenkönnen, das die literarischen Debütanten bei sich besonders stark erfahren, hat seinen Grund in dem Schonangefangensein eines vorliterarischen Lebenstextes. Von der ersten Zeile des ersten Buches an schreibt dieser sich tastend nieder, er verdeutlicht sich, er amplifiziert und steigert sich, wenn es hochkommt, bis zur allgemeinen Lesbarkeit. Nur weil wir schon mitten in einer Geschichte sind, können wir anfangen, unsere Geschichte zu erzählen. Wir sind im status quo genommen alles andere als unbeschriebene Blätter. Vom ersten Atemzug an, ja von den frühesten Stadien der intrauterinen Nacht an, ist jedes Leben schriftempfindlich wie eine Wachstafel – und irritierbar wie der lichtempfindlichste Film. Im nervösen Material werden die unvergesslichen Charaktere der Individualität eingeritzt. Was wir das Individuum nennen, ist zunächst nur das lebende Pergament, auf dem in Nervenschrift von Sekunde zu Sekunde die Chronik unserer Existenz aufgezeichnet wird (Sloterdijk 1988, 15).“
Peter Sloterdijk hat hier selbstredend nicht die Lebenslauftheorie Luhmann‘scher Prägung im Blick haben können (weil sie erst zehn Jahre später in schriftlicher Form hervorgetreten ist); und möglicherweise muten diese Metaphern im Sloterdijk‘schen Frühwerk eher naiv an. Für mich verlieren sie dennoch nicht ihre Faszination, weil das lebende Pergament – auch wenn es sich aussetzt – dies nur vermag als eine mehr oder weniger grandiose (Selbst)Erzählung, als eine Annäherung an die Klanggestalt der sich verborgenen Lebenssilbe. Unter dieser Maßgabe folge ich weiter der Sloterdijk‘schen Metaphernwelt, mit der er so weit geht zu sagen, „dass es die schwarz auf weiß gedruckten Bücher gibt, weil Individuen existieren, die ihr neurologisches Buchsein nach außen kehren. Es sind beschriebene Blätter, die eines Tages sich selber umblättern und Schreibende werden.“ (Sloterdijk 1988, 15) Peter Sloterdijk begründet im Folgenden, warum er für die „angesammelten Beschriftungen“ keinen treffenderen Ausdruck findet als den der Tätowierung, und zwar zunächst einmal in einem metaphorischen Sinn:
„Was mir vorschwebt, sind die Seelentätowierungen, die uns unsere Grundwörter vorsagen und uns unsere Grundbilder einbrennen, es sind die Nerventätowierungen, die sich als Sinnverknüpfungen und Erlebnisbahnungen in uns eingestochen haben, es sind die Engramme, die uns Signale für Alarm und Aktion, für Rückzug und Sehnsucht setzen. Von hier aus gesehen war es nicht ausreichend, wenn ich soeben von den beschriebenen Blättern gesprochen habe, aus denen später Blätterschreiber werden. Was schreiben [sic] macht, ist nicht irgendeine frühe Programmierung, nicht etwas beliebig Gelerntes. Die Grundwörter der Poesie bilden sich über den existentiellen Tätowierungen, die keine Erziehung ganz bedeckt und keine Konversation ganz verheimlicht. Die Poesie redet von den Brandzeichen der Seele her, von den unter die Haut gestochenen Charakteren aus. An diese frühen Zeichen ist auch das entwickelte literarische Sprechen gebunden, durch sie sind die Schreiber ins Dasein immatrikuliert (Sloterdijk 1988, 16).“
