Und danach? Ein Vorabdruck des endgültigen Schluss-Kapitels von Kurz vor Schluss
Einer meiner letzten Beiträge bezieht sich auf mein aktuelles Buchprojekt Kurz vor Schluss. Den Rahmen - die Einleitungskapitel und das Schlusskapitel - gibt es dort sozusagen breits als Vorabdruck zu lesen. Da ich es nicht mehr gewohnt bin, mich der strengen Disziplin eines ordentlich redigierten Publikationsvorhabens zu unterziehen, mäandert das Buch seit geraumer Zeit schon vor sich hin. Ich habe ja exakt 100 Beiträge aus meinem seit 2014 gepflegten Blog ausgewählt, und sie unter vier Hauptkapiteln geordnet. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich mit diesem Titel Kurz vor Schluss zu unbefangen und zu kokett umgehe. So stellt sich nach Abschluss der Textkorpus mehr und mehr die Frage: Und danach?
Wonach? Ich räume an der Stelle ein, dass die gesamte Nomenklatur des Buches sich um den Ernstfall herummogelt: Kurz vor Schluss und Ganz zum Schluss markieren auf der Zeitachse vordergründig betrachtet nichts anderes als die Zeiteinheit vor meiner Versetzung in den Ruhestand. Die erscheint gewohnheits- und routinemäßig in der Gestalt des Semesters; des Sommersemesters 2017, das am 1. April begonnen hat und am 30. September des laufenden Jahres endet. In diesem letzten Semester meiner aktiven Dienstzeit werde ich alles zum letzten Mal getan haben; von der Seminarplanung und -durchführung bis hin zur Begutachtung von Bachelor- und Masterarbeiten, von den regelmäßigen Sprechstunden bis hin zur Abnahme von Prüfungen. Ich werde mich von der Uni verabschieden und dort eine Lücke hinterlassen – oder positiv gewendet: eine Stelle freimachen. Ich selbst werde in die Freiheit entlassen. Naturgemäß weiß ich also nicht wirklich – eingedenk des mors certa-hora incerta – wann es für mich Kurz vor Schluss ist und wann Ganz Schluss ist!
Ganz und gar unstrittig gelangt mit dem Berufsausstieg etwas an sein Ende. Man könnte sich nun einen Blick auf sich selbst erlauben. Die Versetzung in den Ruhestand eröffnet die Chance des Innhaltens. Innehalten ermöglicht eine Bestandsaufnahme. Darauf weist Arnold Retzer gegen Ende seines Buches Miese Stimmung – Eine Streitschrift gegen positives Denken hin (Frankfurt 2012, S. 290f.):
„Die eigene Biographie kann in den Blick genommen werden. Man ist jetzt nicht genötigt, die Biographie fortzuschreiben, sondern kann sie sich ansehen. Es lassen sich beim Innehalten Fragen stellen nach der Fortsetzung oder der Korrektur der Biographie und nach einer Neujustierung von Zielen und Werten. Die nicht mehr brauchbaren Werte können einer Prüfung unterzogen werden. Die Präferenzliste der Werte kann umgestaltet werden. Die Chance … besteht darin, Distanz zu sich selbst zu gewinnen und dadurch sich selbst wieder in den Blick zu bekommen.“ (S. 290).
Eingedenk aller Inskonsistenzbereinigungsprogramme und aller Nebelkerzen ist mein aktuelles Buch Kurz vor Schluss natürlich auch dem Versuch geschuldet, „sich selbst wieder in den Blick zu bekommen“. Dem aufmerksamen Leser wird allerdings nicht entgangen sein, dass es im letzten Absatz – innerhalb des Zitats – eine kleine Auslassung gibt. Die Auslassung besteht aus zwei Worten, einem Artikel und einem Nomen: „der“ und „Depression“. Arnold Retzer begründet, warum die Depression „nicht nur leidvoll (ist), sondern auch Chance für ein besseres Leben“ bedeuten kann.
Schon die ersten Sätze zur Einleitung meines Buches zünden eine hochkalibrige Nebelkerze, wenn ich feststelle, mich zunehmend als einen sentimentalen Menschen mit einer ausgeprägten Neigung zur Melancholie zu erleben – und dann ergänze: „wohlgemerkt weniger mit depressiven Anwandlungen einhergehend als mit der tätigen Haltung eines dankbaren Zeitgenossen“; dem eine Neigung zur Depression aber offensichtlich nicht fremd ist.
