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Mütter haben nicht nur Söhne - Muttertags-phantasien II

Am 5. Juni 1942 erblickte meine Schwester Ursula in Flammersfeld im Westerwald das Licht der Welt - nach einer Paradeschwangerschaft ohne Komplikationen und einer für Erstgebärende verhältnismäßig glatten und „sanften“ Geburt. Es war Hildes erster Muttertag. In das Schicksal von Ursulas Vater wird erst 60 später Licht kommen. Franz Streit fällt bereits am am 23. September 1943 in der Nähe von Saporoshje (Ukraine), nachdem die Mutter - Hilde - jeglichen Kontakt abgebrochen hatte.

In "Hildes Geschichte" erzähle ich diese Geschichte und die Umstände dieser frühen Niederkunft einer damals noch 17jährigen jungen Frau in einem Heim der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Beide - Hilde und ihre Tochter Ursula - hatten einen denkbar schweren Weg vor sich. Hilde selbst, die ja unversehens vom Zustand einer jungfräulichen Unschuld in die prekäre Situation eines gefallenen Mädchens geraten war, hatte den dornigen Weg der Schwangerschaft und der Austragung eines Bastards auf sich genommen und befand sich zur Geburtsvorbereitung in der fürsorglichen Obhut der Hebammen und Ärzte des NSV-Entbindungsheims in Flammersfeld. Um auch nur halbwegs verständlich zu machen, warum dieser starting point eines Lebenslaufs von der Zeugung über die Geburt hinein in eine Welt, in der die Nazis noch den Weltenlauf bestimmten und die jetzt schon aus Not und Tod bestand und die in eine schier ausweglose Verzweiflung einmünden würde, habe ich einen verrückten Philosophen bemüht, der gut 40 Jahre später (im Zauberbaum, Frankfurt 1987) den Geburtsvorgang in einer Weise beschreibt, die ein Leben zum Tode hin - wie Kierkegaard es sieht - schon in seinem Beginnen als ein tiefgreifendes Trauma erscheinen lässt.

Bei Peter Sloterdijk rätselt man zunächst darüber, ob das von ihm beschriebene Schlachtengetümmel etwas sichtbar macht, was uns allen so sehr vertraut sein müsste, von dem sich aber nur die Gebärenden selbst einen erfahrungsgeschwängerten wenn auch begrenzten Begriff machen.

Wie mag man sich dann die Umstände und die Wahrnehmung eines Geburtsvorgangs vorstellen? Unterstellen wir einmal wohlwollend, dass Hilde Franz ein Kind, das erste Kind schenken wollte und dass sie deshalb auch den Gedanken an eine vollkommen offene und ungewisse Zukunft verdrängen, gar nicht erst zulassen konnte!

Und Ursula – jene Ursula, die bis in ihr eigenes Alter (über den 60sten Geburtstag hinaus) von den schlimmsten und erbärmlichsten Albträumen geplagt werden sollte – diese Ursula teilte früh schon Jan van Leydens Traum(a) – vielleicht schon mit einer deutlich ausgeprägteren Sensibilität als viele andere. Könnte es sein, dass die Umstände der Geburt und alles, was daraus folgte sich tief eingeschrieben haben in die Seelen von Mutter und Tochter?

So könnte die kleine Ursula in den späten Nachmittagsstunden des 5. Juni 1942 wohl

jenes Knurren vernommen haben, das auf einmal den Raum, den Saal der kreisenden Frauen, erfüllte; das Knurren, das aus ihrem eigenen Munde wollte, die langgezogenen Schreie, die sich um ihren Körper wickelten, der steif und verschnürt war von den scharfen Fäden, die aus ihrem Mund quollen und die Zeit zu einem endlosen Schlauch dehnten, wo das Warten zu einem Knebel in der Kehle anschwoll, so dass die Zeit weiter und weiter wuchs zu einer Folter, die nicht mehr zu enden schien. Aus dem Inneren des Schmerzes quoll ein unendliches Jetzt hervor, vor dem auszuweichen fortan den Sinn des Lebens bedeuten würde.

