Hildes Geschichte (in Kapiteln) und wie es weitergegangen ist? In Vorwegnahme von Hildes 96stem Geburtstag am 3. Juli 2020
Sterbebegleitung naher Angehöriger - zumal der Mutter - bedeutet heute grundsätzlich, sich in eine Grenzsituation zu begeben (siehe: Sterbetagebuch meiner Mutter - auch in diesem Beitrag). Dies hat einerseits damit zu tun, dass die meisten von uns in den relativen Komfortzonen mitteleuropäischer Wohlfahrtsstaaten leben; Grenzsituationen sind uns fremd bzw. man kann sie meiden. Dies bedeutet andereseits, dass man sie annehmen muss, um zu erfahren, was Sterben u.U. heute im gewohnten medizinischen Parcours bedeutet. Im Falle meiner Mutter gab es weder eine Patientenverfügung noch eine Vorsorgevollmacht. Gewiss liegt eine Anregung darin, über entsprechende Regelungen nachzudenken und sie mit Sorgfalt zu gestalten.
Nachstehend das Schlusskapitel von Hildes Geschichte - das Sterbertagebuch meiner Mutter. Seine seinerzeitige Veröffentlichlung und die heutige Einfügung in meinen Blog stellen ein Plädoyer dar für die (heilende) Kraft der Sprache im Sinne einer Formgebung. Im Prozess des Protokollierens und der intuitiven lyrischen Formgebung ist es mir seinerzeit gelungen standzuhalten; standzuhalten über 10 Tage eines intensiven, nach kurzer Zeit erkennbar irreversiblen Sterbeprozesses. Als solcher hat er einem seinerzeit 51jährigen den letzten Anstoß zu einem verantwortlichen Leben als erwachsener Mensch vermittelt und - wie oben bemerkt - sich Grenzsituationen konsequent zu stellen (siehe Demenztagebuch). Insofern sind diese Aufzeichungen gleichermaßen beispielhaft wie authentisch bis zum letzten Buchstaben! Wenn man wissen will, wer Franz war, was er mit meiner Mutter Hilde und meiner Schwester Ursula zu schaffen hatte, und was sie beispielsweise nach Flammersfeld in ein Entbindungsheim der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt geführt hat, dann kann man sich über die beiden Links zu Hildes Geschichte und Franz den notwendigen Einblick verschaffen.
Ich bin gespannt, wo ich den Faden wieder aufnehmen werde? Mit dieser Frage endet dieses Sterbetagebuch. Und ich möchte vorweg andeuten, dass sich dieser Faden inzwischen zu einem dichten Gewebe entfaltet hat, in dem wieder und wieder die im wesentlichen nicht final zu beantwortende Frage im Raum steht, wie sehr Hildes Geschichte unser aller Geschichten durchwirkt. Wir alle - im familialen Kontext - sowohl als ihre blutsverwandten Kinder, Enkel und Urenkel, Nichten und Neffen als auch die im verschwägerten Sinne Außentstehenden - spüren nach wie vor - graduell natürlich in unterschiedlichem Ausmaß - ihre Wirkmächtigkeit. EnkelInnen und UrenkelInnen mögen in ihrem erwachsenen Leben, gereift und dann selbst - hoffentlich - auf ein langes Leben zurückblickend mit Blick auf dieses Sterbetagebuch ermessen können, dass sich mit Hildes Geschichte nolens volens ein sozialer und emotionaler, konfliktträchtiger Knotenpunkt unserer Familiengeschichte offenbart.
Hilde hat über fast 60 Jahre weder von Franzens Tod erfahren noch davon, dass ihre Ursula in Österreich nicht nur einen, sondern zwei Brüder hat. Bar jeder therapeutischen Beratung oder Erfahrung hat Hilde – vermutlich noch in Flammersfeld – vor ihrer Heimkehr, alle Dokumente, alle Erinnerungen schriftlicher oder fotografischer Art vernichtet, verbrannt, so dass mit dem Weg in ihre Heimatstadt eine Strategie der verbrannten Erde für viele Jahrzehnte die Spuren und damit auch die Ressourcen zu einer Geschichte, die eine Liebesgeschichte war, und aus der die kleine Ursula hervorging, auslöschen, zudecken und verleugnen sollte. Und um all dies zu unterstreichen und zu zementieren ließ sie sich schließlich amtlich bestätigen und besiegeln, dass der Vater Ursulas „unbekannt“ sei!
Und jetzt stehe ich – dessen Geburt in diesen Juni-Wochen 1942 so fern wie unwahrscheinlich war - hier in Remagen, wo vieles, wo zumindest die kleine Ursula ihren gesegneten Anfang nahm, und sinniere mit Niklas Luhmann darüber, dass der Lebenslauf aus Wendepunkten besteht, an denen etwas geschieht, was nicht geschehen müsste. Angesichts des Todes bleibt nur noch die Feststellung, dass es für jeden von uns jenen Wendepunkt ins Nichts, in ein „Jenseits“ gibt, das sich unserer Erfahrung ebenso entzieht, wie unsere Ausstoßung in diese Welt:
2003, am 1. Mai, blieben Dir, liebe Mutter, dieser am 3. Juli 1942 eben erst 18 Jahre alten jungen Frau, noch 88 Tage bis zu diesem finalen Wendepunkt – 88 Tage von 28.859 Tagen, die dein Leben dauern sollte. Von diesen 88 Tagen hast du den größten Teil in Krankenhäusern und Kliniken verbracht; man könnte sagen, eine letzte Anstrengung zum Tode hin, während das Sterben 10 Tage des zähen Abwehrens beanspruchte. Am 1. Mai (2003), am Muttertag habe ich dich begleitet und die merkwürdigen Umstände, die uns dabei zugemutet wurden, hatten zu tun mit dem Infarkt der örtlichen Gesundheitseinrichtungen, kamen Deinem Infarkt gleich und dramatisierten ihn zugleich. Da in Bad Neuenahr, in der Stadt, die du Zeit deines Lebens nur an wenigen Wendepunkten für kurze Zeit verlassen hast, die Kliniken am Betteninfarkt erstickten, mussten wir in die Warteschleife. Deine notärztliche Versorgung geschah im Krankenwagen und erst nach einer Stunde öffnete das Krankenhaus in Remagen seine Schleusen zur Notaufnahme, um dich am selben Tag noch nach Neuwied einzuweisen – zum Kathetern der Herzkranzgefäße. Des Abends habe ich dich erschöpft, aber ein wenig beruhigt, verlassen, um dich die nächsten drei Monate bis in deinen Endkampf hinein zu begleiten. Dein Krankenhaus war fortan Remagen, die aufnehmende und abgebende Klinik, in die ich alleine, mit deiner Schwiegertochter, deinen Enkelinnen und mit deiner Tochter für die nächsten 14 Tage zu Besuch kam. Dass sich hier ein Kreis schließen würde – gerade 1 Grad fehlte noch, um ihn zu vollen, satten, finalen 360 Grad zu runden – war uns im Mai 2003 nicht wirklich klar.
In der Umlaufbahn um deine Mitte hattest du noch keine 80 Grad zurückgelegt, in deinem 18. Lebensjahr, da dieser Ort (Remagen) für dich und für uns zu einem Schicksalsort werden sollte. Im Mai 2003 stand ich in der obersten Etage des Krankenhauses in Remagen, das unmittelbar, parallel zur Bundesstraße 9 liegt, unweit des Bahnhofs; ein typischer Zweckbau aus den 70er Jahren – mit seinen 4 oder 6 Geschossen und natürlich linksrheinisch. (44) Von dort sieht man rheinaufwärts auf die Erpeler Ley und kann unterhalb die rechtsrheinischen Pfeiler der „Ludendorff-Brücke“, der „Brücke von Remagen“ erahnen, die im März 1945 weitgehend intakt in die Hände der Amerikaner fiel. Und die über 14 Tage hielt, lange genug, um die Bildung eines starken Brückenkopfes auf der rechten Rheinseite zu ermöglichen, von dem aus der Vormarsch Richtung Osten und ins Ruhrgebiet nicht mehr aufgehalten werden sollte.
Es mag wie eine verteufelte Ironie des Schicksals wirken, wenn ich 70 Jahre nach der Geburt deiner Tochter und nahezu 9 Jahre nach deiner letzten „Remagener Etappe“ im Bericht Kurt Gätzschmanns über die letzten Einsätze des Panzerregiments 33 der 9. PD lese: „12.3.1945: Die Amerikaner hatten starke Kräfte in den Brückenkopf (Remagen) geworfen… Aber die Deutschen verstärkten die 15. Armee mit der 9. PD, der Pz. LehrDiv. Und der 3. Pz GrenDiv. und mehreren Inf.- bzw. Volksgrenadier-Divisionen.“ Und drei Tage später, zum 15. 3.1945 findet sich folgender Vermerk: „Die rückwärtigen Teile der Abteilung verlegen über Altenberg – Benzberg – Overath – Much – Schönenberg – Eitorf und Kircheib nach Mehren. Stab über Benzberg - Gummersbach – Auchel – Waldbröl – Wissen – Roth – Hamm– Lenscheid und Weyerbusch nach Flammersfeld.“
Es liegt mehr als nahe, dass der Stab des PZRegiments 33 Quartier in dem zu diesem Zeitpunkt ganz sicher bereits aufgelösten Entbindungs- und Mütterheim der NSV (45=34) – die Flammersfelder nannten es Parteihaus – genommen hat; dort wo Ursula, deine und Franz Streits Ursula, das Licht der Welt erblickt hat. Dass Franz zu diesem Zeitpunkt seit fast 1 ½ Jahren tot war, den „Heldentod“ für Deutschland gestorben war, sollten du und deine Tochter erst 60 Jahre später erfahren. (46)
Und dass deine Erinnerungen an Remagen besonders mit dem Jahr 1941 verbunden blieben, war fast eben solange dein ganz persönliches Geheimnis. In jenem September 1941 und den folgenden Monaten mögen sich Träume und Traumata unauflöslich ineinander verwoben haben und fortan einen Nexus aus Glück, Glücksverheißung, Kränkung, Enttäuschung, Schuld und Scham begründet haben, aus dem heraus dein künftiges Leben Sinngebung und Sinngrenzen gleichermaßen bezog: Wie du geliebt und gehasst, wie du gelobt und getadelt, wie du Freude und Trauer erfahren und gelebt hast, hat sich damals zuerst in wenig mehr als drei Wochen und dann über Schwangerschaft und Geburt tief eingekerbt in dein und unser aller Leben.
Aber es gab ja damals nur dein Leben in deiner Familie mit Mutter, Vater und Schwester, weniger behütet als von Erwartungen, Bedrängnissen und Enttäuschungen geprägt:
- Wann bist du „nach Hause“ gekommen? Wann musstest du wieder das harte Brot essen und die schwere Luft atmen, aus der sich Atmosphäre, Klima und Ordnung nährten, in der du fortan mit deiner Tochter den Weg in ein neues, ein anderes Leben gehen konntest?
- Wie viele Chancen hast du liegen lassen in all den Jahren durch den Krieg und nach dem Krieg hinein in die betäubte junge Republik der 50er Jahre, hinein in die Zeit des Wirtschaftswunders und das Heranwachsen Deiner Kinder?
Ja, neben und zu Ursula wuchsen mit Franz Josef und Wilfried zwei weitere Kinder aus dir in diese Welt, (47) in die Welt der Revolte, in die Welt, in der wir alle kämpften in dieser Familie und um diese Familie; die Familie, die eine große, schier unerschöpfliche Integrationsmaschine zu sein schien, diese Familie, in der sich alle Familien erkennen lassen, sofern es in ihnen Menschen gibt, die Verantwortung dafür übernehmen, wie Menschen in diese Welt kommen, einen Weg in ihr finden – und wie sie sterben.
- Wie viele Chancen hast du liegen gelassen, nein nicht wider besseres Wissen, sondern vielmehr, weil du es nicht besser wusstest?!
- Wie viele Chancen blieben ungenutzt, deiner Tochter das Menschenrecht auf das Wissen um die eigene Herkunft und Ursprung zuzugestehen? Damals, als Ulla verstört und verbittert nach Hause kam, weil die Mitschülerinnen sie ausgelacht hatten, bloß weil deine Tochter unbedarft und naiv auf die Frage des Schulrats nach ihrem Namen geantwortet hatte: „Ursula Witsch, geborene Lahnstein“!
- Damals, als deine Tochter Ursula begann, sich auffällig zu zeigen, auffällig im Sinne von aufsässig, renitent, nicht mehr zu bändigen in ihrer Wildheit, kein sanftes Bärchen, sondern ein lebendiges, quirliges aus sich selbst herauslaufendes, - springendes, tobendes Kind, das mit einsetzender Pubertät keine Ordnung, keine Autorität und keine Regeln mehr respektierte, zu spät nach Haus kam, sich „rumtrieb“ – „schlechten Umgang“ hatte!?
- Damals als die Not groß war und der Weg nach Bensberg (48) in die Klosterschule unausweichlich, „alternativlos“ wurde? Für ein halbes Jahr – dem Terror der Zwangsschwesternschaft ausgesetzt, gedemütigt, zur Ordnung geprügelt und diszipliniert – von Frauen, denen man das Frau-Sein und das Frauliche genommen hatte. Und die deshalb die unleugbaren und unvermeidbaren Reste ihres Frauen-Schicksals, blutige, stinkende Binden den besonders schwer Erziehbaren, so wie deiner Tochter, zur nachhaltigen Reinigung im Waschzuber überließen?
- Damals, als deine Tochter – vor der Zeit in unruhiger, maßloser Erwartung dein eigenes Schicksal bestätigte und erfüllte und sich schwängern ließ – vor ihrem 18. Geburtstag mit 17!!! Und dir dann den Enkel gebar, an dem du deine Mutterinstinkte erneut im Übermaß ausleben durftest und den du zutiefst berührt und geprägt hast und der Dir bis heute ein ehrendes Andenken bewahrt?
- Damals, als unser aller sozialer- und im Falle von Willi und mir auch biologischer Vater, das Vatertier, den späten Tod des früh Versehrten starb und Ulla ihre Bemühungen um Licht in ihre Herkunft erneut verstärkte?
- Damals, als du bereitwillig und konsequent der Empfehlung deines Schwiegersohns folgen konntest, der – dir ergeben und treu wie ein Vasall – seine Frau immer gezügelt hat mit dem Verweis, dass all diese Bemühungen ein Schlag ins Gesicht des besten Vaters bedeute, den man sich nur wünschen und vorstellen könne?
- Damals, als deine Jungs begannen an der Überbehütung deines Enkels ihren starken Anteil zu nehmen? Als die Habenichtse begannen aus dem Wenigen das Viele zu schöpfen, um jene Schuld abzutragen, die seit Jahrzehnten im System wie eine Goldmonstranz stand, wie ein Monolith, den jeder sehen, den aber niemand antasten durfte?
- Damals, als eine Ehe nach der anderen deiner Tochter scheiterte? Deine abweisende Haltung gegenüber dem Begehren Deiner Tochter Licht in eine abgesunkene von der Aura des Heimlichen zehrende Geschichte zu bringen, hat sich auch nach Deinem Tod erst nach und nach aufgelöst und relativiert.
- Wie konntest du eigentlich unsere Mutter werden?
- Wie konntest du uns zu Prinzen machen, zu diesen Generatoren sozialer Integration und beharrlicher und liebevoller Kugellager, die selbst im erdbebenerschütterten Mienenfeld familialer Beziehungswüsten beharrlich und mit verbundenen Augen Wege suchen, auf denen das galaktische Unterfangen der Versöhnung immer noch seinen Lauf nimmt?
- Warum entsteht hier das merkwürdige Motiv, einer „Selbstbezichtigung“, indem die, die da noch kommen sollten, sich irgendwann beginnen als „Prinzen“ zu verstehen?
Unsere Schwester war auf unverhoffte Weise in dieses Leben gekommen und trug die Hypothek der ihr zugeschriebenen „Vaterlosigkeit“ („Vater unbekannt“) bis ins hohe Erwachsenenalter. In ihren Brüdern erfüllte sich eine kaum noch für möglich gehaltene Hoffnung, eine unerfüllte Sehnsucht. Während sich in ihnen eine vorwärtstreibende, kraftvolle Sinngebung manifestierte, blieb Ursula die ewig präsente, sich entfaltende Mahnung einer rückwärtsgewandten Verleugnung. In dem Maß, wie sie begann, ihr väterliches Erbe zu verkörpern, wuchsen innerer Druck und Zwang in dir, ihren Ursprung und eine damit verbundene Erweckung zu verleugnen. Über Deine Schande sollte Gras wachsen und die Erosion des Vergessens und Verdrängens den Humus bilden, aus dem ein neues, unbelastetes Leben wachsen konnte.
Der erste dünne Firn wuchs ja noch in den Jahren nach
der Heimkehr.Vermutlich bist du ja schon Mitte/Ende Juni 1942 von Flammersfeld nach Bad Neuenahr zurückgekehrt, mit bangem Herzen und beraubt um die Liebe deines Lebens.
- Hat deine Tochter dir das Leben gerettet?
- Hast du nach dem „Liebestod“ von Franz, nach der Enthüllung des anderen Franz, der dir damals schon eine brutale Variante des: „Wer bin ich und wenn ja wie viele?“ vermittelte, hast du irgendwann nicht mehr leben wollen?
- Hast du aufgehört zu essen und zu trinken, hast du Löcher in deine zerstörte, um jegliche Hoffnung beraubte Welt gestarrt?
- Hast du auf deine Weise die sanfte, der Erholung dem Aufbruch dienende Melancholie der Wöchnerin zur ausweglosen Depression anwachsen lassen?
- Haben dir die besorgten Schwestern, die von dir verehrte und geschätzte Hebamme in Sorge um dein Baby wieder so viel Pflicht- und Ehrgefühl vermittelt, dass es weiterging?
- Hast du stillen können?
- Hast du deine, nein – eure Ursula annehmen können?
- Hat dir die reine Wonne – eine gesunde, kräftige Tochter – aufgeholfen?
- Wann bist du aus der Betäubung des Schlags, den Franz dir beigebracht hat, erwacht?
- Vielmehr, wann hast du begonnen, die selbst gewählte moralische Haltung, das Ausreißen und Ausmerzen deiner Mensch- und Frauwerdung zu begreifen?
- Und wie hat sich das angefühlt?
- Ist daraus eine dich einhüllende Glocke geworden, die dir immer nur getönt hat, von der Sünde, die sich nun rächt? – über die du selbst zur Verkörperung der Ursünde geworden bist?
- Und wer hat dich aus der Knechtschaft erlöst und den Bannstrahl von dir genommen, die das dumpfe Christentum gegen dich und den mit dir im Bunde stehenden Teufel verhängt hatte?
„Ich wünsch mir eine kleine Ursula!“
Gewünscht hat sich der sture, ehrbewusste Josef Lahnstein sie sich gewiss nicht. Und deine Mutter?
So wie ich euch alle miteinander in meiner Erinnerung bewahrt habe, hat die Liebe obsiegt. Keine laute, tönende Liebe! Eine stille, duldende, aufnehmende, und vor allem nicht mehr abwehrende, gekränkte Liebe.
Natürlich sind es Bilder (50-55), die mich dies in erster Linie glauben lassen. Und das Auffälligste dabei: Es sind wohlgefällige, frohe, offene Situation, in denen die Freude überwiegt. Ihr hebt die kleine Ursula heraus aus jeder nur denkbaren Niederung des Fühlens und Betrachtens. Der Opa strahlt, die harten Züge seines kantigen Gesichts erscheinen wie weichgespült – und du? Du hältst deine Tochter wie ein Juwel, hoch, wie einen besonderen Schatz.