Aber vielleicht ist es mir ja mehr oder weniger gelungen, die Retzerschen Empfehlungen und Anregungen dabei zu beachten bzw. zu bedenken? Nämlich:
- Dass das Festhalten an der Überzeugung, man wüsste schon, wer man wirklich ist, abträglich sein könne. In den meisten Fällen führe dies dazu, gerade jene bekannten Soll-Werte vor sich selbst zu bekräftigen, die zum eigenen Unglück entscheidend beigetragen hätten.
- Andererseits gebe dieses Unglück den Blick auf die Frage frei: „Wer bin ich nicht?“ Depressive Erfahrungen forderten geradezu heraus, diese lebenswichtige Frage zu stellen. Eine Konsequenz könnte damit verbunden sein, endlich „von den so ermüdenden Anstrengungen abzulassen, der zu sein, der man nicht ist“.
Ein solcher Weg – meint Arnold Retzer – eröffne Chancen für ein gutes Leben: „Und das hätten wir alle gern.“ Retzer führt die Begriffe Lebenskunst bzw. Lebenskünstler ein und warnt zugleich vor einem naiven Verständnis verbunden mit der Gefahr der Selbstüberschätzung. Vermittelten sie doch den Eindruck, als sei unser Leben ein Kunstwerk, das von Künstlern – nämlich uns – geschaffen werde. Der Vorstellung, dass wir unser Leben selbst bestimmen, erliege man allzu gerne:
„Unsere Biographien erscheinen dann als eine bewusste Verknüpfung von autonomen Entscheidungen, die uns ein selbstbestimmtes Leben haben führen lassen. Aber ist dies bei genauerem Hinschauen nicht doch nur eine erhebliche Verblendung? Blenden wir dabei nicht das aus, was oftmals die entscheidenden Wendepunkte unserer Biographie waren – Dinge, die uns widerfahren sind, Entwicklungen, die eher durch andere als durch uns selbst angestoßen, beeinflusst und gesteuert wurden? Die Vorstellung, dass nur wir selbst unserem gesamten Leben Form geben, ist nicht nur eine Illusion, sie führt auch auf eine Weise in die Irre, die für uns selbst destruktiv sein kann (S. 291).“
Erst im Nachgang zu dem zentralen Wendepunkt in meinem Leben – verbunden mit dem längsten Tag, dem 21. Juni 1994 – habe ich als Wanderer die ersten Schritte im Luhmann-Land unternommen und in den letzten 20 Jahren meine Traumpfade erwandert. Es mag eine Ironie des Schicksals sein, dass mir dabei der letzte zu Lebzeiten Niklas Luhmanns veröffentlichte Aufsatz Erziehung als Formung des Lebenslaufs (Frankfurt 1997, S. 11-29) die Möglichkeit bot, diesem Wendepunkt zunehmend mit einer Haltung zu begegnen, in der auch die Retzerschen Empfehlungen aufgehoben sind. Es mag sogar sein, dass mir die Depression als Alternative immer vor Augen stand, dass ich mich ihrem Sog allerdings nachhaltig entziehen konnte:
„Die Komponenten eines Lebenslaufs bestehen aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen“ (Niklas Luhmann, in: Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem – Lebenslauf und Humanontogenese als Medium und Form, herausgegeben von Dieter Lenzen und Niklas Luhmann, Frankfurt 1997, S. 19).
Sowohl im privaten Raum als auch im Kontext meiner beruflichen Tätigkeit identifizieren mich Freunde, Bekannte, Kollegen und Studierende häufig mit dieser Einsicht. Inzwischen vertrete ich sie mit Entschiedenheit – so wie auch in diesem Buch – zum Beispiel in Anerkennung der gelassenen und humorvollen Betrachtungsweise eines Odo Marquardt. Die Hybris des naiven Lebenskünstlers war gestern, während ich schon lange seiner Einsicht folge, dass wir alle weit mehr unsere Zufälle als unsere Wahl sind. Gleichwohl beharre ich auf der Illusion, dass ich dort wo ich vermeintlich die Wahl hatte – so oft ich auch daneben lag – im Großen und Ganzen die richtige Wahl getroffen habe bzw. dass ich gnadenvoll erwählt worden bin.