Der Schmerz, der zum ersten Mal Gestalt annahm, erschien als ein Getöse, dessen Widerhall sich unerträglich ausdehnte. In diesem Klang – so spürte sie – war das Nichts zu Hause, ein ausdehnungsloser Punkt, in den man mühelos die ganze Welt hineingießen konnte. Jetzt spürte sie das pochende Blut wie im Würgegriff um den kleinen Schädel, wie ein tödlicher Druck, der in das rötlich flimmernde Weltall des Kopfes eindrang. Wie eine Säure fraß sich nun die Verzweiflung durch jede Faser. Angst breitete sich aus und umfasste das Leben, das sich zum ersten Mal und unwiderruflich als verlorenes und begrenztes zu fühlen beginnt. Wohin sich wenden in dieser ausweglosen, blutigen Dunkelheit? Der Druck nahm zu. Sie stemmte sich verzweifelt gegen die einsetzende Strömung und wurde dennoch in den dunklen Schlauch gedrückt, weiter in einen gurgelnden Stollen, bis die Flut zu einem reißenden Sog anschwoll. Jetzt wurden die Wände des unterirdischen Kanals weicher, schwankten wie Gummiwände, die unter dem Druck des anschwellenden Flusses nachgaben. Im Auf- und Abschwellen der schleimigen Massen, in den sauren Brühen des Schlauches hatte sie plötzlich das Gefühl zu ersticken. Und die Flut hämmerte im Kopf, ein dumpfes Schreien und Stöhnen drang von weither in ihre Ohren. Jetzt begann die reißende Flut an ihrem Leib zu zerren, und die wellenförmig sich zusammenziehenden schlauchartigen Wände drängten sie abwärts in einen Schlot, an dessen Ende ein gleißender Schlitz klaffte.

Dort konnte nur das Grauen warten; ein unerträgliches, eiskaltes Grauen. Eine purpurne Flutwelle nach der anderen rollte nun heran, denen sie nicht viel länger würde standhalten könne. Sie presste sich mit aller Kraft gegen den sich öffnenden Schlot, an dessen Ende das Licht seine Messer schliff. Eine Monsterwelle erfasste schließlich ihren Leib, wie in Zeitlupe und unendlich langsam; gefolgt von weiteren Wellen, die sie weitertrieben, bis schon etwas von ihr ins Freie mit seiner grausamen Helligkeit gedrängt wurde. Sie hatte verloren und gleichzeitig das Leben gewonnen.

Die Augen brannten und ein Kälteschock lähmte fast die einsetzende Atmung. Wie eine Sterbende rang sie nach Luft, geblendet, zitternd und Hilfe suchend öffnete sich der Mund zu einem Schrei, der aus ihr ins Freie brach; ein Schrei, wie jubelnde Verzweiflung, der die Verzweiflung Hildes heilte und der erschöpften, jungen Mutter jene Kräfte zuführte, die alle Katastrophen mit einem Mal zudeckten und die Welt als einen hellen, warmen Ort erscheinen ließen.

Ursula war ein Sommerkind, 70 Jahre über, in einem langen Leben, reich an Wendepunkten, an denen Vieles geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen, blieb ihr sonniges Gemüt vielleicht ihr zentrales, ihr besonderstes Persönlichkeitsmerkmal, ebenso wenig zu begreifen von den Umständen ihrer Ausstoßung ins Leben wie von den einschränkenden Aspekten einer belasteten Kindheit und Jugend her.

So war die kleine Ursula selbst vermutlich der Sonnen-, Wärme- und Energiespender, der Verantwortung, Pflichtgefühl und Fürsorge ebenso mobilisierte wie in der Herkunftsfamilie die Kraft der Versöhnung – vielleicht, nein ganz sicher auch die aufbrechende und nie mehr versiegende Quelle der Liebe, mit der die Großeltern Mutter und Kind wieder eine Heimstatt gaben. Aber diese Quelle der Liebe war lange belastet durch das stoische Schweigen der Mutter, die sich ihrer Tochter versagte. Erst spät - Jahre nach Kriegsende öffnete sich Hilde dem beharrlichen Werben Theos, dem Werben des Nachbarsjungen und Weggefährten aus Kindertagen. Er sollte der Vater ihrer Söhne werden. Die Vergangenheit musste damit ein für allemal begraben sein; in Sprachlosigkeit versinken. Aber diese Vergangenheit blieb doch lebendig, Tag für Tag verkörpert in der kleinen Ursula, die hinein wuchs in ihre Kindheit, ihre Jugend, in frühe Mutterschaft, in all die Fragen und in ein an Wendepunkten reiches Leben. Sie wurde dem (Stief-)Vater eine gute Tochter, so wie er ihr ein guter (Stief-)Vater wurde. Ein Leben lang verkörpert(e) sie in ihrer Familie die lebendige Spannung zwischen tief empfundener Zugehörigkeit und der ungestillten Sehnsucht, Licht in die Umstände der eigenen Herkunft zu bringen.