Dein Wohlgefallen und Strahlen gibt all diesen Bildern die Tiefe und Wärme, die bis heute, 70 Jahre später, keinen Zweifel lassen daran, wie Mutter und Tochter zueinander stehen. Und selbst die Oma strahlt mit ihrer Enkelin auf dem Arm, während Ullas Tante, meine Tante Annemie, einem ebenfalls strahlenden Wonnekind zärtlich und behutsam die Schokoladenreste von den Lippen wischt. Jawohl Schokolade, im Frühjahr 1943 – alle diese Fotos sind entstanden, wie eine Serie von Fotos. Sie unterstreichen ein großes Einvernehmen, das nicht den geringsten Zweifel daran lässt, wie sehr die kleine Ursula Sonne, Wärme und Licht in diese Familie trägt. Und selbst Jahre später – vielleicht 1945 oder 1946 strahlen Mutter und Tochter auf einem besonderen Foto – meinem Lieblingsfoto – um die Wette: (56)
Als hätte jemand ganz bewusst, mit Sinn für Regie und Dramaturgie, euch lange in Szene gesetzt, immer wieder, solange bis die Aura dieses Augenblicks in allen Nuancen und aus allen nur möglichen Facetten einer Bildsprache ins nächste Jahrtausend herüber strahlt!
Auf einer Blumenwiese; im Hintergrund die Landskrone, sitzen Mutter und Tochter wie eine beseelte Marmorskulptur – strahlend, eine Einheit, in der die Übermutter Schutz, Wohlwollen und liebevolles Zugewandtsein in einer bewegenden Melange verkörpert. Den rechten Arm als Stütze, mit breiten, ausladenden Schultern eine starke erste Raute bildend, sitzt du mitten auf dieser Wiese, die Beine angewinkelt, so dass unter dem hellen Saum deines Kleides dein linkes Knie sichtbar wird und in eine fließende Linie übergeht mit der Unterschenkel und Fuß diesen Schwung aufnehmen und auffangen.
Du trägst ein hochgeschlossenes – vermutlich leinenes weißes Kleid mit würfelgroßen Karos. Deine Haare sind – wie „damals“ – links gescheitelt, lassen die Ohren fast frei und rahmen – schulterlang – dein offenes, strahlendes Gesicht. Du füllst dieses Motiv vollkommen und ganz – du bist das Motiv, vor dem eine, vielleicht 4- bis 5jährige Tochter, ebenfalls strahlend, Gestalt annimmt. Während dein rechter Arm, wie eine monumentale Stütze, der kleinen Ursula Halt gibt, lehnt sie ihren Kopf an deine rechte Schulter. Ihre Haare sind links gescheitelt und euer beider Wangenfalten unterstreichen in paralleler Weise den doppelten Schwung von Kinn und Lippen. Und du zeigst deine weißen, strahlenden Zähne – auch die mehrfach unterstrichen von den ovalen, schwungvollen Applikationen deines Kleides. Aber die Vollendung der Harmonie liegt in euren gegenläufig angewinkelten linken bzw. rechten Unterarmen, so dass sich Ullas rechte und deine linke Hand suchen und finden. Auf diese Weise bilden deine Schultern und eure Arme eine größere, umfassende Raute. Der Horizont, der natürliche Rahmen dieses Bildes, entsteht aus der von links hinten immer steiler aufsteigenden Linie, die im abgeflachten Kegel der Landskrone ausläuft, einen letzten sanften Aufschwung nimmt, bevor sie erst stärker, dann nur noch sanft abfällt, um im rechten Bildrand hinter Bäumen auszulaufen. Dahinter öffnet sich schon das Rheintal. Dort liegt Remagen, verborgen und unsichtbar.
Aber wer hat euch für dieses Foto in Szene gesetzt? Wen strahlt ihr so offen und unvoreingenommen an? Könnte es Theo, der „Nachbarsjunge“ sein? Theo, der dir aus Kindheit und Jugend in nachbarschaftlicher Verbundenheit vertraut ist? Und der Mitte 1946 aus amerikanischer Gefangenschaft heimkehrt, der den Krieg – zwar versehrt – aber augenscheinlich unbeschadet überstanden hat?
Wann hast du zum ersten Mal bemerkt, dass Theo dich anders angeschaut hat?
Zu meinem „Lieblingsfoto“ gibt es ein weiteres, auf dem ihr alle drei – du, Ulla und Theo – zu sehen seid. (57) In ähnlicher Weise bilden du und Ulla eine Einheit. Du stehst hinter deiner Tochter, sie könnte schon 6 Jahre alt sein und sie kopiert exakt deine Körperhaltung. Sie steht zwischen deinen Armen, mit denen du sie leicht hältst und reicht dir eben bis zur Brust. Theo steht auf einem Bein, dem linken, das rechte Bein bzw. den rechten Fuß übers Schienbein so abgewinkelt, dass die Fußspitze am linken Standfuß Widertand findet und die Ferse in einem 45°Winkel nach oben weist. Dadurch wirkt er, als falle er ein wenig aus dem Lot, neigt sich dir zu, so dass seine rechte Schulter von deiner linken verdeckt wird. Es könnte sogar sein, dass seine rechte Hand deine linke hält. Ihr steht vor euer beider Elternhäusern und lacht in die Kamera. Lahnsteins Haus und Witsche Haus bilden in der Vertikalen eine scharfe, schwarz-weiß konturierte Trennlinie, wobei ihr als Triumvirat vor der weißen Hauswand der Lahnsteins einen starken Kontrast erzeugt, verstärkt durch die ausladenden Äste des Kastanienbaumes, der damals offensichtlich noch vor Witsche-Haus steht und euch wie ein schützendes Dach beschirmt.
Gehört ihr da schon zusammen?
Für das dicke Brett, das Theo wohl von 1946 an gebohrt hat, gab es weder die passende Zwinge noch den geeigneten Bohrer. Ein jeder materialkundige und auch enttäuschungsfeste Zimmermann oder Schreiner hätte sich an diesem „Werkstück“ vergeblich versucht und die Zähne ausgebissen. Er hätte aufgegeben, sich weicheren Hölzern zugewandt. So viele Astlöcher und Verwindungen hätten jeden überfordert. Theo nicht! Aber damit nicht genug. Was macht ein Geselle, wenn er an seinem ambitionierten Meisterstück feilt und hobelt und nicht nur das Werkstück sich sperrig zeigt, sondern alle, die da hilfreich sein könnten, ihre Unterstützung und Ermunterung versagen? Die einen aus Schuld und Scham, die anderen aus Hochmut und Verachtung: „Du kannst dir deine Kinder doch selbst machen – du musst die doch nicht heiraten – du kannst jede haben, auch andere Mütter haben schöne Töchter!“ Vor allem – so ist es überliefert – hat sich wohl deine Schwiegermutter (58) Theo gegenüber auf diese abfällige Weise geäußert. Dein Schwiegervater (59) mag sich aus heimlicher Sympathie vielleicht zurückgehalten haben, solange seine Frau ihren fragwürdigen, aus der Zeit heraus verständlichen Einfluss geltend machte. Ihren Sohn Theo, ihren einzigen Sohn, hat sie mit ihren Einwänden und Vorbehalten nicht erreicht. Der hatte wohl die auffällige Sturheit und Beharrlichkeit, die in seinen Kindern weiterlebt(e).
Jedenfalls öffnet es der Phantasie ein weites Feld, zu ergründen und darüber zu spekulieren, wie er dein Herz umgarnt und schließlich geöffnet hat. Und ihr lebtet ja am östlichen Ende der Stadt mitten in Wiesen und Feldern, da wo sich das Ahrtal weit öffnet, im Osten die Landskrone, im Westen der Neuenahrer Berg und mitten drin die Ahr.
Du hast mehr als drei Jahre Zeit gehabt, dich auseinanderzusetzen mit Sünde, Schuld und Sühne. Und es mag Tage, Wochen und Monate gegeben haben, in denen Verantwortung und tägliche Pflicht das Korsett bildeten, um den aufrechten Gang nicht zu verlernen. Behutsam, Schritt für Schritt hast du dich zurück getastet mit einem besonderen Sensorium für das Wohlwohlen und die Wertschätzung in deinem Umfeld, besonders des Vaters. Aus jedem Moment der Aufmerksamkeit, jeder Nuance, die ein Mehr an Normalität offenbarte, wirst du den Nektar gesogen haben, um wieder dazuzugehören.
- Wie oft hast du nachts wach gelegen oder im Hinüberdämmern das strahlende Lachen des Franz Streit in deinen (Wach-)Träumen gesehen?
- Wie oft hast du dich nach seinen zärtlichen Berührungen gesehnt, seinem Zuspruch, seinem unwiderstehlichen Charme und Optimismus?
- Und wie sehr haben die Ursünde und die Erbschuld dir den Schweiß auf die Stirn getrieben und dir die einmal geweckte weibliche Lust ausgetrieben?
Am Anfang war das Wort – und danach nie mehr; kein Brief hat dich jemals mehr erreicht – oder vielleicht doch? Man hat uns erzählt, Franz sei noch einmal in Bad Neuenahr gewesen.
- Hat er nicht doch Briefe geschrieben und versucht dich umzustimmen; dir, die du seine Briefe und das einzige Bild, das dir geblieben war, im reinigenden und verbitterten Akt der Vernichtung, der Ausmerzung jeglicher Erinnerung dem Feuer übergeben hast? Du hast Feuer mit Feuer bekämpft!
- Wie lange hat es gedauert, bis die Glut zur Asche geworden war?
Franz hat sich viele tausend Kilometer durch die russische Hölle trockener Sommer und eiskalter Winter gekämpft. Er ist im Spätsommer 1943, am 23. September 1943, gefallen. Von da an gab es gewiss kein Lebenszeichen mehr.
- Aber was geschieht mit einer Sehnsucht, die keinen Spiegel findet, kein Echo und zum Schluss auch kein Fühlen und Erinnern mehr?
Viele Jahre später solltest du es am Beispiel deiner Tochter erfahren, die deine Sehnsucht und deine erloschene Hitze aufnehmen sollte – bis an das Ziel ihrer verzweifelten Suche nach dem, was du aufgeben musstest.
Und dann kam Theo (sein Soldbuch liegt vor mir): (60)
vom 26. 12. 1942 bis zum 8. 1. 1943 „auf Erholungsurlaub“
vom 28. 9. 1943 bis zum 11. 10. 1943 „auf Erholungsurlaub“
vom 23. 2. 1944 bis zum 9. 3. 1944 „auf Genesungsurlaub“
vom 8. 10. 1944 bis zum 23. 10. 1944 „auf Einsatzurlaub“
Er war der Sohn eurer Nachbarn. Eure Häuser standen Hausbacke an Hausbacke, eure Gärten vereinigten sich zu einer offenen Fläche. Dahinter war Acker- und Brachland, gutes Futterareal für eure Stallhasen. Weihnachten 1942 hat Theo deine Ursula zum ersten Mal gesehen, ein knapp acht Monate altes strahlendes Mädchen. Er wird sich gewundert haben. Auf den Sommerbildern – gemeinsam mit deiner Tochter dominiert, beeindruckt, spricht die Melange einer gleichermaßen früh gereiften wie ihrer vollen Reife erst langsam entgegengehenden jungen Frau.
Ich kann den Franz Streit verstehen. Er hat den ersten Reifeschub auf ungeahnte, vielleicht ungewollte Weise ausgelöst. Der acht Jahre jüngere Theo Witsch, der dich von Kind an kannte, wird Weihnachten 1942 große Augen gemacht haben. Von deiner Schwangerschaft wird er erfahren haben, vermutlich über seine Schwester, die ihm, nur 8 Tage jünger als du, berichtet haben wird – und von seiner Mutter, die dir nicht wohlgesonnen war und die wohl zu denen gehörte, die kein gutes Haar an dir gelassen haben.
Aber Theo hat den Bazillus wohl schon ins Jahr 1943 mitgenommen, und er hat ihn in sich anwachsen lassen – hatte er schon ein Foto von dir? Er hat diesen Bazillus in sich groß und mächtig werden lassen, so groß und übermächtig, dass er seiner Mutter widerstanden hat.
Aber er hat ja nicht nur seiner Mutter widerstanden, sondern er hat begonnen, die Stimmen seiner Mutter und all der Wohlanständigen in dir mit Engelszungen und unendlicher Geduld zu besänftigen. Viele Jahre hat er sich nicht verbittern, nicht enttäuschen und nicht entmutigen lassen. Möglicherweise hat nicht ihm, sondern dir der frühe Tod seiner Mutter die Türe geöffnet, die dir durch das Verdikt der befleckten Empfängnis in den Augen von Theos Mutter verschlossen bleiben sollte.
Und worüber hier zu lesen steht, ereignet sich ja erst in den Nachkriegsjahren. Im Familienstammbuch sind der 21. August 1948 als Tag der standesamtlichen Trauung und der 18. September 1948 als Tag der kirchlichen Trauung (übrigens in der kath. Pfarrkirche zu Remagen!) beurkundet. (61) Um aber den letzten Gedanken von der „verschlossenen Türe“ aufzugreifen und auch noch einmal zu unterstreichen, drängt sich der Hinweis auf, dass eure Hochzeit genau drei Wochen nach dem frühen Tod der Mutter bzw. Schwiegermutter stattfindet. Ganz sicher hatte sich Theo noch zu Lebzeiten der Mutter durchgesetzt und möglicherweise auch gegen ihre ablehnende Haltung seinem Herzen den Vorrang gegeben. Wie aber um alles in der Welt ist es ihm wohl gelungen, dein Herz noch einmal zu öffnen für die Liebe? Es war doch auch schon Liebe!? (62)
Wie wir wissen, war es nicht deine erste Liebe, und vielleicht seid ihr – vielmehr bist du – auch eher den umgekehrten Weg gegangen. Während nach aller Erfahrung die erste große romantische Liebe zu Beginn vor lauter Inbrunst nicht weiß wohin und durch ihre Allgegenwart Fühlen und Denken gleichermaßen bestimmt, im Laufe der Zeit aber abkühlt, ist eure Liebe beharrlich gewachsen je länger sie dauerte.
Vom Jahreswechsel 1942/43 an, hat Theo vermutlich das Bild der jungen Mutter mit ihrer halbjährigen Tochter tief in seine Seele aufgenommen.
Dieses Bild hat ihn durch die letzten Kriegsjahre begleitet – vielleicht ist es ihm zur Vision geworden. Ihn muss irgendwann die Vorstellung bis zur Stur- und Starrsinnigkeit beherrscht haben: „Die oder keine!“ Und irgendwann hat er mit seiner Sturheit all die Vorbehalte und Wunden in dir zugedeckt, die dich lange verschlossen haben, weit entfernt von jeder Ahnung und Absicht sich noch einmal zu öffnen für das Wagnis und die Belastung einer neuen Liebe.
Liebevolles, beharrliches Werben, Da-Sein, ganz einfach DaSein, Zuhören, vorsichtiges, zurückhaltendes Fragen, Verstehen, „Verzeihen“, ohne Theo gegenüber jemals Schuld auf dich geladen zu haben (abgesehen von der „Notlüge“ auf dem Remagener Bahnhof), wirst du lange dieses dumpfe, lähmende Gefühl in dir zugelassen haben, nicht ebenbürtig zu sein. Das sichtbare Stigma eines „vaterlosen“ Kindes ohne die Aura der unbefleckten Empfängnis wird dich vermutlich auch da noch abweisend erscheinen lassen, wo Theo dein Herz schon berührt hatte.
Diese Zeilen wären niemals geschrieben worden, der unendliche Fluss einer starken Liebe wäre versiegt, hätte Theo irgendwann die vollkommene Aussichtslosigkeit seines Liebenswahns, ja seiner Liebesblödigkeit in sich aufkeimen lassen. „Der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen.“
Diese lapidare Feststellung gewinnt ihre folgenreichste undramatischste Phantasie in der Vorstellung von der absoluten Zufälligkeit allein schon unserer Zeugung und Geburt. Die wundersame und poetische Unwahrscheinlichkeit, mit der wir ins Leben gestoßen werden, erfüllt sich zweifellos in den Umständen von Ullas Weg ins Leben. Aber eben diesen so profanen wie verrückten Umständen, die im August/September 1941 die Welt bewegten, verdankt der Schreiber vermutlich sein eigenes Leben.
Theo, der im Dezember, am 11. Dezember 1922 geborene vertraute Nachbarsjunge, hätte gegen den 1914, am 3. September geborenen, gestandenen, welterfahrenden Mann keine Chance gehabt. Es ist die Blindheit und die Brutalität der ersten Liebe, mit der sich Hilde gebunden hat und gebunden hätte, hätte man ihr dazu die Chance gelassen. Und es ist der offene Blick auf das Unabwendbare, mit dem Theo als junger Mann, selbst 1948 – als Bräutigam – noch jünger als Franz 1941, endlich Hilde überzeugt, das alles gut, alles richtig ist und dass er der kleinen Ursula jener Vater sein wird, den ihre Tochter in ihr Herz aufnehmen wird. (63)
Deinen Mann, Theo, unseren Vater, hast du um 15 Jahre, 3 Monate und 3 Tage überlebt. Franz Streit, der Vater Ursulas, der Vater von Gert und Werner, hat dir mit seinem finalen Wendepunkt fast 60 Jahre voraus. Und ich? Ich bin jetzt endgültig jener Sohn, den du am 21. Februar 1952, fast 10 Jahre nach der Geburt deiner Tochter in diese Welt hinein geboren hast und trete ein in diese Rolle – für die nächsten 80 Seiten.
51 Jahre später – so alt war ich 2003 – habe ich deinen finalen Wendepunkt, an dem das geschehen sollte, was in jedem Leben unausweichlich und notwendig wird, seismografisch registriert – in deinem Sterbetagebuch. In der Fuge deines Lebens will ich dem basso continuo nicht nur im Beginnen folgen, sondern auch in seinem Verklingen.
Und ich möchte heraus horchen, welche Motive, welche Töne, welche (Dis-)Harmonien nachklingen und sich zu neuen Klangfolgen verdichten. (64)
Ja, ich weiß, ein Tagebuch – auch ein Sterbetagebuch – ist kein Instrument der Kommunikation. In einem Tagebuch verdichten sich bestenfalls Tintenkleckse zu mehr oder weniger bedeutungsvollen und sinnträchtigen Gedankensplittern, bewahrt vor der Ereignishaftigkeit und dem gnadenlosen Zerfall, die mit ihrem Gedacht-Sein einhergehen – Zerfallsprodukte mit atemporaler Zeitstruktur. Dein Sterbetagebuch konnte zuletzt nichts haben von der heimeligen Schreibstube, die ich mir immer wieder einrichte; in der man gediegen und gelassen die Unterschiede zwischen „erlebtem“ und „erzählten“ Leben zu registrieren vermag und in diesem Schürfen nach Sinn dem Fluss des Lebens die menschliche Seite abgewinnt.
Genau 10 Jahre später – im Juli 2013 –, der Zeitpunkt, an dem ich es hier nahezu unverändert einfüge, kommt es mir selbst wie das Zucken und Zappeln einer Fliege vor, die in die Marmelade gefallen ist. Ein Zucken und Zappeln deshalb, weil so eindrücklich wird, wie brutal der Abstand schrumpft, der der Not und der Hitze dieses Aufbruchs ins Finale ein wenig Linderung und Milde hätte vermitteln können. Aber in dieser Klammer vom gleichermaßen chaotischen wie spurenmächtigen Aufbruch ins Leben, seiner Weitergabe bis hin zu seinem Verlöschen, liegt die Bedingung für das, was war und das, was kommen darf: Die Geschichten, die dem gnadenlosen Zerfallsprozess unseres Erinnerns Einhalt gebieten und aus dem Ozean des Vergessens jene Sinninseln schöpfen, die unserem Wandern und Driften eine Richtung geben:
Das Sterbetagebuch von Hilde (27.02 bis 27.07.2003)
27/02/03
Wie sehr ist doch die Angst der beständige Grundton, der immer in unserem Leben mitschwingt. Niemand von uns bezieht wirklich eine tiefe, satte Gelassenheit aus einem nüchternen und gleichwohl ruhigen Dasein – ständig umgeben von Bedrohungen und Verlusten. Wir haben es so gelernt und tief in unserem Habitus ausgeprägt, dass diese Welt mit den Unterscheidungen von Haben und Nicht-Haben, Sein und Nicht-Sein erst eine menschliche Welt ist, wenn sich Beziehung ereignet. Immerhin haben Claudia, Laura und Anne heute Morgen, um 7.30 Uhr angerufen. Sie sind wohlbehalten in Sulden angekommen. Heute Nachmittag fahre ich nach Bad Neuenahr, 4. Etage, Zimmer 400 im Krankenhaus Maria Hilf. Ich habe die Nachricht vom Sturz Mamas mit stoischer Ruhe aufgenommen. Ich wusste, dass das wohl irgendwann so kommen würde – und mit allen fatalen Erinnerungen an meinen Opa, der 1970 wohl auch einen Lendenwirbelbruch erlitten hat, wovon er sich nicht mehr wirklich erholte. Ich hoffe, Mama hat eine Chance.
Heute ist der 2. März 2003 – Karnevalssonntag. Nach über drei Wochen herrlichstem Winter- bzw. Frühjahrswetter hat die typische Sauerei eingesetzt: Schmuddelwetter. Dennoch habe ich einen Spaziergang mit Biene über den Heyerberg gewagt und bin nun im Weinhaus Schwaab eingekehrt, der einzige Ort, an dem Biene – trotz ihrer Schlammpracht – willkommen ist. Claudia und die Kinder sind in Südtirol zum Schilaufen, und ich hatte mich auf ein paar Tage solo gefreut. Morgen fahre ich zum dritten Mal nach Bad Neuenahr. Meine Mutter hat, wenn es gut läuft, mit ihrem Lendenwirbelbruch drei Wochen Krankenhaus, flach auf dem Rücken liegend, zu überstehen – mit anschließender Rehabilitation. Im Gegensatz zu den letzten Besuchen in der Kreuzstraße (bei meiner Mutter) halte ich es im Krankenhaus nicht lange aus. Die Atmosphäre bedrückt mich. Wenn Mama auf die Pfanne muss, verlasse ich – der Kläranlagen-Sozialisierte – schon freiwillig den Raum; bei der Bettnachbarin ohnehin. Der Geruch, der mich früher kalt gelassen hat, irritiert mich. Das, was sich gegenwärtig zuträgt – und hoffentlich noch einmal bewältigen lässt – habe ich immer schon als eine konkrete Bedrohung kommen sehen: Eine zunehmend auf Hilfe angewiesene Mutter, die irgendwann einmal zum Pflegefall wird. Dazu ungeklärte Beziehungen, die das Notwendige zum eher Außergewöhnlichen geraten lassen. Das Notwendige und das Selbstverständliche in unserem Leben sind – um mit Susanne Gaschke zu sprechen – gleichermaßen die liebevolle Sorge und die Fürsorge für die noch unselbstständigen Kinder wie für die auf Hilfe angewiesenen alten Eltern. Wir sind immerhin noch zu zweit – meine Schwester und ich. Allerdings müssten die beiden endlich mehr zueinander finden und die alten Begrenzungen überwinden. Ich bin 50 km weg, eingebunden in Beruf und Familie, in die Gülser „Großfamilie“, die uns wahrscheinlich in kürzester Zeit über den Kopf wachsen wird.
13/03/03
Heute fällt mir noch nicht einmal ein Satz ein, den ich für eintragenswert halte. Gestern waren es 14 Tage, seit Mama ins Krankenhaus eingeliefert wurde – mit einem „doppelten, stabilen Lendenwirbelbruch“. Seit einer Woche bemühen wir uns um die „Heil-Anschlussbehandlung“. Es sieht so aus, dass eine Chance für eine Reha in Burgbrohl besteht.
15/03/03
Immerhin ist nach intensiven Bemühungen der Bescheid über die Verlegung von Mama nach Burgbrohl zu Stande gekommen ist. Am Montag (17.3.) wird sie nach Burgbrohl gehen, voraussichtlich für drei Wochen. Am Freitagmorgen war ich in Bad Neuenahr und habe mich um den Fortgang der Reha gekümmert. Tante Annemie ist an diesem Freitag, dem 14.3., 75 Jahre alt geworden. Sie war vormittags zu einer Infusion im Krankenhaus. Wir – Gaby, Tante Annemie und ich – haben uns bei Mama getroffen. Mittags war ich noch kurz in der Kreuzstraße, und wir haben noch eine Suppe miteinander gegessen. Einerseits gibt es einen kleinen Hoffnungsschimmer. Mama und Tante Annemie haben sich gegenseitig versichert, dass sie – wenn Mama wieder zurück ist aus der Reha – sich noch intensiver miteinander abstimmen wollen. Andererseits herrscht eine immer deutlicher werdende Endzeitstimmung. Bei einem Glas Sekt mit Beatrix und Heinz hat Tante Annemie betont, sie wünsche sich nichts, gar nichts, außer dass sie wieder gesund werden wolle – sie hat sich allerdings umgehend korrigiert und gemeint, sie wisse, dass sie nicht mehr ganz gesund werde, aber sie wolle doch, dass es ihr besser gehe. Und bei meiner Mutter überwiegt auch die Einsicht und das Sich-Fügen in eine Welt mit immer mehr Einschränkungen und Begrenzungen. Ich bin gespannt und auch voller ängstlicher Erwartung, ob nach den drei Wochen Burgbrohl ein „neuer Anfang“ möglich sein wird.
Der „Abenddämmerung“ im Privaten (die Alten gehen nach und nach, und wir rücken auf in deren generative Position) entspricht eine „Abenddämmerung“ im generellen Klein- und Großklima unserer gegenwärtigen geistigen und wirtschaftlichen Situation. Mit fast fünf Millionen Arbeitslosen, einer immer sichtbarer werdenden Ausfransung an den sozialen Rändern verbindet sich eine Stimmungslage, die sich in fast allen Feldern des gesellschaftlichen Lebens breit macht. Alle Systeme, ob Wissenschaft, Gesundheit, Erziehung, Wirtschaft, drohen an ihrem Reformstau zu ersticken. Wen wundert es da, dass auch im psychischen System, im Bewusstsein der Menschen eine negative Stimmung überhand nimmt.
18/03/03
Heute Nachmittag war ich zum ersten Mal in Burgbrohl. Seit gestern ist Mama dort in der Klinik St. Josef zur „geriatrischen Rehabilitation“; offensichtlich ein gut geführtes Haus, in dem nur Oberschenkelhälse, Hirnschläge, Osteoporose in Verbindung mit Frakturen „rehabilitiert“ werden. Vielleicht ist von daher mein Eindruck nicht vorbehaltlos positiv. Aber ich hoffe, dass die drei Wochen reichen, um Mama wieder so viel Selbstständigkeit und Unabhängigkeit zu ermöglichen, dass sie buchstäblich wieder auf eigenen Füßen stehen kann.
28/03/03
Freitagnachmittag – fast schon obligatorischer Spaziergang mit Biene über den Heyerberg. Das Wandern hat das Fahradfahren abgelöst. Das ist bemerkenswert, weil mir durchaus bewusst geworden ist, dass die sportlichen Aktivitäten der letzten 5-6 Jahre einerseits einen „psychohygienischen“ Hintergrund hatten, zum anderen aber auch eine Auseinandersetzung mit dem Älterwerden signalisieren. Insbesondere im letzten Vierteljahr setzt sich die Auffassung durch, in Ruhe und in Gelassenheit dieses Älterwerden, das Alt-Werden anzunehmen. Ja, und dann stellt sich die unausweichliche Frage: „Was willst du noch in diesem Leben; was erwarte ich noch von diesem Leben?“ Ich bin durchaus der Überzeugung, dass ich zu spät diese Frage offen in mir und mit mir austrage. Das ist aber nur ein Teil der unausweichlichen Fragestellung! Damit verbunden ist immer die Fragestellung, was erwarten die anderen von dir? Eine nüchterne Antwort darauf hat Susanne Gaschke in der ZEIT formuliert. Ich zitiere sie immer wieder, weil sie sowohl faktisch als auch auf dem Hintergrund der für mich ethisch bedeutsamen Orientierungen die Richtung vorgibt: Für diejenigen, die Kinder und noch Eltern haben, stellt sich die Herausforderung alltäglich so dar, einerseits Fürsorge und Erziehung der Kinder zu gewährleisten, ihnen den Weg durch und ins Leben nach bestem Wissen und Gewissen zu ermöglichen, mit Fürsorge und Herzenswärme. Letzteres gilt mit umgekehrten Vorzeichen für die eigenen Eltern, nämlich sie mit Fürsorge und Herzenswärme durch ihre letzten Jahre und in den Tod zu begleiten.
Und wo bleiben dabei die Sandwicher? Nun, die meisten Familien- und Paartherapeuten sind der Auffassung, die Ehe und erst Recht die Familie seien ohnehin keine Institutionen, um das Glück zu gewährleisten. Und in der Tat zerbrechen viele Ehepartner an dem angedeuteten Übermaß der Erwartungen und Verpflichtungen, zumal wenn sich dazu noch wirtschaftlicher Druck entfaltet. Dann ist die Einsicht in die Vergänglichkeit der chemotionalen Verblendung besonders schmerzhaft. Bei Susanne Gaschke kommt die Forderung nach einer Kultivierung der Doppelmoral unverhohlen daher mit der Einsicht, dass auf der anderen Seite der Aufrichtigkeits- und Bekenntnisterror ehelicher oder eheähnlicher Zwangskorsette den unausweichlichen Erstickungstod bedeuten. Die Veränderung zu einer partnerschaftlich orientierten Beziehung hin bedeutet für viele Paare die eigentliche Herausforderung. Und immer stellt sich die Frage, ob die Tatsache einer langjährigen Beziehung alleine schon hinreicht, um mit Zuversicht und Kraft an dieser Aufgabe weiter zu arbeiten. Wie nahe müssen sich Menschen gekommen sein, wenn nach vielen Jahren Verzweiflung, Überdruss und Resignation dominieren. Wie kann es sein – und wie gelingt es dann – sich Fragen zu öffnen bzw. Antworten zu finden, die neu sind, bedrängend und ängstigend. Aus der Sicherheit und der Harmonie aller Tage fällt der eine mehr, der andere weniger in einen
Abgrund, der ihm völlig fremd ist. Der Preis für ein Harmoniestreben und ein konfliktfreies Miteinander ist häufig über die Maßen teuer. Es kostet den Eigensinn, die Eigenart, manchmal die Lebendigkeit, ja und die Selbste..., die Selbstständigkeit, die Selbstverantwortlichkeit, die Selbstliebe, die Anteile des Selbstbildes, die nicht passen, die nicht angepasst sind an die Erwartungen des Fremdbildes.
21/04/03
Heute haben wir den 79igsten Geburtstag meines Schwiegervaters Leo gefeiert, ruhig und bescheiden mit einem Mittagessen am Ostermontag auf der Ankerterrasse und anschließendem Kaffeetrinken auf dem Heyerberg. Gestern waren wir in Neuenahr. So wie es aussieht, hat meine Mutter noch einmal einen Anfang in ihrer Wohnung gemacht. Helga hat sie vor einer Woche aus Burgbrohl abgeholt und am Ostersonntag hatte sie ein köstliches Essen bereitet und wir haben alle miteinander – durchaus hoffnungsfroh – zusammen gesessen. Immer wieder einmal kommt mir in solchen Situationen der Gedanke: Schade, das Willi – mein Bruder – das Heranwachsen seiner beiden Mädels und seiner beiden Nichten nicht mehr miterleben kann.
23/04/03
Heute ist Mittwoch – Bank, Reuffel, Uni, Bad Neuenahr: Unabdingbares, Notwendiges. Gestern Abend, nachdem wir miteinander das Sorgerechts-Gezerre um einen Jungen angeschaut hatten – mit einem schönen, wirklichkeitsfernen Happy-End – las ich zufällig noch in Joachim Ernst Behrendts Autobiografie: Sein „Schuldeingeständnis“, flankiert von Hermann Hesses „Stufen“ – schockierend die Ausführungen über Abtreibungen in den frühen fünfziger Jahren mit seiner Beteiligung, frappierend und ernüchternd seine Beziehungen zu Frauen und seine Legitimationsangebote; deprimierend und hilflos seine „einzige, wirkliche Schuld“: seinem Sohn Christian gegenüber.
8/5/03
Mit Worten deiche ich Sinninseln ein Und lege Erinnerungsland trocken. Mit Worten wässere ich Erinnerungswüsten Und speise die Quellen der Wüstenoasen.Mit Worten besänftige ich meine Seele Und befriede die Zwischenräume.
(Nein, natürlich nicht alleine,
Aber erste Wörterschritte oft aus meinem Mund.)
Mit Worten unterscheide ich das eine,
Und nicht das andere,
Meine ich das andere und nicht das eine.
Was wohl du, was ich wohl meine.
Mit Worten folge ich meiner Neugier.de Und ringe mit ihnen um meine Gier.
Mit Worten beglücke ich die Nahen Und denke mir die Fernen nah.
Doch mit Worten alleine lebt nur Papier.
Und wenn ich bebe und schwebe,
Wächst mit Worten das feine Gewebe
Zwischen euch, zwischen dir und hoffentlich mir.
Ein schönes Gedicht – es hat um Haaresbreite noch den Weg
in meine Gedichtsammlung gefunden. Inzwischen ist schon wieder Freitag, der 9. Mai im übrigen – quick, quick, quick – tack, tack, tack...
Ach ja, natürlich (fast) jeden Mittwoch fahre ich nach Bad Neuenahr. Mama hat sich wieder gefunden, hat noch einmal einen Anfang gemacht, zur rechten Zeit, ins Frühjahr in den Sommer hinein.
16/05/03
Die letzte Eintragung vor acht Tagen, hier oben in Nassheck vorgenommen, endet optimistisch. Tags zuvor war ich in Neuenahr, dachte: das nächste – vielleicht das letzte Plateau, die Hochebene – ist erreicht. Jetzt noch einmal ein paar ruhige Jahre mit den Beschränkungen und Weisheiten des Alters. Wir hatten den Muttertag, den 11. Mai, sorgfältig geplant: Erster Teil in Güls – Mittagessen und erster Kaffee mit Lisa und Leo, meinen Schwiegereltern. Zweiter Teil bei Ulla – Kaffee in Ahrweiler, wo Mama schon zum Mittagessen sein sollte. Morgens früh erhalte ich einen Anruf von meiner Cousine Gaby, Mama gehe es nicht gut, abends zuvor habe man den ärztlichen Notdienst gerufen – Unwohlsein, Schwäche. Ich gehe am Sonntagmorgen noch zum Fußball – habe ja die Schlüsselgewalt – mittags, schon unruhig, esse ich noch mit allen gemeinsam in Güls, bekomme keine Telefonverbindung, fahre voller Unruhe los und komme zeitgleich mit meiner Schwester in Neuenahr an. Wir finden Mama in einem kläglichen Zustand – Tante Annemie, ihre Schwester kümmert sich, so gut es geht. Wir rufen erneut den ärztlichen Notdienst, der mit einem mobilen EKG dann einen Herzinfarkt diagnostiziert. Eine halbe Stunde später ist der Rettungsdienst da, aber wir wissen nicht wohin. Erstversorgung und untätiges Warten – bis zu dem Zeitpunkt, da Remagen als aufnehmendes Krankenhaus genannt wird. Alle Intensivstationen sind belegt. Es vergehen zwei Stunden bis wir nach einer Schleichfahrt Remagen erreichen. Mir schwant, was in den nächsten Jahren und Jahrzehnten auf uns zukommt. Mama hält sich tapfer. Ich muss vorne in der Fahrerkabine sitzen. In Remagen wird sofort erwogen zu kathetern, was man aber hier nicht kann. Nach einer weiteren Stunde ist klar, dass noch heute eine Weiterverlegung in DRK-Haus Neuwied vorgenommen werden soll. Schließlich sind wir dann gegen 18.00 Uhr endlich in Neuwied – Ultraschall, Röntgen – Erschöpfung – Überleben. Ich bin gegen 21.00 Uhr zu Hause. Am Montagnachmittag erfahre ich, dass morgens die Herzkatheteruntersuchung vorgenommen wurde. Eine erste Entwarnung. Am Dienstagnachmittag wird Mama zurück nach Remagen verlegt. Inzwischen wird bereits erwogen, nach dem 26.5. die Reha einzuleiten, wahrscheinlich in Bad Bertrich. Haben wir noch einmal Glück gehabt. Sind wir noch einmal davon gekommen? Heute Nachmittag war ich mit Anne noch in Remagen.
18/05/03
So weit – far a way, wie weit?
Ich reife zu den Früchten hin, zu eignen und zu fremden, wie taub und blind ich immer bin, in mir und auch zu Fremden!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! Höre „Back on top“ von Van Morrison – wie so oft hoch über der Mosel auf meinem Hochsitz, der Blick ins unendliche Grün – im Rücken das Leben! Gehe immer weiter, immer weiter, weiter, weiter, weiter weg. Waren heute Nachmittag in Remagen. Mama geht es besser.
22/05/03
Merkwürdig, die Eintragung vom 16. endet mit der Frage: „Haben wir noch einmal Glück gehabt, sind wir noch einmal davon gekommen?“ Danach gibt es nur noch den Eintrag kurzen Eintrag vom 18/05. Hier in Nassheck wird mir erst wieder vollends bewusst, wie trügerisch die Frage und ihre möglichen Antworten daherkommen. Am letzten Freitagmorgen erreicht Ulla ein alarmierender Anruf von Mamas Bettnachbarin. Die hatte Mama morgens früh um 7.00 Uhr blass und leblos vorgefunden, hatte die Ärzte zusammengetrommelt und von Mama noch Ullas Telefonnummer erfragen können. Ulla hat mich um 7.30 Uhr noch zu Hause erreicht. Ihre Schilderungen klangen mehr als beunruhigend. Ich habe mich gegen meine innere Überzeugung entschlossen, zu Arbeit zu fahren. Wohlwissend, wie es bei Papa war, dass dem ersten Herzinfarkt häufig ein zweiter, in der Regel dann lebensbedrohlicher Infarkt folgt. „Selbstbilder“ und „Tod, Sterben, Trauer“ sind meine beiden Freitagsseminare im Sommersemester. Bereits nach dem Vortrag, der Einleitung zu den kindheitsbezogenen Interviews, merke ich, dass es nicht geht. „Das Ich-als-Kind-Buch“ (Donata Elchenbroich) bleibt mir im Halse stecken. Das heißt der Vortrag ist genial, man kann eine Stecknadel fallen hören – in meiner Stimmung gerät der Vortrag aus Donata Elchenbroichs „Weltwissen der Siebenjährigen“ zur Demonstration, zum Fanal des Ausdrucks der Wertschätzung, die Eltern ihren Kindern entgegenbringen. Meine gesamte Kindheit lässt sich als ein Buch der Ermöglichungen und der Wertschätzung beschreiben, und so war es nur folgerichtig, dass mir spätestens in diese Kontext die Dummheit und Fragwürdigkeit meiner Entscheidung, zur Arbeit zu fahren, überdeutlich wurde. In einem den Tränen nahen Zustand habe ich den Teilnehmerinnen erklärt, warum ich die Veranstaltung an dieser Stelle abbreche und nach Remagen fahre. Dort traf ich meine Mutter auf ihrem Zimmer an, sichtlich erschöpft. Aber die entscheidende Botschaft war: Kein zweiter Infarkt. Offensichtlich hatte eine temporäre Durchblutungsstörung den bedrohlichen Zustand ausgelöst. Seither beobachte ich, dass meine Mutter geistig wach und rege ist, dass aber ihr körperlicher Zustand, ihre physische Konstitution von deutlicher Schwäche gekennzeichnet ist. Auch heute war ich mit Anne in Remagen, bevor wir zum Reiten gefahren sind. Als wir in Remagen aufs Zimmer kamen, erzählte uns die Bettnachbarin, dass Mama zur Fußpflege sei. Nach einer Viertelstunde brachte sie ein Pfleger aufs Zimmer zurück und zwar in einem Rollstuhl. Von dort bewegte sie sich ins Bett, sichtlich erschöpft – vor allem im Ausdruck der Augen spiegelt sich eine Erschöpfung, die ich früher so nicht gesehen habe. Allerdings fällt mir auf, dass mein Schwager Ernst – nach fast sieben Wochen Krankenhaus einen ähnlich ängstlich-erschöpften Ausdruck in den Augen hatte.
23/05/03
Toccata und Fuge d-moll BWV 565
24/05/03
Heute letzter oder vorletzter Besuch von Mama in Remagen. Am Montag geht es in die Reha nach Bad Bertrich. Nachdem Ulla weg war, haben wir beide uns heute ganz unspektakulär über Sterben und Tod unterhalten. Da uns nahe Menschen so viele schon vorausgegangen sind, lag darin eine Unausweichlichkeit, vielleicht auch eine Gnade. Natürlich haben wir alle Angst, aber in der Gewissheit, uns nicht zu verlieren, mildert sich alles ab. Vielleicht ist dies endlich einmal ein Basis, doch noch ein paar Jahre auf dem Hochplateau des Alters zu wandern. Obwohl – und dies ist eben genauso unausweichlich – niemals war mir deutlicher und eindringlicher, wie alt Mama jetzt ist. Aus ihren Augen schaut meine Oma, die ja „nur“ 72 Jahre alt geworden ist – und noch etwas anderes.
29/05/03
Heute ist Christi Himmelfahrt – „Vatertag“. Um 11.30 Uhr bin ich zu meiner „Vatertagswanderung“ mit Biene losmarschiert. Wir haben einen neuen Weg für uns entdeckt. Über den Heyerberg hoch – Richtung Rübenach. Auf der Höhe der Straße Richtung Westen bis zur alten L 125, dann entweder rechts oder links entlang nach Winningen, ohne Pause ca. 1½ bis 2 Stunden, je nach Tempo. Mittagessen mit Claudia in Winningen, Rückweg zu Fuß – alleine. Die Kinder sind unterwegs: Anne mit Freundinnen im Winninger Freibad, Laura mit Ann-Christin und Anna in der „MuckiBude“ und anschließend ins Kino. Heute treffen sich Torben, der Tante Annemie mitnimmt, und Gaby, die aus Bernkastel kommt, gemeinsam mit Mama in Bad Bertrich. 1½ Wochen zuvor hatten Ulla und ich Mama von Remagen aus dorthin gebracht. Zuversicht und Skepsis halten sich die Waage. Ich war gestern dort und habe Mama in einem schon viel besseren Zustand angetroffen. Sie hat Kontakte geknüpft, kann alles Notwendige alleine regeln, geht selbstständig zu den Mahlzeiten, nimmt ihre Anwendungen und Reha-Maßnahmen wahr – immerhin! Die Reha hier in Bad Bertrich geht von anderen Voraussetzungen aus, die Therapie ist auf Infarkt-Nachsorge ausgerichtet, während in Burgbrohl vermutlich eine permanente Überforderung gegeben war.
4/06/03
Wenige Eintragungen – sitze gerade an der Uni auf dem Behindertenscheißhaus (sehr komfortabel, da ist sooo viel Platz, es ist hell und außerdem ist die Schüssel höher montiert, was meinen Hebelverhältnissen durchaus entgegenkommt.) Ja, wenige Eintragungen nur – nachvollziehbar, weil jetzt endlich mein Gedichtbändchen in den Druck gehen kann – bin letztlich doch sehr zufrieden damit. Es enthält einige Perlen und stellt sprachlich – bezogen auf das, was ich fühle und denke, das mir derzeit Mögliche dar – einmal abgesehen von den wirklich intimen „unveräußerlichen“ Absonderungen im Affekt. Ich finde es jedenfalls sehr beachtlich. Mal schauen, wie die Resonanz sein wird – „Aussetzung“! Gestern Nachmittag war ich in Bad Bertrich. Trotz der schwülen Hitze fand ich Mama stabiler, als ich mir es in Remagen noch je hätte träumen lassen. Alle halten mich für sonderbar – bin so oft es mir nur möglich war, dorthin gefahren und habe mit Mama jeweils ein paar ruhige, teils sehr harmonische Stunden verbracht. Über Pfingsten laufen die letzten redaktionellen Korrekturen an meinem Gedichtband „Das Leben – Ein Klang: Gedichte – Aphorismen – Gedankenspiele“; ein schöner, solider Band mit rund 60 Gedichten und einer „Lyrographie“. Letzteres ist „meine Erfindung“, die wahrscheinlich so abgefahren ist, dass sie keiner von den wirklichen Lyrikern, von den Etablierten in Erwägung ziehen würde. Aber durch meine intensive Auseinandersetzung mit konstruktivistischer Erkenntnistheorie, die meine Lyrik ebenfalls sehr nachhaltig beeinflusst, bekommen diese Gedankenspiele und Reflexionen eine durchaus sinnvolle und attraktive Färbung.
8/06/03
Pfingstsonntag – über Güls mit Blick vom Heyerberg auf den Friedhof: Alles ist ruhig, einige wenige Menschen (vier kann ich zählen) machen sich auf dem Friedhof zu schaffen – alle mit Kannen, eine mit Blumen. Sie sind „geschäftig“. Ich sitze hier oben und „trauere für sie“ – nein, Quatsch, natürlich für mich – ruhig, mit Kroke (Klezmer) im Ohr. Wer kümmert sich eigentlich um unsere Gräber – ich meine die in Bad Neuenahr, wo Mama jetzt nicht mehr kann – um Papa, um Willi, um die Großeltern. Dort unten liegen auch Guido und Dennis, beide vor acht Jahren, genau vor acht Jahren als knapp zehnjährige Jungen in Westernrohe im Pfadfinderlager – im Pfingstlager – bei einem fahrlässigen Tauzieh-Rekordversuch ums Leben gekommen.
11/06/03
Vielleicht trägt das Bemühen um eine schöne Form – meine Handschrift, so wie ich sie ansatzweise mag – dazu bei, auch die Gedanken zu beflügeln. Wenn ich in meine Tagebuchkladden blättere, kann ich schon an meiner Handschrift ansatzweise erkennen, wie ich zum Zeitpunkt des Schreibens gestimmt war. Allerdings zeigt das gegenwärtige Beispiel auch, wie man mit der Schriftgestalt zu täuschen vermag – natürlich mehr noch als in der unmittelbaren Kommunikation –, denn eigentlich bin ich relativ übellaunig. Vielleicht sollte ich auch nur genauer hinschauen. Nun zur Sache: Eigentlich gibt es nur „Fakten“ zu berichten. Morgen früh bringe ich die Druckdatei definitiv zu Fölbach in die Druckerei: Beiges Stoffcover zur optimalen Hervorhebung von Jörg Picones grafischen Ideen. Ich glaube, uns ist eine attraktive Lösung eingefallen, vor allem mit den von Jörg entwickelten invertierten Schriftzügen – ca. 180 Seiten, 60 Gedichte, ein originelles Vorwort bzw. Einleitung, die „Erfindung“ einer „Lyrographie“ zur selbstreflexiven Auseinandersetzung mit den eigenen Gedichten; einfach geil!!! Gestern war ich mit Laura in Bad Bertrich bei Mama. Ich habe mich sehr gefreut, dass Laura mitgefahren ist. Anne war ja in der ersten Remagener Zeit auch zweimal mit in Remagen, jeweils vor ihrer Reitstunde in Nassheck. Mit Laura – mit allen Kindern – sollte und muss man ab und zu alleine sein, um ins Gespräch zu kommen. Gestern war die Hinfahrt einerseits eine Einstimmung auf den Besuch der Oma, andererseits haben wir uns lange über Schule, Sozialkunde im Besonderen unterhalten – auch mal ganz wichtig und vor allem möglich, sine ira et studio – fast. Abends ist Laura sogar noch mit mir und Biene über den Heyerberg spaziert; seltene, umso mehr geschätzte Ereignisse.
Wie geht es Mama? Ganz sicher ist ein Riesenfortschritt gegenüber Remagen, vor drei Wochen erkennbar. Sie sieht besser aus, nimmt angemessene therapeutische Angebote wahr, schickt sich bemerkenswert in die Situation, wobei man sagen muss, dass Bad Bertrich – trotz der klimatischen Belastungen – insgesamt eine akzeptable Lösung für die Reha ist: Ich bin in einer ¾ Stunde dort, das Haus ist angenehm, die Betreuung wohl auch und Bad Bertrich ist eben auf der Eifelseite auch noch ein Stückchen Heimat.
Das Umfeld? Das wird spannend! Mama möchte mehr Ruhe, sie benötigt mehr Ruhe – dies ist ihr auch über die Gesprächstherapie unmissverständlich klar geworden. Die Wohnung muss mehr in ihrer Abgeschlossenheit respektiert werden. Der „Durchgangsverkehr“ in den Garten muss auf ein Minimum reduziert werden; ein schwieriger Balanceakt, zumal man immer wieder anerkennen muss, was insbesondere auch Gaby, meine Cousine alleine durch ihre Anwesenheit immer wieder leistet und ermöglicht. Die Kellertreppe ist ja seit jeher eine Zumutung. Und wie wird das Zusammenspiel zwischen Mama und Tante Annemie sich gestalten? Für mich ist klar, dass ich den Mittwochnachmittag als festen Termin beibehalte. Wie lange noch? Mit vereinten Kräften müssen wir versuchen das, was kommt zu bewältigen.
13/06/03
Was macht den Unterschied? Welchen Unterschied? Der Unterschied ist gewaltig: Diesseits und jenseits der Unschuld! Wie bemerkte heute Nachmittag ein Sportreporter zur Spielweise von Nicolas Kiefer: Naiv drauflos, ohne über den Kontext nachzudenken – manchmal eine Voraussetzung für erfolgreiches Tennis. Sobald du beginnst darüber nachzudenken, hast du die schlechteren Karten. So erklärt sich auch die Sehnsucht der jüngeren, jungen Menschen, schneller erwachsen werden zu wollen – „alles Schöne kommt danach“. Beginnst du jedoch auf einer schon satten Erfahrungsgrundlage darüber nachzudenken, was war, was ist, was kommt, bist du in einer schon nicht mehr naiven, einfach nur Zukunft als Verheißung begreifenden Situation. So sitz ich denn immer wieder hoch über Güls, die unglaubliche Schönheit des Moseltals und der Höhenzüge bestaunend und frage mich: Was war, was ist, was kommt? Der Hund, meine Biene, gibt mir Ruhe und ein Stück Legitimation für etwas Stinknormales, nämlich für meine kleinen, bescheidenen Exkursionen.
14/06/03
Samstagmorgen, Vallendar, auf der Tennisanlage des TC-Vallendar. Annes Mannschaft spielt gegen den Elite-Club der Region. Die Abreibung wird total sein. Dafür sind unsere Mädchen einfach viel zu grün. Niederlagen beizuwohnen ist immer bitter, vor allem wenn – wie bei Annes Mannschaft – die Niederlagen aufgrund der ungleichen Spielstärke vorprogrammiert sind. Überhaupt überwiegen die „Niederlagen“ zur Zeit, und es ist immer eine Frage, wie man mit Niederlagen umgeht. Anne ist in dieser Hinsicht schwer „auszurechnen“. Äußerlich wirkt sie eher gefasst, aber unter der Oberfläche ist, glaube ich, viel Verletzlichkeit. Heute Morgen wird dies eine bittere Erfahrung, weil die Gegnerin nicht nur spielstärker ist, sondern weil sie in einer geradezu brutalen Manier die Charakterzüge und Merkmale verkörpert und ausspielt, die (Welt)Klassespielerinnen auszeichnen: Absolut kompromissloser, brutaler Killerinstinkt. Die Gegnerin ist – auch bei erkennbarem Klassenunterschied – nur Objekt der eigenen Möglichkeiten. Nur so funktioniert der Weg an die Spitze; neben fragloser spielerischer Klasse, psychischer und mentaler Solipsismus! Man mag kaum zuschauen - offenes Sezieren auf dem Tennisplatz. Und den anderen geht es nicht anders. (Siehst du, und jetzt hat Anne gerade nach 0:6 ihr erstes Spiel gemacht in grandioser Haltung und Spielweise.)
18/06/03
Mittwoch vor Fronleichnam: Bin heute Mittag nach Bad Neuenahr gefahren – Bankgeschäfte für Mama, habe AnnChristin abgeholt; wir beide sind dann weiter nach Bad Bertrich gefahren, dann zurück nach Güls. Und nun seit langem – seit einem halben Jahr – die erste Fahrradexursion nach Koblenz in Pretzers Biergarten; einmal nicht durch Wein und Rüben, obwohl ich das fast schon wieder bedauere: Zu laut, zu viele Menschen, der Rhein – im Gegensatz zur Mosel – aufdringlich.
Am Samstag kommt Mama nach Hause, nach wiederum 14 Tagen Krankenhaus und vier Wochen Reha; insgesamt fast 14 Wochen Klinik- und Krankenhausaufenthalt. Das ist schon ein ziemlicher Schlauch; morgens früh Zwei-Jahrescheck bei meinem Hausarzt, Dr. Schmitt: Körperflüssigkeit und EKG – immer wieder der Versuch der Selbstvergewisserung, danach mit Achim PC-Pflege an der Uni – zwischendurch ein ernüchternder ZEIT-Artikel zur medizinischen Vorsorge, mehr als ernüchternd, vor allem das Verhältnis zwischen Früherkennung, Heilung, Lebensverlängerung in einem lebenswerten Kontext und die fatale Implikation, durch die „Früherkennung“ von (möglicherweise) nicht lebensbedrohlichen Erkrankungen und daraus resultierenden psychischen sowie in der Folge physischen Beeinträchtigungen.
20/06/03
Morgen früh fährt Helga nach Bad Bertrich, um Mama abzuholen. Ich bin gespannt, ob es noch einmal einen neuen Beginn in der Kreuzstr. 111 gibt.
21/06/03
Heute jährt sich Willis Todestag zum neunten Mal. Um 12.10 Uhr sitze ich hier oben auf dem Friedhof an Willis Grab. Mama ist heute aus Bad Bertrich zurückgekommen. Sie war schon morgens mit Helga auf dem Friedhof: „Lieber Willi, so gut es gehen konnte, ist es weitergegangen. Deine Kinder sind gesund und gehen ihren Weg. ‚Aus der Ferne‘ schaue ich immer mit Wohlwollen auf das sonnige Gemüt und die Beziehungsfähigkeit und –lust Ann-Christins, auf die beharrliche Art und Weise, wie Kathrin sich ihren Weg sucht und sich das Ihrige nimmt. Sie hat übrigens ein außerordentliches Talent und große Lust zum Schreiben – einen ersten Roman hat sie bereits vollendet. Es ist deutlich mehr Zuversicht als Skepsis, obwohl ich weiß, oder eher spüre, dass beide an die Punkte einer Auseinandersetzung mit dir erst noch kommen. Helga hat es gut gemacht und wird im Rahmen einer Normalität vielleicht auch ‚belohnt‘ für den mutigen Weg, den sie geht – ich hege eine stille Bewunderung für sie, obwohl immer auch die Grenzen des Möglichen durchscheinen. Insbesondere Ann-Christin hätte gerne mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung – und sie benötigt sie auch. Umso mehr freut mich, dass Laura und Ann-Christin – hoffentlich – eine tragfähige Beziehung zueinander aufgebaut haben.
Rudi Dutschke schreibt irgendwo in seinen Tagebüchern, jeder habe sein Leben ganz zu leben. Dass deines nicht einmal 39 Jahre dauern durfte, schmerzt heute deine Kinder und die, die dir am nächsten waren in besonderer Weise. Ich ziehe selbst die Lehre alle Tage, die mir gegeben sind, zu leben in Zuversicht und Verantwortung gleichermaßen. In der Haltung, das Boot auch kentern zu lassen, und in dem was sich daran anschließt, mühe ich mich oft mehr, als dass ich pure Lebenslust und kraftvollen Lebensfluss verkörpere. Nein, hinter der Oberfläche, tief im basso continuo, waren wir uns doch ‚offensichtlich‘ näher, als es der Anschein vermuten ließ. Vielleicht komme ich jetzt etwas öfter hierher und erzähle dir einfach von dem, was so geschieht und wie es weitergegangen ist.“
27/06/03
Erst eine Woche später wieder Spuren – und ich habe auch so gar keine Zeit. Nichts läuft rund – auch weil die anderen nicht rundlaufen. Im Institut grassieren die burn-outs und der einzige – mit seinen 73 Jahren noch immer präsente – „Abräumer“ im Rahmen der Praktikumsbetreuungen sowie als Beisitzer bei Staatsprüfungen muss sich mit einer Krebsdiagnose zurückziehen – drohende Operation. So machen wir unseren Job – als Dienstleister (mir „drohen“ im kommenden Vierteljahr mehr als 120 Prüfungen und dutzende von Staatsarbeiten) – und das alles im Kontext einer Reformdiskussion, die als geheime Kommandosache an keiner Stelle erkennen lässt, wer in welchem Zeitrahmen die „Reform der Lehrerausbildung“ tragen und umsetzen soll. So etwas vollzieht sich offensichtlich im eigendynamischen Vollzug einer irgendwie zustande kommenden Systemlogik. Scheiss drauf – am eindringlichsten erscheint mir 14 Tage vor dem Erscheinen meines Lyrikbändchens das Kroke-Gedicht.
Vor einer halben Stunde habe ich mir eine Sequenz aus „Brechts letzter Sommer“ gegeben. Der alte Brecht – anders als der alte Benn (auch 1956 gestorben) – kein Verfechter des „Doppellebens“, sondern ein alter chauvinistischer Sack, der das Schweigen und die Sprachlosigkeit seinen Frauen verordnet hatte, um dieses merkwürdige Beziehungschaos zu leben. Jetzt schreib doch wenigstens einmal ein paar Zeilen so, wie du dich gerne fühlen würdest – leicht, fließend, locker und dennoch bestimmt:
Wenn der Abendhimmel Mit seinem milden Licht Das Zepter nimmt,
wenn die Lust in dir flackert und das Leben verglimmt,
verheißen dir Friedhöfe Ruhe.
Wenn Erinnerungen blühen Und Bilder entstehen,
wenn Astern verblühen und Orte verwehen,
verheißen dir Träume ein Land,
das bisher kein Lebender fand.
Wenn du andere vergisst Und dich öfter verlierst,
wenn du bepisst in Tagnächten Phantasien gebierst,
dann verheißen dir Schübe den Rand –
nur ein Schritt in Thanatos-Land.
Ach ihr Jungen, die Alten vergehen.
Wollt ihr uns halten?
Lasst uns doch gehen!
Ihr könnt uns begleiten, die letzten Schritte uns leiten,
so wie wir euch brachten in diese Welt.
30/06/03
Am Donnerstag feiert Mama ihren neunundsiebzigsten Geburtstag – immer im harten Kontakt mit Willis Todestag, nunmehr schon zum neunten Mal. Wir feiern bei Ulla – finde ich eine ganz gute Lösung. Alle tragen bei, Mama ist voll und ganz entlastet. Das dürfte ihr gut tun! Alle sind da – in Ullas Garten und sofern das Wetter mitspielt, kommt sogar Biene auf ihre Kosten.
Oh, wache Stunde, nächster Versuch;
erneute Runde im weißen Buch.
Heiß und begehrlich, spritzig und frisch,
treu und ehrlich, glatt wie ein Fisch
steigst du bergan und gipfelst im Tal,
treibst du den Kahn zwischen Freude und Qual.
Ein neues Buch jungfräulich und offen,
zwischen Chance und Fluch,
zwischen Bangen und Hoffen.
Ja, das ist ein Einstieg, der Inhalt und Formen genügt, fast schon ein Sieg, wenn die Hoffnung nicht trügt. Mit Sprache zu spielen zwischen Suchen und Finden, zwischen Sandbank und Prielen die Perlen zu finden. Spielerei – ja eine neue Kladde ist immer ein Wagnis, zumal, wenn die letzte sich nur quälend dem Ende zuneigte. Also immer die Erwartung, die Hoffnung später – im Rückblick, im Wiederlesen – die eine oder andere Überraschung, die eine oder andere Entdeckung zu finden.
6/07/03
Ein Sonntag – nach Tagen des Regens, der auf nahezu acht Wochen des überhitzten Frühsommers und einer fast schon bedrohlichen Trockenheit einsetzt – und der doch noch ein Sonnentag zu werden verspricht. Immer wieder kommen Impulse, danach zu fragen, ob ich nicht die letzten Jahre meines Lebens in einer gediegenen, veredelten Einsamkeit verbringen sollte. Aber die oben gehen zäh und die unten sind einfach noch zu jung...
And you don´t need to worry, cause I need your love, my friend.
And I know, I´m not a loser, when I´m on my own,
I could be miles away in another land,
And it keeps me together, when I´m far from home,
I won´t keep it out of sight
And I think, I´m gonna write it on the walls of the world,
So everyone will now today the love, I hold for you…
Wir haben unsere Kalorien heut schon verbraucht mit Vater und Mutter – und auch unsere Geduld. Die Enkel zeigen sich da mittlerweile geneigter. Und wir? Wir trauern ein wenig schon auf Vorrat. Wen es nicht schon vor der Zeit (vor welcher?) erwischt hat, der hört schon das Abendgeläut.
Wir spüren den heißen Atem der Zeit.
Eben noch Kind - ein Rauschen im Wind,
und obwohl späte Eltern,
trinken wir jetzt schon den Wein,
den wir meinen grad eben zu keltern.
Wie geht man mit Würde und Anstand,
und was bleibt uns dann noch zu tun?
Werden wir groß, stark und erwachsen,
wenn dem Hammer der Amboss entgleitet
und der Amboss den Hammer ersehnt?
Wenn es gilt, müssen wir hämmern
und das Hämmern ertragen.
10/07/03
Ganz eigentümlich hat sich der Wendepunkt im Jahr deutlich in meinem Fühlen auf die Mittsommernacht, die Sommersonnenwende eingependelt. Früher lag diese „Jahreswende“ für mich deutlich später im Jahr. Heute ist mir der lange Aufstieg aus dem Winter in den frühen Sommer immer ein bewusstes Erleben der Sprunghaftigkeit meines Zeitempfindens, vielleicht ist „Beschleunigung“ der passendere Begriff.
Inzwischen ist der 79ste Geburtstag meiner Mutter auch schon wieder eine Woche her. Ja, sie hat ihn noch erlebt und zwar so, dass ich glaube, es könnten doch noch einige Geburtstage mehr werden. Ich habe mich in die Sandwich-Situation schon lange eingefunden, seitdem ich zumindest einen Nachmittag in der Woche (in der Regel den Mittwoch) meiner Mutter vorbehalte. Das letzte halbe Jahr hatte da natürlich schon eine andere Dimension, die einem zumindest einen Eindruck davon vermittelt, was eine wirkliche Sorge und Fürsorge für die Eltern bedeuten kann.
12/07/03
Noch drei Wochen bis zum Ende der Vorlesungszeit. Unser Institut stöhnt unter einer ziemlich prekären personellen Enge. Das Sekretariat seit sechs Wochen verwaist, R. K. langfristig erkrankt, G. K. in schwierigster Genesung nach seiner Darmoperation, bei alledem die intensiven, letzten Vorbereitungen zum großen Schulkongress, wofür ich mit R. V. die Verantwortung trage; P. H. mit 150% Überlast, aber gegenwärtig für vier Wochen in Amerika; H. V. kurz vor seiner Pensionierung. Nur N. W. und meine Wenigkeit fahren gegenwärtig 100% und ein bisschen mehr. An einer „drittklassigen Provinzuni“ – so einer werter Kollege – geht das. Einige wenige Male hatte ich das Erleben – vor allem bezogen auf den im Druck befindlichen Gedichtband, dass man sich mit den eigenen Gedichten und Geschichten bestens unterhalten kann. So wie Susan Sontag meint, dass man den „eigenen Weg aus Wörtern“ schätzen lernt, ob seiner interessanten und überraschenden Perspektiven. Man hat Spaß an den eigenen Kreationen.
Warten in Spannung.
Warten ist immer Spannung,
Warten auf den ersten Schritt,
Warten auf Bewegung,
wenn auch nicht unbedingt auf die eigene.
Etwas kommt, etwas geht,
während deine Welt jetzt stille steht.
15/07/03
Warten in Spannung,
Warten ist immer Spannung!
Wie wahr, wie wahr – und häufig ist die darauf folgende Entspannung trügerisch und manchmal enttäuschend und deprimierend. Denn diejenigen, die sich bewegt haben, haben es nicht immer in der erhofften Weise getan.
Heute ist Gerhard Kurz gestorben. Rudi Krawitz rief mich aus seiner Kur völlig erschüttert an und teilte mir diese Hiobsbotschaft mit. Fünf Minuten später erhielt ich von Claudia die Nachricht, dass Mama nach einem epileptischen Anfall erneut im Krankenhaus liegt, zum dritten Mal und vermutlich wieder mit einer Orgie von Untersuchungen verbunden. Mit welchem Ausgang dieses Mal?
16/07/03
Heute Nachmittag bin ich nach Neuenahr gefahren und durfte wieder einmal feststellen, dass man mich „schonen“ wollte. Mama liegt mit hohem Fieber im Krankenhaus und die Ursache ist unklar. Klar ist, dass sie sich mit einer Infektion auseinandersetzt, deren Ursache im Dunkeln liegt. Die weißen Blutkörperchen sind deutlich erhöht. Die diensthabende Ärztin will über Differentialdiagnosen eine Eingrenzung erreichen. Sie hat mir und Ulla gegenüber angedeutet, das Krankheitsbild und der Verlauf ließen einen altersläukämischen Schub nicht ausschließen. Sie möchte das gerne über eine Untersuchung von Knochenmarksgewebe abklären. Heute Abend betrug die Körpertemperatur (anal gemessen) 39,7°. Die Ärztin deutet an, dass ein solches Krankheitsbild in diesem Alter nicht unproblematisch sei. Ich will Freitag wieder nach Neuenahr, wenn vorher kein Anlass besteht.
Gerade eben mit Ann-Christin gesprochen – sie erzählt, dass sie heute Mittag bei Oma war, dass sie sehr geweint hat, weil sie meint, dass Oma es dieses Mal nicht mehr packt. Gleichzeitig erzählt sie mir, dass sie verliebt ist und deshalb erst Samstag kommen könne. Ich soll Laura mitbringen, Andreas sei da. Wer ist Andreas? Ich habe den Eindruck, ich könnte das wissen, wenn ich es wissen wollte. Laura und Andreas mailen seit geraumer Zeit. Laura „kennt“ Andreas. Andreas hat keine bildhafte Vorstellung von Laura.
Spannend!? Die totale Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – verflucht bunte Welt.
18/07/03
8.06 Uhr am Freitagmorgen: Seit 2.30 Uhr in der Nacht bin ich jetzt mit kurzer Unterbrechung auf der Intensivstation. Mama hat in der Nacht einen Schlaganfall erlitten. Sie ist ansprechbar, aber ganz offenkundig halbseitig gelähmt, der Sprache nicht mehr mächtig. Es ist ganz deutlich so, dass ihre Wahrnehmungsfähigkeit nicht eingeschränkt ist. Die Ärztin auf der Intensivstation macht uns wenig Hoffnung. Die Krankensalbung ist veranlasst. Ich pendele ständig zwischen ruhigen und gelassenen Phasen, innerer Bewegung und hemmungslosen Weinkrämpfen.
Inzwischen ist es 14.30 Uhr: Mamas Zustand ist unverändert: Stabil in einer instabilen Lage: Puls um die 90, Blutdruck: 120 : 60. Sie liegt jetzt auf der rechten Seite – auf eigenen Wunsch. Sie reagiert nach wie vor auf Ansprache durch Nicken und Verneinen. Sie kann sich sprachlich nicht mehr mitteilen und schläft viel. Die Krankensalbung war ätzend. Ein brasilianischer Pfarrer bemühte sich, las die einschlägigen Texte vom Blatt und musste dabei jede Form der Einfühlsamkeit vermissen lassen. Aber dies ist sicher ein ungerechtes Urteil. Eben waren Claudia und Anne für eine halbe Stunde hier. Es bedrückt mich bis in die letzten Fasern meines Fühlens, dass Mama dies ganz sicher wahrnimmt, aber kaum eine Chance hat, dies noch spürbar ausdrücken zu können. Es sind nur noch minimale mimische Reaktionen, die vor allem nach meinem Empfinden Resignation und Verzweiflung offenbaren. Sie sieht und spürt wohl zutiefst, dass sie aus ihrer Welt keinen Weg mehr findet (aktiv) Beziehung zu gestalten. Und wir verhalten uns ängstlich bis schonend. Ja doch – zu Recht – sicherlich muss es jemanden zutiefst irritieren und deprimieren, wenn er zwar noch wahrnimmt, was um ihn herum geschieht, sich dazu aber nicht mehr äußern und verhalten kann. Jetzt, da Anne und Claudia weg sind, finde ich es schade, dass wir nicht offensiver waren. Aber andererseits weiß ich ja aus den letzten Monaten, wie sehr sie ihre Ruhe auch wollte – auch die letzte!?
16.45 Uhr: Gerade eben waren Helga und Kathrin da, nachdem zuvor die Nachmittagsvisite versucht hat, die Therapie weiter abzustimmen. Tatsache ist bei relativ unauffälligem CT die klare Symptomatik eines rechtsseitigen sich auswirkenden, also linkshemisphärisch verursachten Hirnschlags (Blutdruck zu niedrig, Pulsfrequenz zu hoch, bei einer – wie der Chefarzt meint – „versteckten Krankheitsursache“, z.B. Leukämie, was die hohe Anzahl der weißen Blutkörperchen erklären würde.) Ich habe mich jetzt phasenweise gut im Griff, ertappe mich aber durchaus dabei, den ein oder anderen Hoffnungsschimmer sehen zu wollen. Dies ist sicherlich daneben.
19/07/03
7.50 Uhr: Ich habe lange geschlafen – von ca. 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr morgens. Ich wollte eigentlich früher wieder hier sein; habe ein schlechtes Gewissen. Das ist allerdings ziemlich blödsinnig, weil wir alle Kraft brauchen werden für das, was noch kommt. Ich bin heute Morgen um 7.00 Uhr mit Laura losgefahren von Güls. Wir haben wenig geredet und viel geweint. Es gibt die Zeit des Redens, die Zeit des Lachens und die Zeit des Weinens und manchmal alles miteinander. Der Unterschied, der in den Phasen von Sterben, Tod und Trauer liegt, wird mir so umfassend bewusst, wie nie zuvor. Ich glaube, dass wir uns mit dem Tod angemessen auseinander setzen, dass wir ihn hinnehmen als das letztlich Unabwendbare, hinter dem das letzte Geheimnis des Lebens liegt. Ich glaube wir können trauern und uns in der Trauer erneuern, zusammenfinden und stärken. Was wir aber nicht können, ist das Sterben begleiten. Wir vergehen in der tiefen Trauer um das, was wir möglicherweise versäumt haben. Letzteres trifft sicherlich auf mich und Mama nicht zu. Aber wir sind ja nicht alleine auf der Welt. Laura hat kaum eine Chance, sich jenseits des überwältigenden Schmerzes, mit dem sich vollziehenden Prozess des Sterbens auseinander zu setzen. Da wird etwas angestoßen, was für die weitere Entwicklung außerordentlich bedeutsam ist.
Es bleibt im Übrigen immer die Frage, wie sich Sterben vollziehen würde, wenn wir nicht – vielleicht an einem Punkt, wo es ohnehin sinnlos und unmenschlich erscheint – die lebendige Vitalfunktionen unterstützenden Maßnahmen ergreifen würden. Es ist und bleibt der Punkt, an dem ich die größte Unsicherheit verspüre: Lasst uns gehen, wenn es an der Zeit ist. Und zweifellos gibt es keine bittereren Stunden, Tage und Wochen im Leben. So eng sind die Verwobenheit und das Netzwerk des gegenseitigen Ermöglichens, so sehr sind wir die Anderen und die bedeutsamen Anderen wir, dass wir etwas Elementares, etwas Substantielles verlieren. Wir verlieren den entscheidenden Blick, die Annahme, die selbstverständliche Gewissheit, wer wir sind. Der Nabelschnur einer tiefen Verbundenheit wird die Nahrung entzogen; sie wird uns herausgerissen und eine tiefe Wunde bleibt zurück. Hilfloses Gebrabbel!
10.50 Uhr: Ärztevisite vorbei – kurzes Gespräch - Vereinbarung, keine lebensverlängernden Maßnahmen durchzuführen, die ohne das Ziel einer therapeutisch sinnvollen Perspektive sind.
12.30 Uhr: Nach einem erneuten CT keine Verschlechterung der Hirnfunktionen, leichte Besserung des Blutbildes. Eine halbe Stunde zuvor der bislang intensivste Austausch mit Mama über Blickkontakt und Mimik. Ich traue mich (noch) nicht, sie nach ihrem Wunsch und Willen zu fragen. Ich habe mich von der Sinnhaftigkeit einer Magensonde überzeuge lassen. Sie ist soeben gesetzt worden. Mama liegt jetzt frischgemacht halbseitlich und schläft – erschöpft.
Blutdruck: 140 zu 70.
13.50 Uhr: Gerade eben sind Ann-Christin und Laura weggegangen. Zwischen 12.30 und 14.30 Uhr waren sie alleine bei Mama, während ich bei Ulla und Rolf essen war. Sie leiden mit, so wie ich mitleide. Sie sind fassungslos, sie erleben zum ersten Mal die Gnadenlosigkeit eines Lebens zum dem der Tod so gewiss gehört wie das Amen in der Kirche. Gnadenlos ist das hilflose Zuschauenmüssen, wie diejenige langsam aus dem Leben geht, die eine Wurzel ihrer selbst ist. Gnadenvoll wäre ein Sterben in Würde und ohne Siechtum. Was kann man selbst dazu tun, was können andere tun? Ich möchte Mama fragen, ob sie sterben möchte!
Meine Mama, die mich geboren hat, nachdem sie mich neun Monate unter ihrem Herzen getragen hat, die mich genährt und ernährt hat, die mich gepflegt, gewickelt und gepäppelt hat, die mich liebt und immer geliebt hat, meine Mama, die mich immer gesehen hat, die mir immer verziehen hat, die in mir weiterleben wird, in meinen Kindern, in ihren Körpern und in ihren Seelen. Meine Mama, der ich – neben meinem Papa – alles verdanke, woraus ich das meine gemacht habe, mit allen Fehlern, die Menschen machen und mit aller Liebe, zu der ich fähig bin. Ich will sie weitergeben an meine Kinder, denn es ist der Antrieb und die Bedingung sein Leben ganz zu leben und anzunehmen mit allem Schönen und mit allem Unabwendbaren, was uns zukommt.
Warum ist das Begleiten zum Sterben hin so schwer? Weil wir verlieren, was wir auch sind, und vor allem, weil wir hilflos die Hilflosigkeit und das Leiden unserer Nächsten ertragen. Und wir selbst leiden unermesslich, wenn wir das Leiden der eigenen Mutter nicht, oder nur begrenzt lindern können. Der „Drüsch“, Bettnachbar meiner Mutter, schlaganfallbeeinträchtigt und Diabetiker, ein 54jähriger Mann aus Hönningen, der viele Menschen kennt aus dem Verwandtschaftskreis meiner Mutter, meint, es würde ihn schon sehr wundern, wie wir uns um unsere Mutter kümmern (ihm als Sohn ginge es allerdings ebenso, weil die Mutter der Mittelpunkt der Familie sei). Ich habe ihm erzählt, dass in Koblenz gegenwärtig „Horizonte“ stattfinde, eines der größten Freiluftkonzerte des Kultursommers (über drei Tage) , worauf ich mich schon seit langem gefreut hatte, wie ein kleines Kind, mit meiner ganzen Leidenschaft. Aber wie könnte ich dort sein. Die Leidenschaft ist hier, wo sie ist. Es gibt die Zeit der Freude, und es gibt die Zeit des Leidens und Vieles dazwischen. Und gegenwärtig ist die Zeit des Leidens – und die durchleiden wir gemeinsam. Ich wäre kein Mensch und wollte keiner sein, wenn ich nicht wüsste, was jetzt zu tun hätte. Ich habe es immer gewusst, zumindest in den entscheidenden Situationen. Alles in allem habe ich alle Veranlassung auf der Welt zu einer dankbaren und demütigen Haltung. Kaum jemand hat so viel Ermöglichung, Respekt und Ermutigung erfahren durch seine Eltern, durch sein Umfeld wie ich. Und wie viel weniger wäre ich, wenn ich dies – diese Fülle – nicht auf meine Weise genutzt hätte.
Ich habe für kurze Zeit ausgeweint, habe wieder allen Schmerz empfunden. Selten spürt man, wie sehr man lebt; Leben als Empfindung aller Sehnsüchte, Freude und Schmerzen dieser Welt. Geht hinaus in diese Welt und empfangt mit offenen Armen und offenen Herzen den Reichtum dieser Welt; empfangt und gebt ihn weiter, gestaltet eure Welt mit uns gemeinsam und denen, die euch zuwachsen, wachst über uns und über euch hinaus, wie wir über unsere Eltern hinaus gewachsen sind und ihnen beistehen in ihrer schwersten Stunde, die auch uns nicht erspart bleibt! Das möchte ich meinen Kindern und Nichten zurufen und allen Kindern dieser Welt. Was bildet uns und macht uns zu Menschen? Das Leben mit all seinen Färbungen, wozu auch und in besonderer Weise der Tod gehört. Leben heißt Unterschiede wahrnehmen und in unseren Wahrnehmungen und
Handlungen wach für diese Unterschiede zu sein. So weit und so intensiv, so hart und so mild, so entschieden und sanft ist das Leben in all seinen Schattierungen und Lichtungen für uns, die wir in Demut und in Dankbarkeit das volle Maß annehmen. So gewinnt vielleicht auch das Sinnlose seinen Sinn, und ich teile ihn heute mit meiner Mutter und all den Visionen und Erwartungen, die uns in den letzten Jahren mehr und mehr verbunden haben.
20/07/03
Seit 7.00 Uhr bin ich wieder hier. Ich schlafe gut und tief.
Ich bin mit mir im Reinen. Es war ein bewegter und bewegender Vormittag. Die Schwester und Ulla haben Mama gewaschen und ihr ein eigenes Nachthemd angezogen. Sie ist die meiste Zeit „wach“.
14.10 Uhr: Wir bereiten uns auf einen langen Weg vor. Wie oft habe ich von der Dynamik und Paralyse gelesen, die Familien ereilt, die die Intensivpflege ihrer Angehörigen begleiten wollen. Die ersten Tage sucht man mit aller Konsequenz nach Lösungen, die eine Präsenz möglichst rund um die Uhr gewährleisten. Dann kommen der zunehmende äußere Druck (vom Job bis zur Familie) und die ebenso zunehmende Erschöpfung. Pragmatische Lösungen müssen her; Arrangements. Da öffnet sich dann fataler Weise die Schere, die zunehmende Bedürftigkeit auf Normalstation oder im Pflegeheim auf der einen Seite und abnehmende zeitliche Spielräume auf der anderen Seite bedeuten. Konkret für mich: Die beiden letzten Wochen des Semesters stehen vor der Türe. Das kann ich händeln. Claudia und die Kinder haben Ferien (Ferien!), ich habe sechs Wochen Urlaubsanspruch. Und dann? Ulla ist auf Rente. Aber da ist die Erwartung auf baldige „Erlösung“. Ein ambivalentes Spiel beginnt mit ungewiss gewissem Ausgang.
14.20 Uhr: Vor einer Viertelstunde haben wir Mama auf die Seite gedreht. Sie scheint zum ersten Mal tief und fest zu schlafen. Sie hat beim Drehen und beim Anfragen der Schwester zum ersten Mal mit einem vernehmlich gehauchten „Ja“ geantwortet. Sie hat zum ersten Mal den rechten Fuß bewegt. Es fällt ihr schwer, den Kopf zu drehen. Sie nimmt die Zitronenstäbchen bewusst an und äußert auf die Frage, ob sie welche will oder nicht durch ein klares und eindeutiges Kopfnicken.
Verdammte Scheiße! Genau der Zustand, vor dem sie immer den größten Horror gehabt hat: Lebendig begraben! Ich schwitze und verspüre Müdigkeit. Zu „gut“ – zu viel gegessen, keine Bewegung. Morgen muss ich die Situation an der Uni klären! Morgen hat Anne Geburtstag!!! Morgen ist morgen. Morgen ist ein neuer Tag mit neuen Anforderungen und ungewissen Anmutungen. Man erwägt Mama auf „Normal“ zu verlegen – auf „Normal“: Absetzen der intensivmedizinischen Betreuung. Der erste Versuch schlägt fehl. Die einsetzende Arhythmie und ein unkontrollierbarer Puls haben den Versuch scheitern lassen. Wann wird es mit welchen Konsequenzen möglich sein? Wie lange halte ich das durch? Körperlich kein Problem – seelisch geht, aber ich bin ja nicht allein auf der Welt. Mein Hund vermisst mich so! Gestern Abend eine Runde über den Heyerberg. Nicht das Vergnügen wie sonst. Alles matter – alles fader. Ulla kommt heute um 16.00 Uhr. Solange Mama auf Intensiv ist, kann man Stunden weggehen, ohne dass man ein schlechtes Gewissen haben muss; das wird auf „Normal“ anders sein. Laura und Ann-Christin waren über Mittag hier. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Mama-Oma stirbt und Ann-Christin entdeckt ihre Liebe zu einem Rot-KreuzNotfall-Sani; der hat Mama am Dienstag mit ins Krankenhaus transportiert. Himmel-hilf, bunte Welt – alles zu seiner Zeit. Aber das hätte Mama gefallen?!
15.20 Uhr
Komm steh auf, wir gehen jetzt! Komm doch, bitte Mama, wir gehen von hier fort, komm wir bleiben nicht an diesem Ort. Immer war es deine Hand, an der du mich geführt, immer hat dein Blick mich tief berührt, immer hör ich deine Stimme, auch am Telefon:
Immer war dein „Tschüs“ kein Letztes
Und immer, immer sehn ich mich danach.
Deine Wärme und dein Blick leben wohl in mir. Ich geb sie weiter deinen Enkelkindern, lebt in uns, lebt in mir.
Liebe Mama, liebe Mama, bleibe hier – hier bei mir.
Ja, ich weiß, so sollen wir nicht denken, wo Gott und Jesus alle Wege lenken. Ja, ich lass dich gehen, aber geh dann auch!
Gott, nimm ihre Seele bei dir auf.
Ich komm später, so wie alle – Hoffentlich zum Wiedersehen.
Ich sitze hier und kann nichts tun. Mama schläft, aber immer bewegt sie zwischendurch ihre rechte Hand.
21/07/03
14.15 Uhr: Heute ist der 21. Juli 2003. Anne hat Geburtstag. Sie wird 14 Jahre alt. Mama stirbt. Der 21. Juli wird wohl nicht ihr Sterbetag sein. Aber wir haben sie heute auf „Normalstation“ verlegt, um der Quälerei ein Ende zu machen: austherapiert! Wenn keine Aussicht auf Heilung und Genesung ist, nach einem Hirnschlag und einem so reduzierten Allgemeinbefinden, ist eine weitere Therapie im Sinne der Intensivmedizin nicht zu vertreten und auch nicht zu wollen. Darin waren sich Ulla und ich und alle behandelnden Ärzte einig. Neben dem Chef, Dr. Kreuter, dem Stationsarzt, Dr. Holl und Dr. Alberti auch die bewundernswerten und mit Dankbarkeit zu honorierenden Schwestern auf der Intensivstation. Das heißt, auf der 5 erhält Mama jetzt außer Wasser über die Magensonde nur noch lindernde Medikamente, in erster Linie Morphium. Ich habe Mama gefragt, ob sie schlafen könne. Sie hat das eindeutig verneint. Ich habe sie gefragt, ob sie schlafen wolle, und das hat sie eindeutig bejaht. Dr. Holl und Dr. Alberti haben die Gabe von Morphium eindeutig bejaht. Dazu muss man allerdings zunächst einmal festhalten, dass Mama seit Donnerstag, seit dem Hirnschlag zwar nicht mehr sprechen konnte, aber ganz und gar zweifelsfrei uneingeschränkt wahrnehmungsfähig und kommunikationsfähig war. Ich habe oft mit ihr gesprochen und mir ihre Zustimmung zu den kleinen Erleichterungen, die möglich waren, geholt.
Und heute Morgen, so wie an jedem Morgen, habe ich zuerst bittere Tränen in beträchtlichem Maß vergossen, weil ich zuerst und immer noch ihr Kind bin, das seine Mama liebt und nicht gehen lassen will. Dies haben wir dann anders hinbekommen, immer die Kurve bekommen und der Abschied war in jeder Hinsicht ein möglicher und im Rahmen des Möglichen ein guter!
Nie wieder in meinem Leben, solange es dauern mag, werde ich vergessen, wie ich ihre linke Hand zu mir geführt habe, meine rechte Wange hineingeschmiegt habe und ihre Hand über mein Gesicht habe gleiten lassen, über meine Haare, über meinen Nacken. Und ich habe gespürt, wie sie es genossen hat, und wie sie es durch den ihr möglichen Druck verstärkt hat. Sie hat es mehrmals wieder tun wollen, indem sie ihre Hand gehoben und mit ihren Augen signalisiert hat, wie wohl ihr das tut. Und ich habe es genossen, diese letzten bewussten Berührungen. Meine Tränen sind wie kleine Bäche gelaufen – so wie jetzt – so wie noch oft, wenn ich an meine Mama denke.
Sie liegt jetzt ruhig da. Sie hat heute zum allerersten Mal eine Gabe Morphium bekommen. Sie soll jetzt nicht mehr leiden. Wir haben alles versucht – der Kampf, ihr Kampf ist wohl verloren. Und es möge nicht zu lange dauern. Aber auch Dr. Alberti hat schon bemerkt, dass Mama eine Kämpferin ist, wie so viele Frauen dieser Generation. Ich glaube, wir können sie gehen lassen, das letzte wirkliche Geheimnis zu erforschen. Aber es bleibt immer die Frage, ob sie bereit ist, und daran gibt es durchaus Zweifel. Rinpoche: Der Mensch stirbt, wie er gelebt hat. Ja, es gab Ungeklärtes in ihrem Leben. Aber ich (will) glaube(n), dass Mama ihren Frieden gemacht hat, auch mit Ulla. Wir sind keine blindwütigen und egoistischen Kämpfer, die Mama um jeden Preis im Leben halten wollen. Wir haben damals schon – bei Papa – gelernt, wie begrenzt aller Menschen Leben, Macht und Möglichkeiten sind. Wir haben bei Willis Tod erfahren, dass man unter Umständen – und die Umstände waren so – nicht einmal die geringste Chance hat, sich zu verabschieden. Wie ohnmächtig sind wir doch eigentlich alle miteinander! Uns fehlt nur die Demut zum rechten Leben. Aber vielleicht sind wir auf einem guten Weg!
15.30 Uhr: In einer Stunde kommt Helga, meine Schwägerin; die Mutter von Ann-Christin und Kathrin. Sie löst mich ab, bis gegen 19.30 Uhr Ulla kommt, unterstützt durch ihre Freundin Claire. Claire, Ullas beste Freundin, war eben hier. Ich möchte gerne alle Vorbehalte und dummen Ressentiments von ihr wegnehmen. Sie hat eine sehr gute, wohltuende Art. Ich fahre um 17.00 Uhr nach Hause, möchte noch ein bisschen bei Annes Geburtstag dabei sein. Dann werde ich ein paar Stunden schlafen und Ulla wieder ablösen; ich schätze so gegen zwei Uhr in der Nacht. Die meisten Dinge sind einigermaßen geklärt. Ich muss für Mittwoch noch einen Ersatzprüfer besorgen.
22/07/03
11.30 Uhr: Seit zwei Uhr in der Frühe bin ich wieder hier. Mama hat trotz der sechsstündigen Gaben von Morphium immer noch und immer wieder lange „Wachphasen“. Sie ist ansprechbar, reagiert mit Kopfnicken oder –verneinen. Auch heute Morgen haben wir lange miteinander gesprochen. Ich habe ihr meine Gedichte vorgelesen – mein Gedichtband „Das Leben ein Klang“ kommt gerade frisch aus der Druckerei. Ich lese ihr den „Aufbruch“ nach Bert Hellinger vor. Ich habe ihr erzählt, dass sie uns nun vorausgeht, dass sich alle, die schon „da sind“, freuen, sie wiederzusehen, natürlich an erster Stelle Papa, Willi, Oma und Opa. Dies halte ich für einen guten Weg. Wir haben oft darüber gesprochen, was uns wohl erwartet. In der Konsequenz ihres Glaubens liegt auch eine klare Erwartung. Und die habe ich so überzeugend und überzeugt vertreten, dass sie zu einem Stück meiner Welt geworden ist. Ich habe ihr erzählt, dass sie eine gute Mama ist, die beste Mama auf der ganzen Welt, dass ich froh bin, sie solange zu haben. Das hat sie gerne angenommen. Dass sie die beste Oma aller Omas ist, und dass wir alle miteinander, die wir zurückbleiben, es gut machen werden. So bin ich zum ersten Mal in eine nüchterne und abgeklärte Haltung hinein gewachsen, die schon etwas von Leichtigkeit hat.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir eine andere Welt und eine andere Beziehungskultur hätten, wenn vor allem alle Männer ihre Mütter auf dem letzten Weg, bis zur letzten Konsequenz, mit allen Facetten des Erlebens und des Tuns begleiten könnten.
Heute Nacht um 4 Uhr mussten wir noch einmal das Bett wechseln, weil das erste Inkubus-Bett defekt war. Auch von den äußeren Rahmenbedingungen war manche Widrigkeit zu verkraften. Man erlebt und beteiligt sich an der Härte des Alltags der Krankenhausschwestern, an der Schwere ihrer Arbeit in körperlicher wie in seelischer Hinsicht.
11.45 Uhr: Gerade eben war Dr. Kreuter, der Chefarzt, da. Er hat uns noch einmal alle Unterstützung zugesichert, zum Beispiel auch die Gabe von einem Valium-Derivat (Dormicum), wenn wir es für sinnvoll halten. Mama hat noch einmal klar verneint, Schmerzen zu haben. Ich habe sie gefragt, ob sie Angst habe. Sie hat dies zweifelsfrei verneint. Offensichtlich ist die Medikatierung so angemessen, dass sie nicht „abgespritzt“, ruhiggestellt wird bis zur totalen Bewusstlosigkeit, sondern dass sie schmerzfrei, andererseits im Rahmen ihres Zustandes zur Kommunikation fähig bleibt. Um 12.45 kommen Claudia und Anne. Wir waren kurz auf dem Zimmer und haben dann in der Cafeteria zu Mittag gegessen. Danach sind wir noch einmal für eine halbe Stunde hochgegangen, haben Ulla abgelöst und gemeinsam Wache gehalten. Mama öffnete die Augen nach einem lauten Türenknall und sah Anne vor sich sitzen. Was man wahrnimmt in einem solchen Zustand, ist zweifelhaft. Aber der Ausdruck der Augen, das Erstaunen war schon ersichtlich. Sie hat mit großen Augen geschaut, geschaut auf Anne und auf Claudia, die so ihren Abschied nehmen konnten. Das sind Augenblicke, die in mir die größte Bewegung hervorrufen. Welch ein ungeheures Privileg, diesen Weg begleiten zu dürfen. Die Auseinandersetzung mit denen, die außen vor bleiben, wird nicht einfach. Ich spüre, wie die Dynamik mich mitnimmt: Von der totalen Fassungslosigkeit mit dem Tal der Tränen zu einer unaufhaltsam voranschreitenden Annahme des Unabdingbaren, wodurch mir in fast unglaublicher Weise die Kraft zuwächst, alles zu tun, was notwendig ist. Mehr noch spüre ich einen außerordentlichen Schub – ja einen Wachstumsschub mit immerhin 51. Bald werde ich kein Kind mehr sein, sondern in der Welt stehen als Vater und als Kind, dessen Eltern ihren Weg zu Ende gegangen sind. In ihrer Fürsorge und in ihrer Liebe liegen die Bedingungen und der Humus für ein gutes, aktives Leben, das sich der Fülle und der Farbenwelt des Lebens vollkommen bewusst ist.
23/07/03
0.12 Uhr: Ich bin gerade aus Koblenz gekommen und löse Ulla und Claire ab. Bisher ist es uns gelungen, eine nahezu Rundum-Anwesenheit zu gewährleisten. Heute Nachmittag haben Helga und Gaby jeweils einige Stunden bei Mama gewacht.Für mich ist es erstaunlich, wie lange der Todeskampf dauert. Ein extrem geschwächtes Herz-Kreislaufsystem und die hirnspezifischen Ausfallerscheinungen stellen eine enorme Beeinträchtigung dar, und ich habe lange gehofft, diese akute Phase des Sterbens möge nicht so lange dauern. Im Einvernehmen mit den Ärzten dosieren sich die Morphiumgaben im Rhythmus von 6 Stunden – Diazepam (ein Valiumderivat) steht als Reserve bereit. Von Donnerstagnacht an (17.7.), seit dem Schlaganfall dauert nun aus meiner Sicht dieser Prozess. Mama war über all die Zeit fast immer ansprechbar und zu einem Austausch in der Lage. Diese Phasen nahmen seit gestern (Montag, 21.7.) ab, waren aber immer noch in ausgeprägter Form gegeben. Jetzt ist für mich der Punkt, an dem ein unnötiges Leiden unbedingt zu verhindern ist. Mama hat in den letzten Monaten und insbesondere Tagen genug gelitten. Sie hat das Geschehen ihres Sterbens vollkommen bewusst erlebt. Jetzt soll sie einschlafen dürfen. Ich hoffe, wir haben eine ruhige Nacht. Es kommt jetzt häufiger zu Hustenanfällen. Es sammelt sich Schleim, der nicht durch Schlucken oder Abhusten entfernt wird - erstickungsähnliche Anfälle. Auf dem Nachttisch steht eine Rose. Sie öffnet ihre Blütenblätter hin zu Mamas Bett. Ich bekenne mich dazu, eine „nüchterne“ Atmosphäre zu bevorzugen. Keine persönlichen Dinge. Alles ist reduziert auf unsere Beziehungen – Konzentration auf das Wesentliche. Bislang hat uns dies alle Kraft gegeben. Aber diese eine Rose verändert die Atmosphäre in einer beeindruckenden Weise. Sie und ihr Schattenbild bilden ein Zentrum, ein ästhetisches Kondensat, das wohl tut.
In Mamas akuter Situation kann es wohl kein Zeitempfinden mehr geben. Vielleicht tröstet uns das, zu wissen, dass die wenigen „Augenblicke“ keinen Eindruck mehr vermitteln von der „Endlosigkeit“, wie sie uns vorkommt. Zweifellos erleben wir all dies ja vollkommen anders, zwischen Hilflosigkeit, Mitleiden, Trösten und Da-Sein.
Der Sommer, der (k)ein Sommer ist
Du Sommer blendest alle,
glänzt mit übersatter Pracht.
Du Sommer lähmst uns alle,
machst uns traurig,
wo man sonst doch lacht.
Du Sommer zeigst dich ohne Gnade,
jeder Tag bleibt eingebrannt.
Früh schon quälte deine Sonne
reinen, weißen Schnee hinweg,
kein Erbarmen, Fleck für Fleck.
Und du schautest unterkühlt uns zu,
wie wir lernten wieder gehen
und auf eignen Beinen stehen,
beharrlich und mit großer Haltung;
gönnst uns keinen Muttertag.
Schickst uns über Land,
bis ein Haus sich fand,
dort schon fast zu sterben.
Du schickst uns deine Schwüle,
dein eisig Heiß und kaltes Blau
- Tag für Tag!
Erst recht in jenem Kessel, nur am Morgen kühler Tau.
Und wie sehr regt sich die Hoffnung,
wenn die Sonne freundlich scheint.
Und ihr merkt erst sehr viel später,
wie der Mond nachts weint.
Denn er ahnt,
wovor wir dummen Kinder uns verstecken
hinter Rosen und auch Hecken,
dass auch niemand etwas ahnt,
wie Gevatter Tod sich seinen Weg nun bahnt.
Schickt uns erst noch glücklich heim,
alles ist gerichtet.
Und wir mühen uns doch redlich,
das Fest der Freude (79) feiern wir gedämpft,
jeder sieht doch wie sie kämpft.
Nach dem Anstieg kommt die Ebene.
Doch du, du Sommer, bläst nun zum Finale -
wie immer vor der Zeit.
Blitze leuchten, Donner krachen,
doch die Hitze bleibt,
gnadenlos begleitet sie den Weg,
der steiler nun und steiler geht,
bis das er steinig und auch weglos wird.
Und immer neue Schluchten tauchen auf,
bis wir spüren, was das wird
und alles Hoffen geht dahin.
Wir schicken uns hinein, in das Diktat,
dessen Ende schwarze Schleifen hat.
Und schwarze Schleifen,
passen die zu einem Sommer,
der voller Einfalt nichts als blaut?
Ja, sie passen -
aber nur zu dem,
der seine Zukunft
auf die Ahnen baut!
5.30 Uhr: Ich bin jetzt, nach einer Woche, die „harmlos“ anfing, schon ziemlich erschöpft. Mehr und mehr tritt die Frage in den Vordergrund, was wir Menschen eigentlich tun? In der Sterbebegleitung. Solange die Menschen ruhig daliegen und langsam auf die andere Seite hinüber dämmern und vorher im besten Fall Abschied gelungen ist, solange ist das, was wir tun „in Ordnung“. Aber die Frage, welchen Sinn eine Quälerei mit Erstickungsanfällen hat, wird wohl niemand ohne Weiteres beantworten können - So ohne Weiterers! Das Weitere haben insbesondere die katholischen Christen parat mit ihrer Schuldlitanei. Warum sollen Menschen, die schuldig sind – peccatum originale – nicht büßen? Wenn Leben zum Tode sich unabwendbar vollzieht (und lang und länger zieht), bin ich für eine aktive Sterbehilfe in Form einer angemessenen Medikatierung.
6.55 Uhr: Was kommt eigentlich danach? Was kommt dann, wenn jemand gestorben ist. Die Organisation der Beerdigung, zuvor Totenschein, Traueranzeige, Erbangelegenheiten. Ja, Letzteres wird vermutlich ein von unterschiedlichsten Interessen geleitetes Unterfangen sein. Drei erbberechtigte Parteien: Ulla, Ann-Christin und Kathrin als Willis Erben, und ich. Die Kreuzstraße 111 gehört zur Hälfte Tante Annemie. Die ganze Nacht schon fühle ich mich ziemlich daneben. Es gibt nichts mehr zu reden. Mama ist schon ein Stück weiter weg, aber sie ist noch zu sehr in dieser Welt – ein unglücklicher Kampf, den mit anzusehen immer auch ein Stück das Herz bricht. Die letzten 15 Jahre ohne Papa waren einerseits reich an Erlebnissen und Unternehmungen: Zwei Enkelkinder sind noch geboren worden – Kathrin am 29.4.89 und Anne am 21.7.89. Um ihre beiden Neuenahrer Enkelinnen, Ann-Christin und Kathrin, hat sie sich aus Leidenschaft und Hingabe gekümmert, schon ab dem Zeitpunkt, als Helga und Willi in die Kreuzstraße 113 eingezogen sind und Mama in ihr Elternhaus nebenan ging (Kreuzstraße 111). Vollends einbezogen und letzter Rettungsanker wurde sie nach dem 21. Juni 1994, Willis Tod. So sehr sie der Tod ihres jüngsten Sohnes ins Mark getroffen hat, so sehr hat sie die Verantwortung mit übernommen für die Pflege, Betreuung und Erziehung der beiden damals erst knapp 8- und 5-jährigen Mädchen. In diesem Jahr wird Ann-Christin 17 und Kathrin ist 14 Jahre alt. Auch und gerade für die beiden bedeutet der Tod ihrer Oma einen tiefen Einschnitt. Nach dem frühen Tod ihres Vaters geht jetzt die letzte Ahne von der Seite ihres Vaters aus der Welt. Für die beiden und für mich bedeutet es für eine Sekunde des blinden Schmerzes den Untergang einer ganzen Welt – und für die langen Augenblicke des Erinnerns immer auch tiefen Schmerz über einen unermesslichen Verlust.
7.15 Uhr: Mama liegt halb auf der linken Seite, den Mund geöffnet. Sie atmet nur noch 8 bis 10 Mal in der Minute. Ihr Gesicht spiegelt den Ausdruck totaler Erschöpfung und die Frage, „wann ist es denn endlich vorbei?“ Ihre Schläfen sind schon leicht eingefallen. Ihre Hautfarbe bis in die Fingerspitzen ist hingegen noch rosig und zeugt von guter Durchblutung. Wie macht sie das? Ich habe es schon deutlich gesagt. Wenn ich die Mittel zu einer aktiven Sterbehilfe zur Verfügung hätte, würde ich vermutlich davon Gebrauch machen. Die einzige „Beruhigung“ resultiert aus der Medikatierung, die ja therapeutisch nicht mehr indiziert ist, sondern einzig dazu dient, Mama schmerzfrei zu halten und vielleicht nicht den Todeskampf, den sie nun über mehrere Tage schon geht, auszudehnen. Aber für uns ist es ein erbärmlicher, andauernder Kampf.
9.15 Uhr: Mama ist um 8.00 Uhr frisch gemacht worden. Wir haben das Gebissteil entfernt. Mama war sehr unruhig, in den letzten Stunden hatte sich ihre Atemfrequenz bis auf 8 pro Minute reduziert; aber sie hatte wachähnliche Zustände mit großer Unruhe, außerdem hat sie mehrfach Not signalisiert, weil sie sich verschluckt hatte. Ich habe daraufhin Dr. Alberti angesprochen, der von sich aus schon nachgefragt hatte. Sollte man jetzt nicht mit diesem Valiumderivat (Dormicum) „unterstützen“? Der Abschied ist vollzogen, die Therapie abgesetzt, jede Belastung kann jetzt – sofern sie abwendbar ist – nicht mehr legitimiert werden. Dr. Alberti bestätigt dies nach Augenschein uneingeschränkt. Die Infusion ist angelegt. Mama schläft ruhig, die Atmung ist schwer reduziert. Dr. Alberti weist darauf hin, dass die Gabe von Valiumderivaten auch eine Belastung von Atmung und Kreislauf bedeute. Es sei keine „Sterbehilfe“, sondern ausdrücklich therapeutisch im Sinne von Erleichterung indiziert. Dies entspricht exakt unserem Willen (damit sind Ulla und ich gemeint), denn nirgendwo besteht nach den vergangenen sechs Tagen so uneingeschränkte Übereinstimmung, wie in der Absicht, Mama die letzten Stunden/Tage so „leicht“ wie nur irgend möglich zu machen.
10.45 Uhr: Ich bin zu feige, ihr – meiner Mama – das Kissen aufs Gesicht zu drücken – 2 oder 3 Minuten. Dr. Alberti hat mir versichert, dass Mama mit der Gabe von Morphium und Valium subjektiv nicht mehr leidet. Ich kann ihm das nicht so recht glauben. Beginnendes Lungenödem, Rückstau in den Bronchien, Atemnot, offene Augen, Verkrampfen der linken Hand – nur noch physiologische Reaktionen??? Ja, ich leide wie ein Tier. Wie kann es denn sein, dass wir jede Kreatur erlösen, aber diesem sinnlosen Leiden kein Ende zu setzen vermögen? Wut und Hass stellen sich ein. Eine röchelnde, in der Atmung völlig reduzierte, ringende Frau – große, leere, aber immer noch suchende Augen, die von Mal zu Mal brechen, Atemfrequenz vielleicht noch bei 6 Zügen pro Minute. Dann bin ich ruhig, gelassen, resigniert – Beobachter des Sterbens meiner Mutter. Vielleicht sind es ja wirklich nicht mehr die Züge eines wissenden, spürenden, fühlenden, reflektierenden Menschen, sondern nur noch physiologische Korrelate, gelebtes Leben.
12.15 Uhr: Man sollte seine Wut überdenken. Anflüge von Leere stellen sich ein. Ich sitze im Dahliengarten und hoffe, dass Mama einfach aufhört zu atmen. Sogar hier ist die mit Niklas Luhmanns verbundene Unterscheidung von gelebtem, erlebtem und erzähltem Leben auf einmal ein möglicher Schlüssel zum Verstehen: Mama scheint auf der Ebene „erlebten Lebens“ also auf der Ebene von
Bewusstseinsprozessen durch die Medikatierung in eine Welt der Drogen und Tranquilizer eingetreten zu sein, im Übergang zu dem, was uns nicht zugänglich ist. Und natürlich vollziehen sich auf der Ebene „gelebten Lebens“ weiterhin die noch möglichen physiologischen, biochemischen, biophysikalischen Prozesse. Wir können dies an den Körperfunktionen zweifelsfrei beobachten. Was wir daraus machen ist auf der Ebene erzählten Lebens unsere Sache, die unseres Erlebens und die unseres Kommunizierens.
19.20 Uhr: Es ist schon merkwürdig. Vor einer halben Stunde ist Helga gegangen. Nach einem Absaugen gegen 17.00 Uhr liegt Mama jetzt ganz ruhig, halbseitlich. Ihre Atemfrequenz hat sich wieder normalisiert (13/Minute). Das bedrohliche Erscheinungsbild von heute Morgen hat sich relativiert. Es sieht so aus, als könnte sie noch tagelang, ja wochenlang so liegen. Es ist nicht erkennbar, was den totalen Zusammenbruch auslösen kann. Man sagt wohl allgemeinhin ein Lungenödem verursache letztlich den Zusammenbruch des Herz-Kreislauf-Systems. Warum soll ich verschweigen, nachdem sich dieser Zustand als akute Entwicklung über eine Woche erstreckt, dass uns dies zunehmend belastet. Ja, sich Zeit nehmen für die Begleitung zum Tode hin.
22.20 Uhr: Ja, es beginnt die dritte Nacht auf der „Normalstation“: 5 Innere, Zimmer 551. Irgendwann beginnt man sich zu fügen, nicht in das Unabwendbare – das ist längst geschehen, nein in die merkwürdige Dynamik des individuellen Sterbens. Mir ist klar geworden, dass wir dem Sterben bei der Trias von Tod, Trauer, Sterben viel zu wenig Aufmerksamkeit einräumen. Es ist zweifellos, je nach individueller Situation, der Aspekt mit der größten akuten Belastung. Sie zwingt uns zur permanenten Auseinandersetzung mit uns selbst, mit dem Sterbenden und mit der Beziehung, die zwischen uns war und ist. Mama liegt jetzt seit Stunden friedlich da und atmet regelmäßiger. Sie hat seit heute Morgen sicherlich keine erkennbaren bewusstseinsmäßigen Zustände mehr gehabt. Die Gabe von Valium als 24-Stunden-Infusion dämpft alle Empfindungen unter ein bewusstseinfähiges Niveau ab. Am 24. April 1988 ist Papa nach einer intensiven Woche gestorben. Vielleicht will Mama uns eine Gedächtnisbrücke bauen. Morgen wird eine Woche seit ihrem Schlaganfall vergangen sein: der 24. Juli 2003. Es ist und bleibt merkwürdig, welche innere Ruhe einem zuwächst, so als würde man psychisch geadelt. Alle in Mamas Familie sind schwer und zäh aus dem Leben gegangen. Es inspiriert mich gerade gar nicht zu diesen gängigen Lebensweisheiten, dass der Mensch so stürbe, wie er gelebt hat. Mama hat ein rechtschaffenes Leben gelebt und sicherlich nie irgendjemandem bewusst und willentlich einen Schaden zugefügt, zumindest nicht, was meiner Kenntnis zugänglich wäre. Ich erinnere hingegen, dass sie viele Jahre über die Katholische Frauenschaft Krankenhaussozialdienst (Besuchsdienst) geleistet hat. Sie hat ihre Kinder und ihre Enkelkinder groß gezogen (nicht alle); sie war das Zentrum einer Familie, in der sich auch die Kinder mit ihren Familien verbunden fühl(t)en. Es ist mehr als augenscheinlich, dass auf der Ebene der Enkelkinder starke Bindungen untereinander entstanden sind.
24/07/03
4.00 Uhr: In einer Stunde kommt Ulla. Dann bin ich mit einer Unterbrechung von 3 Stunden 28 Stunden im Krankenhaus. Mama liegt seit etwa 20 Minuten ganz ruhig, atmet kurz und regelmäßig; eigentlich kaum zu glauben, dass das in absehbarer Zeit zu Ende gehen soll. Ich fahre gleich nach Hause und versuche einmal „auszuschlafen“. Wir wissen nicht, wie lange es noch dauert. Zum x-ten Mal stelle ich fest, wie sehr uns Willi fehlt. Zu Dritt wären wir ein optimales Team gewesen. An dieser Stelle muss auch einmal Dank an Gaby und Helga gesagt werden, die neben ihrer Arbeit mehrere Stunden Wache gehalten haben. Heute Nacht war Dr. Alberti eine Zeit lang hier, ein junger 28jähriger Arzt, der mit seinen wenigen Jahren Berufserfahrung (zwei Jahre) eine außerordentliche Reife, Abgeklärtheit und Wärme an den Tag legt. Er beeindruckt durch seine nüchterne Betrachtungsweise gesellschaftlicher Trends und leitet die Orientierung seiner professionellen Haltung aus klaren persönlichen Motiven ab; er erzählt nicht nur etwas über Ethos, Echtheit und Maloche, sondern er lebt sie authentisch vor; zu meiner großen positiven Überraschung. Auch Michael hat sich von seiner Oma verabschiedet. Er ist ein weichherziger, verwundbarer Mensch.
4.15 Uhr: Die Zeit zieht sich wie ein zäher Kaugummi dahin. Wenn ich nach Hause fahre, bin ich gegen sechs Uhr in der Frühe dort. Wenn man mich in Ruhe schlafen lässt, könnte ich bis zwölf Uhr schlafen (6 Stunden) und wäre gegen 13.00 bis 14.00 Uhr wieder hier. Das wären für Ulla mehr als sieben Stunden, eher acht, und das ist zu lange. Wenn Mama so ruhig schläft, soll sie sie über die Mittagszeit alleine lassen? Das muss möglich sein. Aber wie der Teufel es will, oder der liebe Gott…
Es ist merkwürdig: Bezogen auf die Arbeit habe ich latent Anflüge von Legitimationsbedarf. Vor allem deshalb, weil sich kein anderer Arbeitnehmer ad hoc die Freiheit nimmt, konsequent das Notwendige, das „Natürliche“ zu tun. Man muss es wohl so sehen, dass die Uni – vor allem in der Konstellation, in der ich arbeite – nach wie vor ein ungemein privilegiertes Feld darstellt.
4.25 Uhr: Ich schreibe die Zeit tot In meiner Seelennot, vielleicht wird sie meine Freundin, und ich habe sie nur betäubt, damit sich nichts mehr sträubt und doch noch passt in meine Welt.
15.15 Uhr: Ich mag es nicht glauben. Dieser Todeskampf – oder sagen wir neutraler: dieses Sterben – zieht sich in einer Weise hin, die ich so nicht erwartet habe. Bewusst habe ich heute Sherwin B. Nulands Buch: „Wie wir sterben. Ein Ende mit Würde“ mitgebracht und habe die Kapitel über die biochemischen und physiologischen Abläufe des Sterbens gelesen. Nuland beschreibt die unterschiedlichsten Konfigurationen und thematisiert darüber hinaus Fragen der Sterbehilfe und eines würdevollen Rahmens. Natürlich bin ich schockiert und will nicht verstehen, dass ein vorgeschädigtes Herz, der Tatbestand eines vor einer Woche eingetretenen massiven Hirnschlags nicht zu einem Zusammenbruch der vitalen Grundfunktionen geführt haben und den eintretenden und bevorstehenden Tod nicht beschleunigen. Und ich mag mich an dieser Stelle wiederholen: Unser aller Abschied ist gemacht und Begleitung hat sich erschöpft, sie war intensiv, sie war möglich, sie hat all das möglich gemacht, was in dieser Situation erreichbar war.
Aber das, was jetzt geschieht, hat mit einem Ende in Würde nichts mehr zu tun. Gut, dass wir in einem Krankenhaus sind, richtig, dass eine Medikation nun wohl zur Schmerzfreiheit und Bewusstlosigkeit führt – alles war im Prozess im Übermaß gegeben. Aber nunmehr einen röchelnden, mit jedem Zug um Atem ringenden Körper weiter diesen aussichtslosen Kampf kämpfen zu lassen, das hat mit einem würdevollen Ende nichts mehr zu tun. Wir nahen Angehörigen, Tochter und Sohn begleiten unsere Mutter mit großer Liebe und Hingabe, aber wir beide vermögen nicht nachzuvollziehen, warum man das, was unabwendbar ist, sich in dieser entwürdigenden Weise vollziehen lassen muss: Alle zwei bis drei Stunden wenden, absaugen, Mundpflege, eine Magensonde zur Ent- und Versorgung…
19.30 Uhr: Mama liegt halb auf der linken Seite. Sie atmet kurz, stakkatomäßig (lang ein, kurz-explosiv aus) – es vollzieht sich eigendynamisch, zentralnervös gesteuert Leben, eine Grenzform dessen, was wir gelebtes Leben nennen – wodurch gelangt dies an ein Ende? Durch Herzstillstand, Hirntod, Nierenversagen – alles auf einmal???
22.35 Uhr: Ja, es ist Donnerstagabend, 22.35 Uhr – kein Ende, kein gnädiges Ende, Prognosen unsicher, obwohl katastrophaler Zustand, zweifellos way of no return, aber wie lange, wie weit, wie qualvoll auch für uns, die wir mitansehen, wie ein ausgemergelter Körper – nein, ausgemergelt wirkt Mama nicht, vielmehr ausgepumpt – sich quält; jenseits allen Bewusstseins lebt nur noch das, was leben muss.
23.55 Uhr: Panik – Entsetzen: nur als Vorstellung -
Absaugen – Novalgin zusätzlich zur Prohypnolgabe – Morphium wegen SCHNAPPATMUNG. Schnappatmung: chiiii-ähh, chiiii-ähh, chiiii-ähh… Wie viel Morphium, wie viel Polypnol noch???
3.50 Uhr: Seit Mitternacht habe ich jetzt ein eigenes Bett! Ich danke den Schwestern von der Nachtschicht. Das, was wir alle (?) wissen, bestätigt sich. Unsere Gesellschaft ist krank in der völligen Fehleinschätzung und der daraus resultierenden Schieflage von Wertigkeiten. Diese „Normal“-Schwestern leisten – wie die Intensiv-Schwestern – eine Arbeit, deren Wert wir nicht annähernd würdigen. Wir nähern uns der Pflegegesellschaft und der Zeitpunkt ist absehbar (und ja auch schon irgendwie da), wo wir die dritte, die vierte Welt einladen und zu pflegen und den Arsch zu wischen, wenn wir es denn zahlen können. Und die Gebete aller aufrechten und fürsorglichen Kinder – der erwachsenen und der greisen Kinder – lauten anders als die der Kindkinder: Lieber Gott, mach meine Mama tot, hilf ihr und uns in unsrer großen Not. Ich danke allen Schwestern sehr, die meine Eltern pflegen, schließ alle ein in deinen Segen.
7.15 Uhr: Mama hat in den letzten Stunden eine ruhigere Nacht gehabt. Ich habe ein eigenes Bett und habe sehr gut geschlafen. Ist das noch normal? Ich möchte eigentlich nicht zum Routinier dieser Situation werden, bin aber auf dem besten Wege dazu. Es rächt sich halt, wenn man Dinge vor der Zeit tut: Über Beerdigungsarrangements sprechen, Todesanzeige entwerfen, Totenzettel gestalten, Kleid aussuchen, Sarg aussuchen (!), Adressen zusammenstellen. Aber das ist doch vernünftig und legitim – oder? Meine Schwester ist da viel pragmatischer und nüchterner. Aber sie hat über 20 Jahre in der Altenpflege gearbeitet. Und ich bin nur Theoretiker im Life-Kurs: Sterben für Anfänger (Linhard Bardill). Mama atmet jetzt sehr ruhig und vor allem wird die Atmung nicht mehr durch Schleimbildung behindert. Ich hoffe jetzt für sie und für uns auf das Wochenende! Was ist das für eine Hoffnung? Seit Montag, dem 21.7. ist Mama jetzt auf „Normal“, das heißt sie bekommt außer Morphium, Polypnol, außer einigen Gaben Novalgin keine Medikamente, keine Ernährung, die Magensonde ist entfernt! Wodurch lebt dieser geschundene, stark belastete Organismus, wie weit käme jemand zurück, wenn man alle Schmerzkiller und Ruhigsteller absetzen würde? Wie weit ist die Schädigung des Gehirns vorangeschritten? Was macht uns so ungeduldig? Das heißt, solange ich hier bin, bin ich ruhig, gelassen, sehr in mir selbst ruhend. Sobald ich das Haus verlasse, nimmt die Unruhe zu. Wie viel Zeit dürfen denn Angehörige sich nehmen, um den Sterbeprozess zu begleiten? Stirbt Mama denn zur Zeit noch, oder hat sie einfach für eine Zeit aufgehört zu sterben, richtet sich ein in dieser Zwischenwelt? Es wäre eine verdammt lohnende Aufgabe Angehörige auf dem Weg der Sterbebegleitung zu begleiten, sofern und inwieweit Menschen diesen Prozess überhaupt noch bewusst annehmen und gestalten (wollen/können). Was bedeutet im Übrigen dieses „Können“ zwischen Selbst- und Fremdvalidierung/verantwortung? Wie viele Menschen sind denn grundsätzlich bereit, ihren Urlaub dafür einzusetzen, sich mit Widerständen aus dem familiären und beruflichen, aus dem gesellschaftlichen Umfeld auseinanderzusetzen??? Wer hat denn überhaupt eine Vorstellung bzw. die Grundeinstellung, dass dies für ihn ein Gewinn, eine unabdingbare Voraussetzung zu einer umfassenden Persönlichkeitsbildung ist? Werde, der du bist, der du sein kannst, indem du andere gehen lässt! Wer ertappt sich nicht dabei, die Vorstellung, den Wunsch zu entwickeln, dies alles möge schnell, schneller, am schnellsten vorbeigehen; es möge das „Immer-Schon-Gewesene“ sein. Wann beginnt der Legitimationsbedarf der eigenen Familie, den Arbeitskollegen gegenüber? Wann, ab wann gilt jemand selbst als GAGA? Dies sind immer auch Fragen, die in uns selbst auszutragen sind. Wann beginnt selbst das Umfeld im Krankenhaus Fragen zu stellen. In Krankenhäusern wird zwar massenhaft gestorben, aber es sind halt keine Sterbehäuser, kein Hospize. Wie denn auch in einer Gesellschaft die dem Jugendwahn verfallen ist, und in der eigentlich fast alle Menschen latent das Gefühl haben „unsterblich“ zu sein? Hier – im „Maria-Hilf“, in Bad Neuenahr, sind wir allerdings so etwas geworden wie eine symbiotische Zwangsgemeinschaft, in der ich am wenigsten Belastung, zumindest aber partiell auch Entlastung bedeute, weil ich, weil wir einfach da sind, und dabei sehr diskret: „Der schreibt schon wieder.“
12.50 Uhr: Ich habe zu Mittag gegessen (Fisch, Kartoffeln, Spinat und Salat). Vorher war ich mit Ulla bei Zerwas (Bestattungsunternehmer), fast Nachbarn, die schon für Papa gesorgt haben und die es auch sicher für Mama gut machen werden (Willi ist ja von seinem Schulkameraden Creuzberg eingesargt und bestattet worden). Während ich dies aufschreibe, liegt Mama zwei Meter von mir weg und atmet sich weiter vor an die Grenze. Dr. Alberti hat heute Vormittag noch einmal mit Mühe eine neue Infusionsmöglichkeit eröffnet. Mama ist seit zwei Tagen im Zustand totaler Bewusstlosigkeit, sozusagen im Tiefschlaf, schmerzfrei, ohne Empfindungen (?), ohne Bewusstsein. Ich wäre nicht ansatzweise so abgeklärt, wenn wir nicht über gut eine Woche den Abschied genommen hätten, der uns möglich war; miteinander und ein jeder für sich.
Mama und ich haben den Abschied über die letzten Jahre zelebriert, mit jedem nur für uns bestimmten Zusammentreffen. Dies war zwar immer auch „äußeren“ Anlässen geschuldet (Einkaufen, Arztbesuche, Friedhof, Aufenthalte in Krankenhäusern und Reha-Einrichtungen). Einmal waren wir für einen Tag bei Liesel, ihrer Cousine, in Niederadenau. Sie hat gekocht, wir haben erzählt und gemeinsam gegessen, Biene (unsere Border-Collie-Hündin) war schon bei uns. Immer war mir bewusst, dass es letzte Unternehmungen sind. Aber sie waren fröhlich und unbefangen, immer auch Ernst vor allem in den Erinnerungen. Und es gab viel zu erinnern. So ist auch mein Erinnerungsbuch entstanden, in dem alle ihren Platz haben. Ich habe es mir genommen. Und ich habe mich und die anderen reich beschenkt. Wir haben die große Idee und die große Kraft der Familie gelebt und verteidigt – bis in die letzten und vorletzten Widersprüche und Ungereimtheiten hinein. Wir lebten zwischen den Welten und mittendrin.
„Schreiben ist Rettung vor dem Tod“ (Günter Kunert). Einmal schauen, was mir bleibt; nie um den Preis im Schreiben zu retten, was nicht war und was nicht wahr; immer schreiben, um zu bewahren, was unser Gedächtnis sonst verliert. Es ist merkwürdig. Wir – meine Herkunftsfamilien und deren Herkunftsfamilien haben zur Schreibkultur keinen Bezug. Und unterdessen bin ich selbstbewusst genug zu sehen, dass unsere Geschichten Geschichte sind, zwar immer noch primär in dem Sinn und in der Absicht uns unserer selbst zu vergewissern, aber immer doch klar auch in dem Bewusstsein, in eine lebendige Kultur eingebettet zu sein.
26/07/03
Oh wache Stunde,
nächster Versuch; erneute Runde im weißen Buch.
Spitz, heiß und begehrlich, spritzig und frisch, treu und ehrlich, glatt wie ein Fisch
steigst du bergan und gipfelst im Tal, treibst du im Kahn zwischen Freude und Qual…
Damit begann die Eintragung in die letzte Kladde, die sich erschöpft hat in einem Ritt der apokalyptischen Reiter vom 30.6. bis zum heutigen 26.7. In dieser Zeit hat sich das Leben meiner Mutter erschöpft. Sie liegt sterbend neben mir. Noch gelingt es ihr nicht den letzten Atem auszuhauchen. „Schnappatmung“ nennt man diese letzte Phase, in der der Sterbende „verzweifelt“ nach Luft schnappt, erschöpft einen langen – bis zu 20 Sekunden dauernden – Aussetzer hat und dann den Wechsel zwischen Schnappen und Pausieren erneut beginnt. Ich habe verzweifelt in An- und Abführungszeichen gesetzt, weil „Verzweiflung“ Bewusstsein voraussetzt. Und Bewusstsein ist seinerseits an Voraussetzungen gebunden. Die sind nicht mehr gegeben. Mit der Dauergabe von Prohypnol ist alle Wahrnehmung so sehr abgedämpft, ins „Bewusstlose“ verschoben, dass „Bewusstsein“ ausgeschaltet ist; einmal abgesehen von der vermutlichen dauerhaften Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff. Ich habe ja keine Erfahrung mit Sterbenden. Bei Papa war ja nach dem Abschalten der Herz- Lungenmaschine in kurzer Zeit, innerhalb von Stunden, der Tod eingetreten. Mama war nie an – vitale Lebensfunktionen unterstützende – Apparaturen angeschlossen. Sie kämpft von Anfang an ihren einsamen Kampf gegen einen übermächtigen Gegner, anfangs noch auf der „Intensivstation“ mit kreislaufstabilisierenden Medikamenten unterstützt. Für einen unbeteiligten Beobachter müsste es wohl absolut faszinierend sein, die äußeren, beobachtbaren Verhaltensregungen zu beobachten und zu protokollieren, die sich in dieser letzten Phase erkennen und beschreiben lassen. Wenn man einen Herzmuskel mit „angemessenen“ Elektroimpulsen (also einem schlichten „Herzschrittmacher“) reizt, also über Reizauslösung die Kontraktion des Muskelgewebes stimuliert, dann hat man vermutlich ein passendes Bild. Dies funktioniert ja nur, wenn Stoffwechselprozesse oberhalb eines nicht unterschreitbaren Levels ablaufen. Das Zusammenspiel von Herztätigkeit, Blutzirkulation, Sauerstoffanreicherung in der Lunge bewegt sich offensichtlich auf einem soeben noch zureichenden Niveau.
10.10 Eben war Tina da – Helgas Schwester. Sie ist Krankenschwester und arbeitet auf der gegenüberliegenden Seite. Sie hat zu Mama eine gute Beziehung gehabt, hat sie gut gekannt und steht dennoch soweit außerhalb, dass sie die Situation nüchtern einzuschätzen vermag: „Es kann minütlich, stündlich zu Ende gehen. Es kann sich aber auch noch Tage hinziehen.“ Ich sollte mich verabschieden von allen medizinisch-funktionellen Sichtweisen und nunmehr noch mit Ruhe diesen Sterbeprozess begleiten.
10.35 Vergeht man sich eigentlich an sich selbst und an der eigenen Mutter, wenn man den Wunsch hat, es möge zu Ende gehen? Vielleicht angesichts der Situation eine rhetorische Frage!
Der Sterbetropf
Binnen zehn Tagen
Ein Anfang, ein Ende;
Erschöpft alle Fragen
Die Hoffnung auf Wende.
Am Anfang ein Suchen:
Was hilft uns jetzt noch?
Dazwischen ein Fluchen
Nun verstehen wir doch!
Am Anfang noch sehen
Und immer noch fühlen,
einander verstehen –
langsam erkühlen.
17.25 Ewig lange keine Eintragung mehr. Sieben Stunden sind vergangen und Erdzeitalter ist es schon her, da das Wünschen noch geholfen hat. In dem beschriebenen Schnapp- und Pausenrhythmus „nähert“ Mama sich langsam ihrem Ende; wie ein Fisch auf dem Land! Wo bleibt da noch „Würde“. Es scheint so, wie mit dem Urwaldriesen im Amazonasdschungel. Wer eigentlich bekommt denn mit – rein hypothetisch – wenn der umfällt? Niemand! Er fällt gar nicht um. Das Umfallen bedarf eines Beobachters! Nicht ganz. Alle Menschen sterben. Die meisten aber „unbeobachtet“. Sie werden, wenn es gut kommt, gepflegt, gebettet, gewaschen, versorgt; aber dies sind routinierte Abläufe im Krankenhausalltag. Nehmen sich Angehörige die Zeit, das Sterben zu begleiten, erfahren sie unter Umständen, dass die Würde des Menschen darin besteht, die würdelosen Umstände seines Sterbens zu respektieren, nur pflegerisch Hand an ihn zu legen, ihm schonend sein Bewusstsein zu nehmen, aber ihn aus Respekt wie einen Fisch auf Landgang krepieren zu lassen, ihn jämmerlich krepieren zu lassen. Aber wie gesagt, dies spielt sich nur in den Augen eines Beobachters ab.
27/07/03
9.30 Ich bin vor einer Viertelstunde aus Koblenz gekommen.
Ulla und ich sind gestern Abend um 21.00 Uhr nach Hause gefahren in der Gewissheit, dass Mama in dieser Nacht stirbt. Ich finde sie heute Morgen in keinem merklich veränderten Zustand – nach wie vor schnapp-atmend (Schnappatmung: für mich das Unwort des Jahres 2003). Sie kann offenbar nicht sterben – sie weiß nicht wie Sterben geht! Ich habe bereits für einen kleinen Eklat gesorgt, weil aus einem Tropf vermeintlich eine Calcium-Lösung verabreicht wird. Es stellt sich heraus, dass es sich um Valium handelt, weil im ganzen Haus kein Prohypnol mehr aufzutreiben ist.
Ich bin vollkommen erschüttert, verfluche den Schöpfer – und wir müssen alle dafür büßen: „Wen Gott liebt, den züchtigt (prüft) er.“ Das war offensichtlich das Credo meiner Großmutter – und meine Mutter hat sich diese Überzeugung ganz offensichtlich auch zu Eigen gemacht.
11.00 Mama ist tot. Um 11 Uhr, während – oder kurz nach dem Waschen und Frischmachen ist Mama gestorben. Sie liegt jetzt (um 11.40 Uhr) ruhig in ihrem Bett. Ihre Züge sind entspannt. Friede ist eingekehrt. Ulla und ich sind bei ihr. Eine liebe Schwester aus dem Orden hat die Gebete gesprochen. Das war gut so und in Mamas Sinn. Das war ein langer, harter Weg! Ich hoffe, dass sie auf diesem Weg und über diesen Weg hinaus das Paradies gefunden hat. Ich hoffe es für sie und für uns alle. Ich bin und bleibe ein Träumer für sie, für mich, für uns. Ulla fährt jetzt nach Hause und holt noch den Brief für die Krankenschwestern. Ich bleibe noch eine Weile bei Mama, wie so oft in den letzten Monaten. Wir beide allein – ein letztes Mal. Man muss den Becher bis zum Boden leeren, um ihn neu füllen zu können.
Im Augenblick ist alles ganz leicht. Im Glauben, dass es jetzt gut und richtig ist, liegt eine große Erleichterung. Aus ihr erwächst die Kraft, die Zukunft wieder packen zu können. Ich hoffe alle – vor allem die Kinder – werden verstehen und die Kraft und Zuversicht weitertragen und nutzen, die Mama 79 Jahre hat leben lassen, drei Kinder hat gebären und Verluste ertragen lassen; vor allem den Tod ihres jüngsten Sohnes, Willfried, an den ich jetzt mit besonderer Intensität und Wehmut denke. Möge sie Papa, Willi, Oma, Opa und all die anderen, die ihr vorausgegangen sind – auf welche Weise auch immer – wiederfinden. Vielleicht geschieht dies ja nur einmal, im Augenblick des Todes und damit für immer (das ist meine Interpretation der „ontologischen Differenz“(erfahrung). Welch ungeheurer Trost!
15.30 Ich bin dort, wo meine kleine Freiheit grenzenlos ist; oben auf dem Heyerberg mit Biene. Wir – Claudia, AnnChristin, Kathrin, Laura, Anne und ich – haben miteinander Kaffee getrunken, geweint und gelacht, und dann musste ich auf meinen Weg: Leben ist Unterschiede bilden. Der fundamentale Unterschied ist Tod – Leben oder „operativ“ gesprochen: leben – nicht-leben. Mama ist tot. Ich lebe. Sie lebt in mir, in uns, in meinen Erinnerungen und Bildern.
17.15 Ich habe mich auf den Flugplatz „gerettet“, nachdem auch der Himmel nun weint. Zwei Stunden bin ich durch die Felder und Wiesen gelaufen und habe an alles und nichts gedacht. Ich versuche herauszufinden, wie sich das anfühlt, jetzt auch ohne die Mutter zu sein, ins erste Glied gerückt zu sein, wie viele sagen, endgültig erwachsen zu sein: Erst Papa (1988) – da waren wir noch alle zusammen, dann Willi (1994) und nun Mama. Ab und zu gucken die Leute merkwürdig. Aber wie schon Peter Fuchs meint: Auf meiner Stirne stehen keine Leuchtbuchstaben, die wirklich etwas preisgeben von meinen Gedanken und Gefühlen – ein bisschen vielleicht.
30/07/03
Die Zwischenwelt – morgen ist Mamas Beerdigung. Ich wandere mit Anne und Biene nach Winningen. Es ist 18.15 Uhr, und ich fühle mich ziemlich dazwischen.
31/07/03
21.00 Uhr: Vor einer Stunde sind wir aus Bad Neuenahr zurückgekommen. Heute Morgen um 10.00 Uhr war Mamas Beerdigung; eine ruhige, gefasste Zeremonie, die mich im unmittelbaren Rückblick völlig überrascht. Ann-Christin und Laura hatten am Tag zuvor die Halle, in der Mama aufgebahrt war, geschmückt; auf eine so einfühlsame, harmonische und eindrucksvolle Weise hergerichtet, den Sarg in ein Meer von Sonnenblumen eingefasst, so dass sich eine überwältigende Pracht und Fülle darbot. Die Frauen aus der Nachbarschaft und ihr Jahrgang haben den Rosenkranz gebetet; an die hundert Menschen haben sie zum Grab geleitet. Pfarrer Hürter hat auf einfühlsame Weise das Ritual vollzogen (ein Totenamt ohne Orgelbegleitung!). Wir haben uns im Anker versammelt, die enge und weitere Verwandtschaft, Bekannte und Nachbarschaft. Es wurde erzählt, gelacht, erinnert. Danach haben wir uns bei Ulla zum Kaffee getroffen, dort wo wir am 3. Juli, genau vier Wochen zuvor, Mamas 79sten Geburtstag gefeiert haben. Ein guter, runder, satter Tag. Und ich frage mich angesichts dieser Eindrücke, inwieweit der/die intensive(n) Abschied(e) der letzten Jahre, Monate, Wochen einen „Trauervorrat“ hervorgebracht haben? Das ist wohl eine Frage, die mich noch geraume Zeit umtreiben wird.
01/08/03
Die letzte Eintragung signalisiert viel Unsicherheit – inwieweit ist mein Weg durch die Trauer noch dynamisch und lebendig? Ich fühle mich relativ betäubt. Von Sonntag an – mit dem Tod meiner Mutter um 11.00 Uhr am Vormittag, überwog zunächst die Erleichterung darüber, dass nun dieser quälende Prozess des Sterbens an ein Ende gekommen war. Sterben, nein, das Beobachten und Begleiten des Sterbens, war eine quälende und schockierende, illusionszerstörende Erfahrung. Aber da war zu Beginn noch etwas Anderes: Eine große Klarheit, eine Kraft, die mit Leichtigkeit verbunden ist. Im Gegensatz zu 1988 (Papa) und 1994 (Willi) bin ich mit einer so großen Klarheit, Kraft und Souveränität durch die anschließenden Tage der Vorbereitung und Organisation der Beisetzung gegangen, dass mich diese Haltung auch über den Donnerstag hinweg getragen hat. Inzwischen kommt mir das schon merkwürdig vor, und ich beginne mich zu fragen, inwieweit das alles noch „normal“ ist? Ich bin jetzt am liebsten alleine und versuche mich den Anforderungen des Alltags weitgehend zu entziehen.
05/08/03
Zum ersten Mal macht sich jetzt eher Sprachlosigkeit breit.
Erinnerungen drängen sich auf; immer wieder Bad Bertrich – letzte Male, letzte Spaziergänge, tastende Versuche in einen neuen, letztlich unerwartet ultrakurzen Lebensabschnitt; letzte Abschiede vor allem, fast schon inszeniert, letzte Blicke, Augenblicke; ein letztes Mal auf einer Parkbank (an der Ürs), ein letztes Mal gemeinsam in einem Café (einmal mit AnnChristin im Kurcafé), immer zuversichtlich, den letzten Lebensabschnitt noch einmal ins Visier nehmend; keine Pläne, aber der Blick und die Erwartung auf die Tage, die uns noch bleiben; ein letztes Mal gemeinsam Einkaufen (mit Tante Annemie), der letzte gemeinsame Kaffee in der Kreuzstraße 111, der uns zum Ritual der letzten Jahre geworden war; noch einmal 100 L Blumenerde für Papas Grab, noch einmal ein Buch: „Daweli Reinhard erzählt sein Leben“ (zu Ende gelesen!) – überhaupt immer noch Neugierde, gemeinsames Erinnern, Erzählen. Was könnte ich noch fragen? Was will ich noch wissen? Nie mehr – und doch sitze ich hier und sehe dein Bild, frage und gebe die Antworten selbst und erinnere letzte Male.
9.8.2013
Du könntest mich heute fragen, wie es denn weitergegangen
ist und wie es weitergeht. Und ich will auch euch – da drüben, auf der anderen Seite – davon erzählen:
Es ist viel geschehen – sowohl Erzählens- wie Verschweigenswertes, wovon ich im Übrigen nicht so genau weiß, wie ich das Eine vom Anderen unterscheiden soll bzw. kann. Weihnachten 2011 habe ich mit „deiner Geschichte“ begonnen: „Hildes Geschichte – oder: auch eine Liebe in Deutschland“. Sie wird in ein paar Monaten – zu Weihnachten 2013 erscheinen – in einer schönen Handausgabe für die Familie – bebildert. Ja, für die Familie, für meine Familie, für die, die noch da sind und die irgendwie und immer noch dazu gehören, ja, warum nicht – auch für die Familie, die auf der anderen Seite, in Österreich aus Franz – oder doch zumindest unter seiner maßgeblichen Beteiligung hervorgegangen ist. Die wollen doch auch wissen, wie das alles war bzw. wie es gewesen sein könnte und irgendwie auch gewesen sein muss. Da beißt die berühmte Maus den Faden nicht ab – er wird weiter gesponnen: Ohne Franz keinen Gert, keinen Werner und keine Ulla. Sowohl in Trostberg, da wohnt Werner mit seiner Familie, als auch in Ahrweiler, da wohnt Ulla mit ihrer zerbrochenen Familie, gäbe es nicht diese Enkelin und jenen Enkel, aus denen Franzens Urenkel mit hervorgegangen sind. Womit die einen im Einklang leben, das lässt die anderen nicht ruhen. Das Blut – die Blutsbindung und die Wahlverwandtschaft – beides treibt uns um, und wir schauen, wer sich da alles begegnet, wer da zusammenkommt und wieder auseinandergeht, welche Spuren sie hinterlassen und wie die Nachkommenden darin und darüber hinaus wandeln.
Ich bin gespannt, wo ich den Faden wieder aufnehmen werde?
Der Faden hat sich inzwischen zu einem dichten Gewebe entfaltet, in dem wieder und wieder die Frage im wesentlichen unbeantwortet bleibt, wie sehr Hildes Geschichte unser aller Geschichten durchwirkt. Wir alle - im familialen Kontext - sowohl als ihre blutsverwandten Kinder, Enkel und Urenkel als auch diejenigen im verschwägerten Sinne Außentstehenden - spüren noch ihre Wirkmächtigkeit. EnkelInnen und UrenkelInnen mögen in ihrem erwachsenen Leben, gereift und dann selbst - hoffentlich auf ein langes Leben zurückblickend - mit Blick auf dieses Sterbetagebuch ermessen können, dass sich mit Hilde nolens volens ein sozialer und emotionaler Knotenpunkt unserer Familiengeschichte offenbart.