In einem zuweilen unbequemen Leben habe ich mich bequemt, auf die Frage: Und danach? mit einem gelassenen Achselzucken zu reagieren. In diesem Buch habe ich so Vieles versammelt, was davon zeugt, dass ich mich in Situationen der Bedrängnis – auch der fortgesetzten und nachhaltigen Bedrängnis – schreibend am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen habe; am eindringlichsten sicherlich mit dem Sterbetagebuch meiner Mutter.
- Was weiterhin und nachhaltig brennt, sind nach wie vor die biografischen Leerstellen, die wie eine Horizontverschiebung ad infinitum wirken. Ein Ende ist nicht abzusehen, und als Antreiber halten sie mich wach, solange ich geistig rege sein werde.
- Gleichermaßen aufgeklärt und abgeklärt lassen sich die Ergebnisse einer lebenslangen politischen Sozialisation heute einordnen. Mehrfach habe ich betont, dass der unvermeidbare Dissens mit meinen akademischen Lehrern – in Sonderheit mit Alfred Bellebaum – längst der Einsicht in den unschätzbaren Wert eines demokratisch verfassten Rechtsstaats gewichen ist. Wolf Biermanns Warte nicht auf bessre Zeiten hat diese Einsicht noch einmal ungemein bestätigt und vertieft. So steht man 45 Jahre nach den Ereignissen beispielsweise immer noch fassungslos vor der frühen Verirrung eines Ulrich Schmücker (siehe dazu die Dokumentation von Ute Brönnen und Gerald Endres). Seine Verblendung endete mit einem Fememord und seinem frühen Tod, dessen Hintergründe Stefan Aust beleuchtet – soweit es eine undurchsichtige und manipulierte Aktenlage zuließ (siehe die Aussagen von Stefan Aust in der Doku von Brönnen/Endres). Bei Ulrich Schmücker lernten einige von uns ihre ersten Gitarrenriffs.
- Milder hingegen erscheint inzwischen alles, was mit Liebe, Sex und solchen Sachen einhergeht. Amüsiert betrachte ich mit Karl Otto Hondrich den überschaubaren desaströsen Horizont einer sexuellen Biographie (unter diesem Link die 2. Impression), die in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ihre Wurzeln hat. Dass ausgerechnet jener Karl Otto Hondrich, der mich in den 70er Jahren als methodenversessener Soziologe langweilte, in Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft(Frankfurt 2004) auf ungewohnt persönliche Weise mit den Schlüsselbegriffen Bindung, Geborgenheit und Entschiedenheit den Horizont einer reifen und erfüllten Beziehungsgestaltung skizziert, passt zu meiner eigenen Entwicklungsdynamik, die dann mit Arnold Retzers Lob der Vernunftehe eine weitere gediegene und nachhaltige Bestätigung erfahren hat.
Was darüber hinaus bleibt und danach kommt? Hoffentlich mit Fulbert Steffensky (Stuttgart 2007) der Mut zur Endlichkeit, um dem Sterben in einer Gesellschaft der Sieger standhalten zu können bzw. sich ihm ergeben zu können. Der zentrale Wendepunkt in meinem Leben – der Tod meines Bruders am 21. Juni 1994 – hat meine Krise in der Lebensmitte mit ausgelöst und befeuert. Das jahrelange Driften in einer Zone der Wut und des Haderns ist lange schon einer Demut gewichen, die einer tief empfundenen Dankbarkeit den Weg ebnet; eine Dankbarkeit, die um die eigene Endlichkeit und Begrenztheit weiß. Der Mensch ist, weil er sich verdankt, sagt Fulbert Steffensky. Der Kreis schließt sich an dieser Stelle, und ich weiß warum das Buch mit einem Wort des tiefempfundenen Danks beginnt. Diese Haltung der Dankbarkeit zieht sich durch dieses Buch wie ein roter Faden. Und da diese Dankbarkeit immer wieder auch konkrete Gestalt annehmen soll, ermuntere ich Euch alle hiermit dieses Buch zu kaufen. Denn der Erlös aus diesem Verkauf kommt HELFT UNS LEBEN e.V. zu Gute, einer Initiative der Rhein-Zeitung für Kinder und Familien in Not!
Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit