Der Tod das Gebirg des Seyn im Gedicht der Welt
Hallo Rudi,
eine Woche vergeht wie im Flug. Ich habe mich soeben - aus dem Laubenhof kommend - Deiner Mail erinnert. Es ist irgendwie befremdlich die Grußkarte aus Juist neben der Todesanzeige für Deinen ehemaligen Kollegen zu sehen; vermutlich, weil mir dieser Kollege immer merkwürdig fremd geblieben ist. Aber Deine Mail ist mir heute ein Anlass, Deine Gedanken aufzugreifen. In Zeiten der Sprachverarmung und -verkümmerung mahnen mich Heideggers sprachschöpferische Anstrengungen - und inzwischen der für mich fremde Blick Jean Baudrillards, der mich ins Vertrauen zieht.
Ich bin auf der Suche und vielleicht hilft mir die Vorstellung, dass "der Tod das Gebirg des Seyn im Gedicht der Welt" sein könnte. Du weißt, dass ich schon früh - ohne einen Zugang zur Sprache Heideggers auch je gefunden zu haben - seinen Gedanken verfolge, dass unsere Urangst sich verdichtet in der Möglichkeit des eigenen Nicht-Seins. Diese Angst gibt uns eine Ahnung von der radikalen Erfahrung, in der uns - Heidegger würde sagen - das Seiende im Ganzen entgleitet. Ahnungvoll begegnen wir unserem eigenen Tod. Der Gedanke nun, dass der Tod dem Dasein nicht von außen her begegnet, sondern ihm zugehört, hilft mir gegenwärtig - wie eigentlich immer schon - nicht weiter. Er erklärt mir allenfalls meine Hilflosigkeit - mangels Abstand/gediegener Außenperspektive - etwas nicht sehen und erkennen zu können, dass sich meiner Erfahrung und meiner Anschauung entzieht. Wie schon 2003 - am 27.7. waren es genau 15 Jahre -, als ich hoffte über die intensivste Sterbebegleitung (der eigenen Mutter) auch etwas über den Tod zu erfahren, stehe ich eher hilflos, aber ungemein standhaft vor und in der Situation mitansehen zu müssen und begleiten zu dürfen, wie sich meine Schwiegermutter mehr und mehr verliert. Ich versuche die Krumen zu bergen, die aus der Fülle eines Lebens übrig bleiben, das zunehmend seinen "Sinn" verliert, weil es rückwärts- und vorwärtsgewandt alles verfehlt, wofür es mit Ursache war und worauf hin es unverzichtbare Planke war - etwas, ohne das nichts von dem, was gegenwärtig unser aller Dasein ausmacht, so wäre, wie es ist bzw. wie wir es erleben: "Der Tod das Gebirg des Seyn im Gedicht der Welt":
Die vergessenen Träume
Die vergessenen Träume, sind das noch Träume? - Träume, die sich der Erinnrung entziehen, Träume, die immer schon fliehen in abgedunkelte Räume mit verschlossenen Türen. Was immer ich tue, was immer ich säume - niemand und nichts kann mich führen. Die Schlüssel verloren, jeden Tag neu geboren blicke ich stumm in blind gewordene Spiegel. Doch liegen so viele Schlüssel vor meinen Augen. Aber sie passen den Schlössern nicht und mögen nichts taugen. Droben im Himmel ist alles blau und hell. Dieser Ort lockt mich sehr und ist meiner Hoffnung Quell.
Dieses "Gedicht" habe ich im Angesicht meiner Schwiegermutter kurz vor unserem Urlaub gedichtet - angesichts ihres Verschwindens aus dieser Welt; noch nicht physisch, aber mehr und mehr als Teil des Lebensnetzes, an dem sie mitgesponnen hat. Die Welt verdichtet sich im Wachsein gegenüber den Grenzsituationen, in denen wir stehen. Die letzten Beiträge im Blog (Andreas Mühe etc.) beziehen sich mehr und mehr auf den Versuch zu bergen, was der Flut und der Erosion anheimfällt. Inzwischen glaube ich, dass ich damit einem Sehnsuchtsmotiv folge, dass Andreas Weber so versucht hat zu definieren:
Das Wesen der Schöpfung - meint er - liege in der "Sehnsucht zu sein, die sich als Sehnsucht F o r m gibt - nicht als Souveränität und substanzielle Selbstherrschaft." Darum meint er, sei das Leben so leicht zu zerstören. Es trage halt den Tod, dem man nur die Tür zu öffnen brauche, bereits in sich. So könne man das Leben begreifen als ein feines Gewebe aus Begehren nach vollkommen zweckloser, unbestätigter Einzigartigkeit: "Weil aber diese Sehnsucht jeden Schritt leitet, mit dem der Stoff sich verwandelt, mit dem sich die Atome bewegen, ist sie das unzerstörbare Grundmuster, aus dem alle Form quillt."
Nun ja, machen wir uns also keine Sorgen. Auch wenn wir unsere Erde schon Anfang August ressourcenmäßig aufgebraucht haben und der Kollaps unserer Lebensweise programmiert ist, der Wille und der unzerstörbare Drang zur Form, wird andere Lebensformen hervorbringen. Bis dahin werde ich - wie ein Kind - mit den mir gegebenen Förmchen spielen und einiges von dem bewahren, was mit unseren Vorfahren und uns untergeht.
Ich danke Dir für Deine Anregungen - Du bist und bleibst einer der wenigen, die über die Sprachverarmung von WhatsApp, Twitter und Facebook hinaus immer wieder das Gespräch suchen und anregen.
Mit diesem Dank an Dich ist das Vorwort begründet, dass die alltäglichen Begegnungen mit meiner Schwiegermutter in einer erinnerungsfähigen und nachvollziehbaren Form einleiten wird.
Liebe Grüße
Jupp
29. August 2018
Wer hätte denn gedacht, dass ich mir selbst in meinem Tun fragwürdig werden könnte. In meinen Händen halte ich einen Haufen Papier, beschriebene Blätter; der gemeinsame Erinnerungsschatz, den Lisa - meine Schwiegermutter und ich zusammengetragen haben. Nun rutsche ich gemeinsam mit ihr in jene Nische ohne Wiederkehr, die ich doch gerade zudecken bzw. wieder begehbar machen wollte. Unser heutiges Gespräch verlief in etwa so:
Ich: Nun, liebe Lisa, hast Du in der letzten Nacht etwas (Schönes) geträumt?
Lisa: Ja (ich horche auf, eine Frage, die sie sonst immer konsequent verneint) ich habe von euch geträumt!
Ich: Von wem?
Lisa: Von Euch im Allgemeinen.
Ich: Hast Du auch von Leo geträumt (mit Leo war Lisa verheiratet)?
Lisa: Wer ist das?
Ich: Dein Mann, mit dem warst Du 58 Jahre verheiratet.
Lisa: Ach was, das gibt es doch nicht. Dann haben wir uns aber gut verstanden!
Ich: Wenn ich tatsächlich so alt werden sollte, wie Du, dann möchte ich auch alles vergessen. Dann ist das Leben leichter!
Lisa: Ja, das Leben ist leichter!
Mein Dank an Lisa, meine Schwiegermutter - oder von der unerträglichen Leichtigkeit des Seins:
9. Juli 2018
"Seit gut einem Jahr lebt Lisa nun in einer 'Seniorenresidenz' - etwa seit 400 Tagen. Mindestens 4/5 davon habe ich sie besucht: 400:5=80! 80x4=320! Etwa 320 Tage; jeder Tag nimmt ca. 1 1/2 Stunden in Anspruch; also sind das bis heute ungefähr 480 Stunden. 480 Stunden dividiert durch 24 - so viel Stunden hat ein ganzer Tag - macht etwa 20 Tage. Rechnet man den Tag als 'Arbeitstag' mit je 8 Stunden, dann sind es 60 'Arbeitstage', oder in Wochen ausgedrückt 12 'Arbeitswochen'.
12 Wochen habe ich also 2017/18 bis zum Juli im Laubenhof verbracht. Rechnet man halbe 'Arbeitstage' sind es 24 Wochen; und rechnet man den Tag mit 2 Stunden, komme ich auf 48 Wochen, bleiben 4 Wochen 'Urlaub'.
Zahlenspielereien. Die Absicht dahinter nenne ich Begleitung, Fürsorge und Zuwendung im Alter, in den Tod? Letzteres ist natürlich Quatsch angesichts des mir doch so vertrauten: mors certa- hora incerta!!!
Menschen tun immer nur, was sie tun! Warum sie tun, was sie tun, das ist eine schier unmöglich zu beantwortende Frage. Rationelle und ökonomische Vorstellungen vom Menschen gehen davon aus, dass Menschen etwas Bestimmtes tun, wenn sie einen Vorteil davon haben.
Eher altruistische Vorstellungen unterstellen das Gute (als Motiv und Antrieb) als Beweggrund. An das schlichtweg Gute im Menschen mag ich nicht mehr glauben. Was 'gut' scheint, resultiert häufig aus dem Bedürfnis einen Ausgleich zu schaffen für etwas, was man bekommen/genommen hat oder für etwas, was ihnen genommen/vorenthalten worden ist. Dabei ist es relativ gleich, ob es sich dabei um Materielles oder Ideeelles handelt.
Eines kann ich nüchtern feststellen: Mir ist viel gegeben worden. Andererseits kann/muss ich sagen: Ich habe mir auch viel genommen. Also habe ich allen Grund dankbar zu sein. Ich kann heute sagen, dass jedes nachhaltige Missverhältnis von Geben und Nehmen in (fast) allen Beziehungen zu kaum händelbaren Belastungen und Konflikten führt; es sei denn die Beteiligten finden Formen des Ausgleichs. Über Heilige will ich hier nicht sprechen."