Peter Sloterdijk macht in seiner von Pathos geschwängerten Bilderwelt die Sonderstellung des Schreibers deutlich. Da ist – wie gesagt – auf der einen Seite fragwürdiges Pathos: „Wo Tätowierung war, soll Kunst werden, oder: wo Brandmarkung war, soll Sprache entstehen.“ (Sloterdijk, 17) Auf der anderen Seite teilt Sloterdijk kulturkritische Seitenhiebe aus, um seine Sichtweise verständlich zu machen. Der Schreiber wird ja nicht als Schreiber geboren, auch wenn Sloterdijk von existentiellen Tätowierungen spricht. Vielmehr sorge der später gewonnene oder erkämpfte Abstand von den eingestochenen Grundwörtern für den Zufluss neuer Zeichen, durch die die Welt herankomme, um sich in frei Gesprochenes zu verwandeln: Je mehr neue Weltzeichen hinzukämen, desto mehr verblasse auch die alte Nadelschrift, und was wir sagen könnten, entferne sich bis zur Unkenntlichkeit von dem, was sich an unserem Leib selbst sage:
„Zuletzt ist in einer ganz versprachlichten Welt das ferngerückte Gerede selbstläufig geworden – schalten Sie einen beliebigen Sender ein, meine Damen und Herren, öffnen Sie das nächste Magazin, und Sie wissen, was ich meine, Unverbindlichkeit auf allen Kanälen, Leichtsprache aus jeder Redaktion. Sobald das beliebige Reden allgegenwärtig geworden ist, kann auch ein Bedürfnis nach einer Offenlegung der authentischen Tätowierungen aufkommen. Dann aber ist auf einmal von Tätowierung ohne Metapher die Rede. Wo das neubürgerliche Geschwätz herrscht, entsteht ein Hunger nach essentiellen Zeichen, nach blutigen Ritzungen und Brandzeichen der Existenz (Sloterdijk, 17f.).“
Das ist der Punkt, an dem sich möglicherweise zwei ganz unterschiedliche Ausdrucksformen der Selbstentblößung begegnen. Sloterdijk zitiert Hugo Ball, der in „seiner poetologischen Abrechnung mit der dadaistischen Farce“ auf die Idee der offenen Tätowierung eingeht: „Wenn sich die Dichter ihre Verse oder auch nur ihre Urbilder ins eigene Fleisch schneiden müßten, würde wohl weniger produziert werden. Andererseits würden sie den ursprünglichen Sinn der Publikation als eine Form der Selbstentblößung weniger umgehen können (Hugo Ball, zitiert nach Sloterdijk 1988, 19).“ Weder Hugo Ball noch Peter Sloterdijk, der seine Frankfurter Vorlesungen 1988 hielt, konnten ahnen, dass die Welt der Tattoos und der Piercings gegenwärtig dabei ist, zu einer Massenbewegung der Beliebigkeit zu entarten, dass aber gewiss damit Sloterdijks Einschätzung an Überzeugung gewinnt, dass Tätowierung ohne Sprache Monotonie sei, ganz so wie sich Sprache ohne Tätowierung in der Beliebigkeit verliere (vgl. Sloterdijk 1988, 18). Das ist ein heikler Punkt, an dem sich Benns Idee von der unerhörten Formgewinnung finaler Strömungen vielleicht verbinden lässt mit den Ideen des Sichaussetzens der Poesie und der Selbstentblößung des Poeten:
„Inzwischen wissen wir, dass Poesie sich aussetzt, weil sie von etwas Zeugnis gibt, dem ihre Sprecher ausgesetzt waren, ehe es bei ihnen zur Selbstaussetzung kam. […] Wenn die Literatur mit ihrem Veröffentlichungsrisiko das Tätowierungsrisiko erneuert, so entgeht sie der Beliebigkeit und der Dekorativität. […] Aber dass die Poesie sich aussetzt, ist ja keineswegs dasselbe wie die Forderung, dass Publikation Selbstentblößung sei. Und doch ist das eine mit dem anderen durch eine gestische Brücke verbunden. Im einen wie im anderen Fall ist eine offen legende Gebärde vonnöten, ein Sieg über die Atemnot, ein Nachvornegehen, ein Herausstellen, ein Offenlegen und Zuhörengeben, ein Opfer an Heimlichkeit zugunsten von Öffentlichkeit, ein Verzicht auf Privatnacht und -nebel zum Vorteil eines Aufklarens unter gemeinsamen Himmeln (Sloterdijk 1988, 19f.).“
Inwieweit das Opfer an Heimlichkeit und der Verzicht auf Privatnacht und -nebel in einer postmodernen Gesellschaft (siehe z.B. Wolfgang Welsch, Topoi der Postmoderne) noch spürbar wird, mag dahingestellt sein. Aber auch über den Mief einer kleinbürgerlichen Pseudoidylle hinaus muss man sicherlich Peter Sloterdijks anthroposphärischen Hinweis nach wie vor ernst nehmen: „Sollen die Selbstirritationen der Gruppe in einem lebbaren Tonus gehalten werden, braucht das Kollektiv ausreichende Diskretionen für die Seinsdifferenzen, die Besitzdifferenzen und die Statusdifferenzen in seinem Inneren. Diskret ist, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll (Frankfurt 2004, 407).“
In den Poetikvorlesungen aus dem Jahr 1988 setzt Peter Sloterdijk gleichwohl auf die „regenerierende Kraft“ der Poesie:
„Sich regenerieren heißt von vorn beginnen, den Schlüssel immer wieder verlieren, der gestern noch sicher die Schlösser öffnete, es heißt zurückgehen vors schon Gekonnte, sich entblößen bis auf die Tätowierungen, die monoton ins nichtssagende Fleisch eingeschnitten sind, es heißt zurückblättern auf die unbeschriebenen Seiten am Anfang […] [und] die Kunst, wie alle übrige Schöpfung, beginnt mit dem Entschluss, sich zu kompromittieren und dem Sichtbarkeitsrisiko auszusetzen. […] Es gibt Literatur, weil Individuen existieren, die ihr Leben so führen, als befolgten sie den Satz: wo Tätowierung war, soll Sprache werden (Sloterdijk 1988, 23ff.)."
Auch der Umkehrschluss ernüchtert gleichermaßen, macht er doch darauf aufmerksam, dass wir den Blicken der anderen nie entgehen:
„Menschen wachsen in ihre Individualität nicht anders hinein, als indem sie sich einen Reim auf die Differenz von innen und außen machen lernen: sich selbst zu entgehen und für die anderen ein Gegenstand zu sein. Auch wer keine Herztätowierungen zur Schau trägt, muss die Stirn haben, seine Unsichtbarkeit für sich selbst im Krieg der Blicke zu behaupten […] [aber] [a]uch wer wie Siegfried im Drachenblut gebadet hat, trägt dort eine offene Stelle, sein selbstverräterisches Lindenblatt, herzförmig und ichfern, und ohne Zweifel gibt es dafür irgendwo einen mörderischen Beobachter, dem der geheime Fleck wie eine Zielscheibe vor Augen steht (ebd., 23ff.).“
Der mörderische Beobachter! Ich sehe was, was du nicht siehst! Dieses Bild gefällt mir – Bedrohung und Verlockung zugleich, denn wir alle sind mörderische Beobachter. All diesen Einsichten und Begrenzungen unterliegen selbstverständlich auch die in diesem Bändchen zusammengetragenen Erinnerungen und Wirklichkeitsverweise; und selbstverständlich auch alle Beobachtungen. Sie sind im Übrigen mohnverhaftet:
Mohn
Der Mohn ist wie ein kurzes Lachen,
Ein Wimpernschlag –
Er strahlt Und prahlt,
Malt jeden Tag
Und stirbt schon beim Erwachen.
Erblüht zu voller Pracht
Vergeht er über Nacht
Und hält nicht ein Versprechen.
Er taugt als Sinnbild kaum,
Gleicht eher einem Traum,
An dem die Träumer dann zerbrechen.