Das größte Wunder in der Familie Ursulas war und ist ihr Zusammenhalt. Obwohl wir in der dritten und nun auch schon vierten Generation eine Ahnung davon haben, wie Bindungskräfte in der Zentrifuge aus dem Ruder laufen. Mich, einen von vier Brüdern meiner Schwester, hat Hildes und Ursulas Geschichte ein Leben lang beherrscht, und das Bemühen um Licht im Dunkel treibt mich - wie meine Schwester, und doch so ganz anders, seit Jahrzehnten um. Unvermutet hat dieses Dunkel die Geschwisterbindung gestärkt. Nicht allein der Tod unseres gemeinsamen Bruders, Wilfried - schon 1994 -, lässt uns die Kostbarkeit dieser Bindung in der Erzählung legendärer gemeinsamer Eskapaden und Geschichten bewahren. Vielmehr erstaunt mich der Zusammenhalt zweier Prinzen und eines Aschenputtels - auch gegen die Mutter; einer Mutter, wie sie überhöhter und idealisierter in der Wahrnehmung von Söhnen kaum vorkommen dürfte. Alles Dumpfe, Irrationale in der Gewalt positiver Emotionen Aufgehobene verkörpert sich im meinem und meines Bruders Mutterbild. Dass Willi, das Nesthäkchen, neun Jahre vor der Mutter stirbt, hat nicht nur unser aller Herzen gebrochen. In der Beobachtung, wie die Mutter sich zurück ins Leben kämpft, erschließt sich der Sinn des L E B E N S, indem er Kräfte und Zuversicht mobilisiert durch die Liebe und die Fürsorge den Zurückgebliebenen gegenüber, insbesondere verkörpert in den beiden Enkelinnen, den Kindern unseres Bruders. Und es handelt sich nicht - wie man aus meinen hilflosen Formulierungen schlussfolgern könnte - um schlichte Bilder. Nein, hier geht es um eine tätige Praxis, die sich zwar in Bildern erinnern lässt, die aber Tag für Tag das Leben der Zurückgebliebenen bestimmte. Allerdings nicht so ganz und so umfassend, wie es denn nur in einer Rosamunde-Pilcher-Welt der Fall ist.

Es hat fast fünfzig Jahre gedauert, bis Hilde wenigstens bereit war, den Namen von Ullas Vater preiszugeben. Und es hat mehr als 10 weitere Jahre gedauert, bis ein beharrliches und akribisches Forschen nach den Spuren von Franz Streit auch zum Erfolg geführt hat. Immerhin blieb Raum für eine Aussöhnung im Wortsinn, weil unsere Mutter immerhin noch Gelegenheit und Bereitschaft fand, die (neugewonnenen) Brüder ihrer Tochter, die Söhne ihres (gefährlichen) Geliebten aus den August- und Septembertagen 1941 kennenzulernen. Damit lichtete sich auch für sie noch das Schicksal von Franz Streit. Und wiederum mehr als zehn Jahre mussten vergehen, bis all dies dann auch in "Hildes Geschichte" ausmünden konnte - 10 Jahre nach dem Tod unserer Mutter. Warum erst so spät - letztlich 70 Jahre nach den Ereignissen aus den Jahren 1941/42? Hier schließt sich nun der Kreis mit Blick auf das Motiv, das mich zu den "Muttertagsphantasien" anregt. Die ZEIT entwirft in ihrer letzten Ausgabe (19/15) ein facettenreiches Mutterbild, das mir anhand von Christian Fuchsens Beitrag noch einmal all die Schwierigkeiten verdeutlicht hat, die den Zugang zu den lebendigen und dramatischen Ereignissen im August 1941 gänzlich verstellt haben - für mich, aber sicherlich immer schon für ein vermieftes und verspießtes Umfeld, das im urkatholischen Rheinland, in einem der schwärzesten Landkreise sich zwar gerne Geschichten erzählt, am liebsten aber immer noch an die unbefleckte Empfängnis Mariens glaubt. Das ist weiter nicht dramatisch, wenn es nicht die Ausstoßung der Mühseligen und Beladenen zur Folge hat. Die früh angelegte intuitive Ablehnung aller dumpfen, bigotten Sexualmoral hängt vielleicht zusammen mit dem erzwungenen Exodus Hildes aus der katholischen (Ur-)Gemeinde - hinein in die Fürsorge des NSV. Paradoxer kann die Welt sich kaum entblöden. Dass ein katholisch erzogenes Mädchen in einem von den Nazis gestalteten und geschützten Umfeld zur Niederkunft kommt - welch ein Segen!

Dass Hildes Empfängnis keine unbefleckte war, sondern das ganze Gegenteil - auch dies hat die Mutter noch preisgegeben, wenn auch nur in spärlichen Hinweisen. Verbürgt in "Hildes Geschichte" sind auf diese Weise Franz Streits akribische Planungen, die Hilde und Franz - nach drei Wochen des Kennenlernens - und der spärlichen Begegnungen in Bad Neuenahr - in einer Pension am Eisenbahnknotenpunkt Remagen zusammenkommen ließen. Bei dieser letzten Zusammenkunft am 9. September 1941 ist der Lebenslauf Ursulas angestoßen worden, vielleicht ein eindrückliches Beispiel für Niklas Luhmanns These, das allein schon unserer Zeugung und Geburt einen "extrem unwahrscheinlicher Zufall" markieren" und den Lebenslauf erkennbar werden lassen als eine Form, deren Elemente aus Wendepunkten bestehen, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Was geschehen ist könnt ihr in "Hildes Geschichte" auf den Seiten 69-96 nachlesen. Dass ihr es nachlesen könnt, hat die Auflösung einer nachhaltigen Selbst-Blockade zur Folge: Am ersten Weihnachtstag 2011 quälte ich mich mit dieser Blockade zum wiederholten Male herum - bis meine Frau, Claudia, die Geduld verlor und mir dann endlich jenen folgenreichen Hinweis gab, in dessen Anschluss und Auswirkung sich "Hildes Geschichte" im Kern innerhalb eines Vierteljahres fast wie von selbst schrieb:

"Hör doch endlich auf, dir diese 17jährige Hilde aus dem Jahr 1941 als deine Mutter vorzustellen. Sie war ein 17jähriges, junges Mädel, das weit davon entfernt war, deine Mutter werden zu können oder zu wollen!"

Ja, in der Tat! Sie war Galaxien davon entfernt meine und Willis Mutter zu werden. Sie sollte zuerst einmal - am 5. Juni 1942 - die Mutter Ullas werden. Dieser Hinweis war in jeder Hinsicht von durchschlagender Wirkung. Das Gegenteil aller MILF-affinen Phantasien konnte sich endlich Bahn brechen. Ein katholisch erzogenes, schüchternes Mädel erschien mit einem Mal in einem vertikalen Spannungsraum ohne gleichen: Keuchheit und schüchterne Zurückhaltung auf der einen Seite. Ein erwachsener, attraktiver Mann und eine langsam erwachende - sich möglicherweise zu einem Sturm von Emotionen und Triebimpulsen verstärkende Sexualität auf der anderen Seite. Dies alles und noch viel mehr lässt sich aufbauen und entfalten zu einer zarten, dann aber an Fahrt aufnehmenden und eine aussichtslose Unumkehrbarkeit auslösenden romanatischen Liebesgeschichte. Genau dies war - verdichtet auf drei Wochen im August/September 1941 - Hildes Geschichte. Und sie war der Auftakt zu einem Drama, dessen lange Tentakel hineinreichen bis in die vierte Generation nach Hilde. Dass Hilde eine Frau war, eine Frau, der ein 27jähriger Mann erlag, und für die er möglicherweise bereit war seinem Leben eine Wende zu geben, hat auch und im Wesentlichen zu tun mit ihr als Frau, als leibhaftige Versuchung, der Franz Streit erliegt - stellvertretend für alle Männer, stellvertretend für das Prinzip Leben in seiner verrücktesten und auch romantischsten Ausprägung. Aber lest es selbst - in "Hildes Geschichte"!

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund