<<Zurück

 
 
 
 

Dietmar Kamper: Altersradikalität - Einsamkeit und ein erstes Lob der Sterblichkeit

Dietmar Kamper ist 2001 gestorben. Aus der Vielzahl der Stimmen der Zunft ragt er immer mehr hervor - wie ein Leuchtturm, dessen Leuchtfeuer Erinnerung ist, dessen Orientierungskraft augenblicklich zerfällt - ihr Zerfallen gleicht den Erscheinungen einer Sonnenfinsternis:

"Es ist nicht die Offenbarung des überfließenden Lichtes, die den Menschen Fassung gibt. Es ist auch nicht das dunkle Nichts, das anstelle der Götter gähnt. Es ist die flüchtige Schönheit einer unwiederbringlichen Zeit, ein verschränktes Zwielicht das wandert. Deshalb gehören die Menschen nicht ins Paradies [...], sondern in den Augenblick. Hier und jetzt sind sie Kinder des Labyrinths, das sich aus den Spuren der Sonne auf dunklem Grund ergibt, immer wieder und immer anders (Der Sonnenstand. Ein erstes Lob der Sterblichkeit, in: Von Wegen, München 1998, S 20)."

Dietmar Kampers Traumbuch ist dem Augenblick geschuldet - vielleicht kann man sagen den Augenblicken seines Sterbens. Aber vor seinem Traumbuch war Kamper bereits auf dem Weg, den ihm die Alten wiesen:

"Die Alten glaubten, das jeder Einzelne sein eigenes Ethos habe, das sich aus den Konstellationen des Himmels und dem jeweiligen Stand der Sonne ableiten lässt. Der Bewegung innezuwerden, die der Körper in seiner Aufrichtigkeit auf Erden und mit der Erde beschreibt, galt als das höchste: eine kosmonautische Erfahrung auf dem Planeten als Raumschiff (ebd)."

Die neuerliche Auseinandersetzung mit Dietmar Kamper, der bei seinem Tod zur Unzeit in meinem Alter war (so etwa 66), führt zunächst einmal zu einer Position, die uns (noch) Lebenden zu denken gibt, und die ich einreihen möchte in die Auseinandersetzung mit anderen früh Verstorbenen, wie Roger Willemsen oder Henning Mankell oder Ulrich Beck. Sie wird zwangsläufig führen, zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem, was Kamper Altersradikalität nennt. Aber zuvor definiert er ein offenkundig hierzu passendes singuläres Ethos:

"So läuft schließlich alles auf ein singuläres Ethos hinaus, auf ein Gesetz für einen Fall: 'Handle nur, wenn das, was getan werden muss, nur von dir getan werden kann. Denke nur, wenn das, was gedacht werden muss, nur von dir gedacht werden kann. Leide nur, wenn das, was gelitten werden muss, nur von dir gelitten werden kann. Lass dich nicht vertreten. Vertrete niemand. Sprich nicht im Namen anderer. Verzichte auch auf deinen Namen. Höre lange zu und erkenne die Stimme, die nur dich meint (ebd., S. 23)."

Machen wir also weiter - oder besser: Fangen wir an! Auf knapp 14 Seiten entwickelt Dietmar Kamper seine Vorstellungen von "Altersradikalität" (a.a.O., S. 109-122) Möglicherweise kommt das für mich gerade eben zur rechten Zeit. Dietmar Kampers Überlegungen erweisen sich als gleichermaßen frappierend wie ernüchternd; für Schlupflöcher bleibt kein Raum. Vielleicht hier auch noch einmal der Hinweis darauf, dass Kamper 2001 im Alter von 66 Jahren gestorben ist, und das es eine gewisse Not wenden mag, wenn man Kampers Traumbuch zur Kenntnis nimmt und vielleicht auch die Art und Weise, wie ich Kampers Traumbuch zur Kenntnis genommen habe.

Kamper beginnt mit Jacqes Lacans Hinweis, die Angst sei das einzige auf der Welt, das nicht täusche. Und unvermittelt meißelt Kamper seine Definition von Altersradikalität in eine amorphe Welt:

"Das Vergessen oder Verdrängen der Angst nicht fortzusetzen heißt radikal werden, altersradikal."

Alle Menschen haben/kennen Angst! Haben alle Menschen Angst? Angst - vielleicht in der Weise, wie sie Martin Heidegger als die menschliche Grunderfahrung schlechthin annimmt?

"Die Angst ängstet sich nicht so sehr vor anderem Seidenden, sondern um das In-der-Welt-Sein als solches, schärfer gefasst: um die Möglichkeit des eigenen Nicht-Seins. Die Angst ist die radikale Erfahrung, in der dem Menschen das Seiende im Ganzen entgleitet: Er begegnet dem eigenen Tode (nachempfunden von Joachim Störig: Kleine Geschichte der Philosophie, Frankfurt 1999, S. 683)."

Dietmar Kampers Ausführungen zur Haltung einer Altersradikalität enden mit der Orts- und Zeitangabe: Berlin, 7.11.1994 - knapp sieben Jahre vor seinem eigenen Tod am 28. Oktober 2001. Zu Beginn begnügt er sich damit, Gewährsleute als Zeugen aufzurufen

"für die Möglichkeit, auch im Alter eine gewisse Unerbittlichkeit der eigenen Angst gegenüber zu bewahren und für die wachsende Sinnlosigkeit der Welt keine schnellfertige Lösung parat zu haben."

Geschichtsphilosophisch unterstreicht er seine Affiziertheit gegenüber einer grundlegenden Erfahrung der Sinnlosigkeit mit einem Rückgriff auf Günther Anders. Seine Erschütterung durch die Schlüsselereignisse des 20. Jahrhunderts lässt auch für Dietmar Kamper keinen Raum für eine positive Geschichtsphilosophie. Dies ist möglicherweise zentral für ein Verständnis dessen, was Kamper als knapp 60jähriger in der Folge unter Altersradikalität verstehen will:

"Auschwitz und Hiroshima, die organisierte Menschenvernichtung und der Abwurf der ersten Atombombe, das sind die Daten. Von diesen Daten an,- so Günther Anders - datiert eine neue Geschichte, und das wird sich in den Erfahrungen und Gedanken nach und nach zeigen. Er hat eine Unterscheidung getroffen, die zieht: Die Menschen können Dinge machen, denen sie in ihren Wirkungen nicht gewachsen sind. Sogar die Phantasie bleibt zurück. Und ihre Wahrnehmungsfähigkeit kommt nicht mit bei den Effekten der Vernichtungsmaschinerie, die dem triumphalen Geist der europäisch-amerikanischen Zivilisation anzukreiden sind. Neuerdings hat mich in dieser Hinsicht der inkommensurablen Wirkungen Friedrich Dürrenmatt erwischt. Seine Sätze zu den Physikern sind bestechend klar und konsequent: 'Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat. Die schlimmstmögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein. Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen.' Damit ist eine plausible Verbindung zwischen Intention und Effekt menschlicher Handlungen bestritten. Der Wille zur Macht ist durch das, was er auslöst, vielmehr an eine wachsende Ohnmacht gekoppelt."

Das alles passt natürlich nahtlos in ein Szenario, das dazu einlädt die in Aussicht stehende und faktisch Raum greifende ökologische Katastrophe auf dem Hintergrund der Unberechenbarkeit von Intention und Effekt zu bedenken.

In meinem Blog geschieht dies, indem philosophisch dem Kontingenten - der Macht des Zufalls - Respekt gezollt wird (siehe Odo Marquardt), indem andererseits aber aus der Sicht einer Verantwortungsethik heraus der schnellfertigen Entlastung durch überraschende Effekte unseres alltäglichen Handelns der Boden entzogen wird. Es mag weniger als ein Zufall sein, dass meine Gewährsleute für die Zurückweisung der Schlupflöcher meistenteils bereits tot sind und erst spät zu einer Kamperschen Haltung der Altersradikalität gefunden haben: Roger Willemsen, Ulrich Beck, Henning Mankell, Günter Altner. Von den Lebenden ist es Maximilian Probst, ein junger Zeitredakteur, der uns nachhaltig darauf aufmerksam macht, dass die Alternative lautet: Umdenken oder untergehen!

Dietmar Kamper erwähnt seinen Lehrer Eugen Rosenstock-Huessy. Allein schon aus Gründen, die meinen eigenen Abgang aus dem universitären Kontext betreffen, ist die entsprechende Passage hier zu berücksichtigen. Kamper erwähnt, dass Rosenstock-Hussey im Alter eine Soziologie geschrieben habe, die damit ende, eine neue Besatzung für die Universtiäten vorzuschlagen: "Aber das sind keine jungen Revolutionäre, sondern alt und älter gewordene Menschen, die einen Grundsatz beherzigen können, den Grundsatz nämlich, der - noch in Latein gefasst - darauf vorbereitet, um der Wandlungsfähigkeit willen Antworten zu riskieren, für die es noch keine Fragen gibt: Respondo etsi mutabor.

Aus dieser Haltung: Ich antworte, und wenn ich auch verwandelt werde leitet Kamper im folgenden seine Überlegungen ab und meint - bezogen auf das Gesamtthema -, das Altern Zukunft haben könne nur durch Radikalität. Obwohl Kamper zum Zeitpunkt seiner Überlegungen noch keine 60 ist, gipfeln seine Hinweise in einer Sichtweise, die für die wirklich Alten ein prekäres Ausmaß annimmt, und die auch nicht durch eine noch so radikale Definition von Radikalität zu lösen sind. Und ich bin mir nicht sicher, ob Kamper zum damaligen Zeitpunkt wirklich schon sehen konnte, was die Prämissen denn sind für eine so radikale Definition des Alters und einer ihr gemäßen Altersradikalität, ohne die die neue Qualtität des Alters bereits im Ansatz verfehlt werde:

"Es geht nur noch um Selbstbestimmung, um eine Bestimmung, die von denen geübt wird, die alt werden, und nicht von anderen, die etwas vorschreiben. Eine Fremdbestimmung, so scheint mir, verfehlt die neue Qualität des Alterns bereits im Ansatz."

Es ist aus der Perspektive eines knapp 60jährigen, der nicht wissen konnte, dass ihm nur noch sechs Jahre beschieden sein würden und dass ihm somit das hohe Alter als Erfahrungsraum versagt bleiben würde, leicht gesagt - und mit einem verlockenden Wortspiel gepaart, dass es weder um Starrsinn noch um Stumpfsinn gehe:

"Es geht bei der genannten 'Qualität' nicht um ein Ausbleiben von Wachstum und auch nicht um den Eintritt von Verfall, weder um Stillstand noch um Degeneration; grob formuliert: weder um Starrsinn noch um Stumpfsinn."

Eigentlich passt diese Einschränkung nicht zu den hellsichtigen Analysen Kampers - oder ich verstehe seine Argumentation nicht. Denn im gleichen Abschnitt brandmarkt Kamper die gesellschaftlichen Verhältnisse, die eine Formation bedingten, in der die Menschen sich zunehmend nur noch auf Alternativen hin organieren könnten:

"Die Alternative aber ist heute ein Falle. Es wird immer deutlicher, dass sie eine verkappte Unlösbarkeit darstellt. Wer Alter so formiert, hat einen doppelten Tod in petto, sei es die krampfhaft verlängerte Jugend, sei es eine vorzeitige greisenhafte Zufriedenheit."

Kamper hat sich in der Alterforschung umgetan - aber gewiss nicht in zureichender Weise. Wenn das Alter heute als vollkommen inhomogener Raum mit unterschiedlichsten Stadien gesehen wird, hat dies zu tun mit der realistischen Wahrnehmung von ungeheuren Vitalitäts- und Möglichkeitesunterschieden. Hier ist sicherlich auch die von mir geschätzte Analyse Jean Baudrillards differenzierter zu betrachten, und wir müssen alle miteinander die Frage stellen, was Selbstbestimmung im Alter bedeutet und woran sie wohl im Sinne von Prämissen jeweils gekoppelt ist. Also diskutieren wir, was es operativ bedeuten mag, einerseits die Jugend krampfhaft zu verlängern und andererseits in eine Haltung greisenhafter Zufriedenheit abzugleiten. Während wir - zumindest aus meiner Sicht - der ersten Haltung gegenüber ganz sicher über effektive Entblödungsstrategien verfügen, kann eine unaufhaltsame Verblödung (nicht nur im höchsten Alter) den Weg für eine wirksame, selbstbestimmte Strategie der Abwehr unausweichlich verstellen. Im übrigen erlebe ich inzwischen täglich auch, wie entlastend sich eine greisenhafte Zufriedenheit für alle Beteiligte auszuwirken vermag.

Ganz und gar bei Dietmar Kamper bin ich, wenn er immer heftiger reagiert auf das, was er als "gestaltgewordene Angst vor der Angst" bezeichnet:

"Angst vor der Angst schneidet die Wurzeln ab, betoniert die Gründe und tut so, als ob wir uns mit dem, was uns vorausgeht und in dem wir wurzeln, nicht mehr beschäftigen müssten."

Wenn ich meine alltäglichen Begegnungen mit meiner Schwiegermutter zum  Maßstab nehme, dann nimmt das Zitat, das Kamper Ulrich Sonnemann schuldet, ganz unmittelbar Gestalt. Er sagt:

"Zukunft ist von außen wiederkehrende Erinnerung, daher hat die Gedächtnislosigkeit keine" - nämlich keine Zukunft!

Und Kamper vertieft diese These zu der Einsicht: Erinnerung bleibt das, was die Menschen selbst tun müssten. Zukunft könne man nicht verordnen und auch nicht vorschreiben:

"Und Gedächtnislosigkeit wäre das, was einem zwischen Starrsinn und Stumpfsinn vegitierenden älteren Menschen beschert ist, falls er sich nicht radikalisiert."

Hier springt Dietmar Kamper eindeutig zu kurz - oder meinetwegen auch zu weit. Man kann - man muss zuweilen die Dinge auch anders sehen: Vergessen als Gnade ist die eine Variante, Zerfall der vitalen hirnphysiologischen Voraussetzungen die andere!

Sind und bleiben wir bei Sinnen, könnte folgender Sachverhalt vielleicht eine notwendige Perspektie bedeuten:

"Altersradikalität ist die Devise eines Menschen, der zu seiner eigenen Sterblichkeit ein aufgeklärtes Verhältnis hat, der die Zukunft nicht erzwingen will, der nicht die pure Überlebenstechnik seiner Jugend fortsetzt, der nicht der Angst vor der Angst blindlings folgt, sondern der die aus allzuviel Sinnkonstruktionen folgende Sinnlosigkeit auszuhalten versucht."

Zum Aushalten fahre ich jetzt in der Laubenhof.

"Sich der drohenden Sinnlosigkeit stellen, heißt mithin Sinn ausräumen und die Leere, die bleibt, ertragen lernen." So argumentiert Kamper. Das ist doch ein Leichtes, denke ich; 14 Tage sind vergangen, seit ich - wie seither fast jeden Tag - die Schwiegermutter besuche und mehr und mehr bemerke, dass die wirkungsvollste Strategie dem Sinnverlust zu begegnen darin besteht, sich und andere schlicht zu vergessen. Und so stellt ja Kamper dann auch fest:

"Nüchternheit ist hier selten. Insofern wären Banalisierungen angebracht und in den einfachen Verhältnissen Strategien einer Depotenzierung des allzuvielen Sinns in Gang zu setzen."

Mir erscheinen die Strategien Kampers vor allem Abwehrkämpfe zu markieren:

  • die Absage an von außen verordnete Zufriedenheiten;
  • das Gespür für die Grenzen der menschlichen Macht und von daher für die Ohnmacht;
  • die Prüfung des zweckrationalen Handelns wie des handelnden Zweckdenkens auf seine verqueren Folgen hin.

Das alles sollte aus Kampers Sicht zu einem "Erwerb  einer gewissen Kapazität für Unsicherheiten" führen. Ja Nüchternheit ist hier selten anzutreffen - viel eher hoffertige Hybris gepaart mit Allmachtsphantasien, die Grenzen negieren. Kamper stellt nüchterne Überlegungen hinsichtlich der Grenzen des Wissens an. In lupenreiner sokratischer Manier stellt er erneut fest, dass mit der Zunahme des Wissens das Nichtwissen nicht abnimmt, sondern im Gegenteil exponentiell anwächst:

"Wir haben erst den Vorhang beiseite gezogen vor der Kehrseite der durch Wissen begründeten Errungenschaften. Und die Fortschritte des Wissens haben eine Reihe von Fortschritten des Nichtwissens mit sich gezogen, mit denen wir innerhalb der Wissenchaften noch gar nicht umgehen können; um wieviel weniger in einem Leben, das von den Wissenschaften in dieser Hinsicht Sicherheit und Gewissheit erwartet hat."

Kamper stellt fest, dass sich die Versuche häufen, Klarheit über das zu gewinnen, was die Menschen in ihrem Leben bestimmt. Viel wichtiger ist die darauf folgende Vermutung, dass man hierfür nicht nur die Absichten, sondern auch die Rückwirkungen bedenken muss.

Kamper schließt folgerichtig mit einem kleinen Kapitelchen an, in dem er von zwei Todesarten im Posthistoire spricht. Er meint, Seiten und Kehrseiten träten gemeinsam in Erscheinung. Und wir versuchten das dadurch auszuhalten, dass wir uns immer immun machten gegen die "andere Seite".

"Aber das Nicht-Bearbeiten solcher Doppel-Erfahrungen, die unfreiwillig auftreten, führt zu Verdrängungen, und was verdrängt wird kehrt wieder. Das ist die einzige Sicherheit und Gewissheit, die wir haben. Was wir verdrängen, kehrt zurück."

Was wir verdrängen, kehrt zurück.

"Was wir nicht erinnern, müssen wir wiederholen - eine jener schönen Paradoxien, die den Ehrentitel der Radikalität haben dürfen." 

So mag es denn auch ein besonderes Signum des modernen Menschen sein, dass er in seiner Todesverdrängung einer "besonderern Radikalität der Todeserfahrung" begegnet:

"Unter solcher Spaltung wäre Altersradikalität rückbezogen auf das eigene Sterben-Müssen und Leben-Können und auf das Leben-Können und Sterben-Müssen des Anderen."

Kamper bleibt nicht stehen bei dieser individuellen Zumutung, sondern er spannt den Bogen 1998 - ähnlich wie Günter Altner - sehr viel weiter. Er spricht von einer seltsamen Klemme zwischen zwei Toden. Gegen den Tod, der uns bedroht von Anfang der Welt her, seien wir erfolgreich zu Felde gezogen. Aber dieser Krieg sei selbst zur Todesart mutiert und lasse uns zu Vollstreckern einer massiven Zerstörung und Verwüstung des irdischen Lebens werden:

"Alles sieht danach aus, als ob wir entschlossen sind, die Erde mit allem, was schön an ihr war und ist, zu verabschieden und eine dubiose Himmelfahrt zu beginnen, die keine Rückkehr erlaubt. Das ist - scheint mir - die Quintessenz des großen technologischen Projekts, das von einem Menschheitstraum der Todesüberwindung getragen worden ist."

Also:

"Man soll im Abgrund verharren, ohne zu wissen wie?"

Es geht in den abschließenden Ausführungen Kampers um die George Bataille entlehnte Paradoxie, die da lautet: "Ich weiß, dass ich sterblich bin." Und: "Ich weiß, dass ich unsterblich bin." Kamper - noch quicklebendig - meint, es wäre die Aufgabe der Altersradikalität, die Klemme der beiden Todesarten zu lösen, sich nicht länger darauf zu berufen, dass beide Sätze, die einander total entgegengesetzt seien, nicht stimmen könnten. Einmal ganz abgesehen davon, dass sich für mich diese Paradoxie spielend auflöst, dass Kamper, der  t o o o t  ist - immerhin schon seit 2001 die Seiten gewechselt hat, die Aura der Unsterblichkeit umgibt. Viele seiner Gedanken brennen sich in meine Gedankenwelt ein. Ob er das so - oder wie auch immer gemeint hat - ist mir dabei schnuppe. Er ist auf eine sprühend-bedrückende Weise lebendig - vor allem in dem, was nun folgt: Dietmar Kamper greift die Debatte um die Frage auf, "ob wir noch in der Geschichte leben oder schon nach der Geschichte. Es ist nötig und fällig, diese Diskussion um das Posthistoire auf den Lebenslauf anzuwenden."

Kamper nennt "vier wichtige Bestimmungen", die für das einzelne menschliche Leben nicht irrelevant seien:

  • den Bruch der Fortschrittskategorie und die damit gegebene Unzulänglichkeit des Ursprungs;
  • den Vorrang der Differenz vor der Identität, weswegen statt der Einheit die Vielheit das hauptsächliche Organisationsprinzip bilde;
  • die wissende Ungewissheit als Balance zwischen Wissen und Nichtwissen;
  • die Ablösung der Unsterblichkeit als Lebensstrategie mit ihren teilweise forcierten Sinnkonstruktionen durch die Sterblichkeit mit ihren Kontingenzen.

Dietmar Kamper versucht nun diese Bestimmungen auf die Idee der Altersradikalität anzuwenden: So meint er, dass zwar Fortschritt andauere, aber eben als gebrochener; dass der Ursprung der Menschengattung sich im Sagenhaften verliere; vor allem, dass Differenzen Identität hervortreibe und nicht umgekehrt; und vor allem, dass die wissende Ungewissheit den Gipfel des Wissens markiere:

Und eben nicht das Rechhaben und nicht das fanatische Bescheidwissen.

Dass der Lebenslauf aus Wendepunkten bestehe, an denen etwas geschehe, was nicht geschehen müsse, habe ich bei Niklas Luhmann und Odo Marquardt gelernt. Kamper wiederholt diesen Gedanken durchaus im Luhmannschen Sinne, wenn er mit Zygmunt Bauman davon ausgeht, dass die Unsterblichkeit als Lebensstrategie, die in jeder Hinsicht und überall den Tod zu überwinden suche, eine historische Konstruktion sei: "Das Suchen danach, unsterblich zu sein, hat das Bedürfnis überlagert, aufhören zu können." Lapidar stellt Kamper fest, dass an dieser Unsterblichkeit all Sinnkonstruktion hänge und an der Sterblichkeit die Kontingenz, also all das, was mit Zufall zu tun habe:

"Es ist noch nicht ausprobiert, wieviel Zufall wir aushalten."

Nun bin ich selbst inzwischen so alt, wie Dietmar Kamper als er 2001 gestorben ist. Knapp sieben Jahre zuvor - im November 1994 - stellt Kamper als noch nicht 60jähriger fest: "Die Zeit des Alters, das hat uns Goethe vorgemacht, ist die Zeit der Reflexionen und Maximen." Kamper reklamiert für sich zwei Maximen. Er erläutert, dass er sie seinen Großeltern verdanke - der Mutter seiner Mutter und dem Vater seines Vaters. Diese Voreltern - so Kamper weiter - hätten diese Maximen gewiss nicht aus sich selbst gehabt und keineswegs erfunden. Aber das sei für ihn gewiss belanglos:

"Meine Großmutter sagte: 'Zu tief im Leben ist zu nah am Tod'. Und mei Großvater sagte: 'Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um'."

Je für sich genommen seien diese Sätze schon aufregend und spannend genug, aber in der Kombination werde es abenteuerlich. Großmutters Maxime beinhaltet für Kamper eine Art Warnung: man solle die Intensitäten des Lebens meiden, dann komme man nicht dauernd mit dem Tod in Berührung. Aber zweifellos könne man sie auch umgekehrt lesen: je näher man am Tod sei, desto intensiver könne man leben.

Die erste Schlussfolgerung Kampers mag ich - kann ich - nicht teilen: Er meint, wenn man sich im Leben einrichten und auf Dauer stellen wolle, sei es besser, sich nicht dauernd in Intensitäten zu stürzen: "Wer aber intensiv lebt, bringt es nicht zu Wohnungen und Immobilien."

Mensch Kamper, Du alter Sesselfurzer,  Du hast ja keine Ahnung und keinen Dunst. Wir sanieren seit 1 1/2 Jahren das Elternhaus meiner Frau. Das hat bereits unserens Architeken - gewiss im Verein mit anderen koletalen Einflüssen - das Leben gekostet. Und ich bin nicht sicher, ob ich den Einzug in dieses Haus noch selbst erleben werde. Die Büchse der Pandora ist überall!

Aber das Leben an der Kante, den Tod vor Augen - so zitiert Dietmar Kamper Elias Canetti - zeuge ja auch davon, dass sich eine ganz elementare Frage daraus ergebe, wenn man jedes Risiko vermeiden und den Lebensabend auf der Couch verbringen mag:

"Wird es noch der Mühe wert sein, zu leben, sobald man nicht mehr stirbt?"

Nach Kamper gehört es zentral zur Altersradikalität, "dass man weiß, wie es um einen steht. Altersradikalität nährt sich aus der Insistenz eines wissend-nichtwissenden Sterben-Müssens und arbeitet so mit am Abbau der zerstörerischsten Energie, die jemals in den Fundamenten einer Kultur verbaut wurde: an der ausgeschlossenen Angst."

Weil die Gedanken Kampers so dicht und so bedrängend sind, will ich die letzte Passage hier im O-Ton wiedergeben:

"Die Menschen müssen heute mit dem gelüfteten Geheimnis ihrer Geschichte leben. Demzufolge niemals das gefunden wird, was gesucht wurde, demzufolge niemals das erreicht werden kann, was Ziel aller Anstrengungen ist, demzufolge niemals eine Vollendung dort gelingt, wo sie angestrebt wird, demzufolge niemals das Entscheidende intentional und instrumental zustandekommt, sondern auf indirekte, unwahrscheinliche Weise. Es ist die Stunde des offensichtlichen Scheiterns der instrumentellen Vernunft auf allen Gebieten ihrer Wirksamkeit. Das hinterlassene Schlachtfeld des weitzielenden Versuchs, die Welt eindeutig zu machen, ist übersät mit Paradoxien. Wer sich der naheliegenden Alternative: entweder der Verleugnung oder der Resignation, entwinden kann, steht vor der Frage, ob man mit diesen Einsichten, die bisher immer zu spät kamen, etwas anfangen kann. Unter den Umständen, die für ein nochmaliges Beginnen hilfreich sind, wären vielleicht folgende namhaft zu machen. Erst jenseits beider beginnt der Weg. Man muss leidenschaftlich nicht handeln können, um sowohl der Lähmung der Opfer als auch der Verblendung der Täter zu entgehen. Die in der vergangenen Geschichte eminent wirksame Alternative ist derzeit eine Klemme jeglichen Handelns und jeglichen Denkens. Man muss das Reich der toten Zeichen, das Reich des Sinns durch eine Insistenz der Sinne ausräumen und zur anderen Seite der Zeit hinüberwechseln, immer auf des Messers Schneide. Man muss Geduld aufbringen zu warten, bis die Sieger der Geschichte erschlafft sind und sich selbst dem sicheren Untergang weihen. Umsturz bzw. Rettung sind heute unnütze Strategien. Man muss sich der Nichtexistenz stellen, um die produktive Verwandschaft des Todes zu erfahren, die Verwandtschaft von Katastrophen, die am Ende kommen und von Gesetzen, die am Anfang waren. Man muss an den Orten gewesenen Feuers, wenn alles gelöscht ist, auch selbst noch verschwinden. Das Leben dauert nur in der Weise der Abwesenheit eines identischen Selbst. Der Zwang, ohne ein solches Geheimnis der Geschichte leben zu müssen, lässt die Menschen auf die Kehrseite des Daseins geraten. Dagegen wehren sie sich unentwegt. Aber Wegsein, das gewissermaßen das Gegenteil, die Kehrseite des Daseins darstellt, ist keineswegs nichts. Statt der Existenz zählt dann die Insistenz. Gegenwart muss nicht behauptet werden, sondern wird geschenkt. Das ist das anfangende Geheimnis der Zeit, das allen jugendlichen Selbstbegründungsversuchen als Abgrund erscheinen muss. Für die Wahrnehmung des Alters ist es nur eine Nuance."

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund