SEITEN-BLICKE - Erotische Phantasien
Sexuelle Fantasien von Paaren bieten eine sehr gute Möglichkeit, Beziehungs- und intrapsychische Konflikte des Begehrens und der Intimität kreativ zu überwinden (Hans Rudi Fischer/Michael Göhlich-Kommentar der Herausgeber der Familiendynamik)
Hier geht es um die Therapie der Lust und nicht um Erika(s) Lust - und die pädagogisch höchstrelevante Frage, wie es um die Sexualpädagogik bestellt ist
Seit vielen Jahren bin ich Abonnent der Familiendynamik. Im "Fokus" des Heftes 1/2015 (Klett-Cotta: www.klett-cotta.de) steht das Spannungsfeld Familie - Schule. Ich werde hierüber berichten. In der Rubrik "SEITEN-BLICKE" (S. 38-45) setzt sich Esther Perel, eine Paar- und Sexualtherapeutin, die in New York lebt und arbeitet, mit erotischen Phantasien auseinander. Warum ich in der nun schon begründeten Traditionslinie meines Blogs den Beitrag von Esther Perel vorziehe, ergibt sich aus recht simplen und trivialen Überlegungen: Im Mittelpunkt ihres Berichtes stehen Joanna und Carl. Fast schon resümierend - gegen Ende ihres Beitrages - schildert sie deren Beziehung folgendermaßen:
"Gegenseitiges Geben und Nehmen hat ihre nun schon 26 Jahre dauernde Ehe ausgesprochen belastbar gemacht. Sie konnten sich aufeinander verlassen, sie haben sich ein Heim geschaffen, Kinder großgezogen, die Eltern begraben, eine Ausbildung gemacht, sich beruflich entwickelt, ihre persönlichen Herausforderungen miteinander besprochen, sich gegenseitig die Tränen abgewischt, und kürzlich sind sie gereist und haben die Meeresküsten für sich entdeckt. Aber im sexuellen Bereich war die Konfusion zwischen Bedürftigkeit und Begehren zu einem erotischen Todesurteil geworden."
Joanna und Carl mögen stellvertretend stehen für so viele Paare, die sich in den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gefunden haben, und die - sofern sie überhaupt zusammengeblieben sind - ähnliche Entwicklungen und Erfahrungen teilen, wie sie Esther Perel sowohl exemplarisch als auch - bezogen auf die spezielle sexuelle Paardynamik von Joanna und Carl - in spezifischer Hinsicht schildert. Meine Frau, Claudia, und ich sind bereits seit 36 Jahren ein Paar und seit 34 Jahren miteinander verheiratet. Kein Wunder also, dass die Schilderungen von Esther Perel Aufmersamkeit erregen. Ich darf mir diese Aufmerksamkeit nicht nur erlauben, sondern ich habe das besondere Glück in den späten 90er Jahren meine Ausbildung zum systemischen Familientherapeuten bei der IGST in Heidelberg absolviert zu haben. Neben Andrea Ebecke-Nohlen und Gunthard Weber, dem ich auch an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich danken möchte für so viele Anregungen, gehörte auch Uli Clement zu meinen Lehrtherapeuten. Letzteren kann man zu den renommiertesten Sexualtherapeuten im deutschsprachigen Raum zählen. So mag es nicht verwundern, dass sich im Anschluss an seine letzten Arbeiten (insbesondere zur Idee des ISS, das eben auch über Phantasien der Klienten neue Impulse generiert) eine besondere Aufmerksamkeit für Esther Perel einstellt; vor allem, wenn allein der Titel ihres Aufsatzes: "Erotische Fantasien neu betrachtet: Von der Tragödie zum Triumph" Neugierde weckt. Wer würde einer langen, langen sexuellen Beziehung nicht gerne neue Impulse verleihen? Viele von uns - die wir in den fünfziger und frühen sechsziger Jahre geboren worden sind - können die Ausgangsschilderung Esther Perels mehr oder weniger nachvollziehen:
"Viele Menschen nähern sich ihrer erotischen Gedankenwelt mit großer Beklemmung, weil sie die Inhalte ihrer Fantasien im Kontext einer Liebesbeziehung für unangemessen halten. Aufgrund kultureller Tabus kann bereits der Gedanke, sexuelle Fantasien zur Sprache zu bringen, Unbhagen und Scham hervorrufen. Dabei können diese eine sehr gute Möglichkeit bieten, Beziehungs- und intrapsychische Konflikte des Begehrens und der Intimität kreativ zu überwinden."
Im Rahmen ihres professionellen Selbstverständnisses vertritt Esther Perel die Auffassung, dass Therapeuten Paaren dabei helfen können, "Fantasien als Narrativ zu betrachten, das einen sicheren Raum für lustvolles Erleben schafft und so ihre Liebesbeziehung neu belebt". Aus der Haltung einer aktiven Nutzung und Gestaltung der oben erwähnten Anregungen, sich im Sinne eines ISS kreativ mit eigenen sexuellen Fantasien auseinanderzusetzen, kann ich deren außerordentliche Fruchtbarkeit nur bestätigen. Es ist nie zu spät! Allerdings hat dies nichts zu tun mit einem leichtfertigen Umgang daraus resultierender Impulse. Es kommt nicht von ungefähr, dass Esther Perel sich in ihren Schilderungen auf ein - nach heutigen Maßstäben - "Dinopaar" bezieht, dass nach fast drei Jahrzehnten des gemeinsamen Lebens nach neuen Zugängen zu einer verkrusteten und festgefahrenen Intimität sucht. Es ist alles andere als selbstverständlich, dass Paare heute überhaupt an diesen Punkt gelangen. Als einer der ersten hat David Schnarch darauf hingewiesen, dass eine entsprechende sexualtherapeutische Begleitung eher als "Initimitätstherapie" verstanden werden müsse. In eine ähnliche Richtung argumentiert Esther Perel mit dem Hinweis, dass sich die erotische Landschaft sehr viel weiter, reichhaltiger und verworrener darstelle als jedes Repertoire sexueller Techniken. In ihrem therapeutischen Grundverständnis geht es darum, dass die Bedeutungen von Fantasien "entschlüsselt" werden müssen: "Diese (Fantasien) werden mehr als Träume oder komplexe symbolische Strukturen und weniger als wörtlich zu nehmende Skripte geheimer erotischer Absichten verstanden."
"Werden die Tiefe, die Komplexität und die heilsamen Qualitäten erotischer Imagination entfaltet, können sexuelle Fantasien als ein Schauplatz des aktiven Handelns und der Rettung betrachtet werden. Dort können sich die Machtverhältnisse bezüglich früherer Erfahrungen der Entmutigung, der Niederlage und gar der Traumatisierung ändern."
Erotische Fantasien neu betrachtet: Von der Tragödie zum Triumph - zum sexualtherapeutischen Ansatz von Esther Perel
Im folgenden werden fallorientiert und entlang zentraler Thesen Ansatz und sexualtherapeutische Praxis Esther Perels vorgestellt:
1. Sexuelle Fantasien liefern uns Informationen über das Innenleben der Partner und die Beziehungsdynamik des Paares.
Esther Perel geht davon aus, dass sich Paare viel zu sehr auf den sexuellen Akt und seine statistischen Merkmale konzentrierten, insbesondere dann, wenn sie sich in einem sexuellen Stillstand befänden. Im Therapieansatz Esther Perels geht es zunächst einmal darum, zu erkunden, welche Rolle Sexualität im Leben des Paares spielt. Das kann gehen von der "Sehnsucht nach Verbundenheit und Transzendenz", einem "Ausdruck reiner Liebe", dem "Wunsch umsorgt zu werden", der "Sehnsucht nach Verschmelzung" bis hin zu dem Bedürfnis einen "sicheren Ort" zu finden, um "Aggression, Macht und Kontrolle oder das Vergnügen von Kontrollverlust und Hingabe" auszuleben. Für viele gehe es offenbar um "die Erlaubnis, Verantwortung abgeben zu dürfen und seine familiären Rollen hinter sich zu lassen". Es gehe beispielsweise darum, "einen Akt der Rebellion gegen gesellschaftliche Konventionen" auszuleben, "die Regeln guter Bürgerlichkeit ins Wanken zu bringen". Immer wieder gehe es um "das Erleben von Freiheit, Verspieltheit und Grenzüberschreitung, das Brechen von Tabus" oder ganz schlicht darum, "sich gut zu fühlen".
2. Sag mir, wie du geliebt wurdest, und ich sage dir, wie du Liebe machst.
Esther Perel geht von der Annahme aus, dass unsere emotionale Erfahrungsgeschichte unser "erotisches Schema" formt und in der Körperlichkeit der Sexualität unmittelbar zum Ausdruck komme: "Es gibt eine enge Verknüpfung zwischen unserer Bindungs-Landkarte... und unseren sexuellen Gefühlen und Verhaltensweisen." Gemeint sind damit unsere Erwartungen, unsere inneren Kämpfe, Hoffnungen und Enttäuschungen im Hinblick auf intime Beziehungen. Esther Perels vertritt den Standpunkt, dass wir in unserer Familie lernen, wie wir uns mit unsrem Körper, unserem Geschlecht und unserer Sexualität fühlen. Darin manifestiere sich die "Mitgift", die wir alle mit in das unbekannte Land der Erwachsenenliebe bringen".
3. Fantasien stellen die Umsetzung von emotionalen Bedürfnissen in ein paradigmatisches erotisches Schema dar.
Im idealen Fall - so Esther Perel - verwandeln Fantasien als wertvolle schöpferische Ressource unsere emotionalen und existentiellen Suchprozesse "in Quellen der Lust". Dabei "spielen wir im dialektischen Spannungsfeld von Macht und Dominanz einerseits und Unterwerfung, Abhängigkeit und Fürsorge andererseits sowohl in der Realität der Paarbeziehung als auch auf der Ebene sexueller Fantasien". Esther Perel führt dafür ein alltägliches Beispiel an, denn das gleiche Machtungleichgewicht, über das in der Küche gestritten werde, könne nach dem Essen unsere sexuelle Erregung entfachen.
Esther Perel geht in der Folge konkret auf die (sexuelle) Dynamik eines Paares - Joanna und Carl - ein. Die weiteren thesenhaften Grundannahmen Esther Perels verbinde ich mit Hinweisen zu dieser geschilderten - und exemplarisch aufgeführten - Paardynamik:
Insbesondere an Joanna illustriert Esther Perel eine Haltung, die viele von uns sicherlich nachvollziehen können: "Joanna nähert sich ihren geheimen erotischen Gedanken stets mit großer Beklemmung." Es wird deutlich, dass Joanna zwischen einer sogenannten "Idealfantasie" und ihren realen Fantasien unterscheidet: "Wissen Sie, meine Idealfantasie war immer 'Oh, warum kuscheln wir nicht einfach? Wäre es nicht schön, einfach z.B. meinen Rücken zu streicheln?' Aber mir wurde bewusst, dass meine Fantasien eigentlich ganz anderer Natur waren." Esther Perel lässt Joanna in der Folge über ihre Kindheit erzählen. Wenn Sie dies im Einzelnen nachvollziehen wollen, dann müssen Sie es in der angegebenen Fundstelle nachlesen. Wichtig ist nunmehr die vierte These, in der Esther Perel die Auffassung vertritt:
4. Fantasien bringen Wahrheiten über uns zum Vorschein, die uns auf anderem Wege kaum zugänglich sind.
Dabei ist Esther Perel sehr fixiert auf kindliche Erfahrungen, denn sie geht davon aus, dass es häufig genau jene Erfahrungen seien, die uns in unserer Kindheit den größten Schmerz zugefügt haben, die später manchmal zu den bedeutsamsten Quellen der Lust und Erregung würden. Joanna berichtet, dass sie sich als ein Kind in erinnert, das in der Familie "im Hintergrund lebte und sich oft unsichtbar fühlte". Mit Joanna arbeite Esther Perel nun heraus, dass das Thema der "Unsichtbarkeit" eine große Rolle bei der Ausprägung ihres erotischen Schemas spielt. Joanna bekennt den tiefen Wunsch danach, "gesehen zu werden": "Ich möchte, dass man mich wahrnimmt, mich ansieht, mich bewundert, mich kennt." Sie erzählt weiter, dass sie es mag, mit verbundenen Augen gefesselt zu sein. Sie erklärt: "Wenn ich gefesselt bin, muss ich nicht denken, ich muss nichts geben oder nett sein. Ich kann nicht anders, als zulassen, dass du mir etwas gibst, und ich kann nichts geben, weil ich gefesselt bin." Die Interpretation Esther Perels verdeutlicht, warum sie die Auffassung vertritt, dass sich in sexuellen Fantasien komplexe symbolische Strukturen offenbaren und nicht unbedingt wortgetreue Schilderungen geheimer Wünsche:
"Für Joanna hat das Gefesselt-Sein nichts mit Gewalt oder Überwältigt-Werden zu tun. Vielmehr umgeht es ihre lebenslange Gewohnheit des Selbstverzichts und des Verschwindens in den Hintergrund, mit der sie sich davon abhält, Lust zu erleben. Wenn sie festgebunden ist, kann ihr nur gegeben werden. Sie muss sich nicht ängstigen und dafür schuldig fühlen, zu viel genommen zu haben und sie verspürt keinen Druck, den Gefallen unverzüglich erwidern zu müssen. In ihrer Fantasie befindet sie sich in einer Situation, in der sie keine andere Wahl hat, als etwas zu nehmen, und zwar zu Recht und in Fülle."
Durchaus ähnlich verhält es sich bei Carl, dem Ehemann von Joanna. Eine sich versagende, sich emotional spärlich zeigende Mutter bedeutete für ihn, dass die Zärtlichkeit, nach der er sich sehnte, immer einen Vorstoß auf "gefährliches Terrain" bedeutete: Er lernte, seine Verletzlichkeit und sein Bedürfnis nach einer zärtlichen Verbindung mit ihr zu verbergen." Als Erwachsener, erfolgreicher Ingenieur leitete Carl eine eigene Abteilung in einem großen Unternehmen.
"Nach Feierabend übernahmen seine libidinösen Vorlieben die Führung, mit Online-Pornografie oder Pornoheften, die stets ältere Frauen und junge Männer bzw. Knaben zeigten. In seiner Vorstellungswelt durfte der erwachsene Carl jene Bedürfnisse leben, die der kleine Junge unterdrücken musste - Zärtlichkeit, Weichheit, Verletzlichkeit und Abhängigkeit. Alle diese abgelehnten Emotionen befeuerten sein erotisches Skript. Hier konnte der Mann Carl den kleinen Jungen spielen, ohne den Schmerz des kleinen Jungen zu spüren, dem die beruhigende, liebevolle Berührung der Mutter verweigert worden war. In seinen Fantasien war er nicht bedürftig: Die Frauen wollten ihn immer, sie sagten niemals Nein, sie wussten genau, was er brauchte und gaben es ihm gern."
Esther Perels geht nun auf die (sexuelle) Paardynamik zwischen Joanna und Carl ein: "Leider gerieten Carls Sinnbilder drucheinander. Bedürftigkeit und Begehren vermischten sich. Joanna ist das klar: 'Es macht mir nichts aus, den kleinen Jungen zu hegen und zu pflegen, aber ich will keinen Sex mit dem kleinen Jungen.' Sie empfindet ihn als fordernd, er sie als reserviert. Sie würde sich wünschen, dass er sie begehre, er sagt: 'Warum willst du mich nicht?' Und beide sagen: 'Sieh mich, höre mich, berühre mich, fühle mich.'"
Therapeutisch entwickelt Esther Perel ein Haltung, die sie mit dem "Eintauchen in die Narrative der Fantasien" beschreibt. Es geht darum, sie zu entpathologisieren. Es geht darum, die Metaphern und die Macht der erotischen Anreize zu übersetzen, sie mit der emotionalen Geschichte der Person zu verbinden und dann ein Brücke zu schlagen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, von sich selbst zum anderen. Und hier reagieren die Klienten unterschiedlich: "Während für manche das wechselseitige Mitteilen von Fantasien ein Ausdruck von Intimität darstellt (die Enthüllung einer einzigartigen Nacktheit dem Partner gegenüber), bewahren andere lieber eine gewisse Intimität mit sich selbst und ziehen es vor, ihre Ausschweifungen für sich zu behalten." Esther Perel geht es vorwiegend darum, wie es gelingen kann, in der Therapie Fantasien als eine metaphorische Sprache nutzen zu können, um sexuelle Sackgassen bei Einzelnen und bei Paaren anzugehen:
"Unsere Fantasien mitzuteilen ist eine Übung in Selbstbeschreibung, die wiederum die gegenseitige Differenzierung der Partner fördert. Eine solche Beschreibung bringt Getrenntheit und Neugier zutage, was anziehend und bedrohlich zugleich sein kann. Sich selbst ins Scheinwerferlicht zu rücken und den anderen in ein verletzliches Gebiet einzuladen, erlegt jedem die Verantwortung auf, für das einzustehen, was er oder sie ist. Verantwortung ist die Kehrseite des Schuldgefühls. Sie beinhaltet nicht nur, dem anderen zu vertrauen, sondern auch die Überzeugung, dass man es wert ist, gekannt, geliebt und begehrt zu werden."
5. Offensichtlich sind Fantasien keine Erfahrungen, die wir unbedingt in der Wirklichkeit erleben wollen.
Und dennoch zeigen Esther Perels Erfahrungen, dass man die Furcht vor der eigenen Fantasiewelt überwinden muss. Sie zeigt am Beispiel von Joanna, wie sich eine jahrelange Blockade löst: "Es überrascht nicht, dass Joanna offenbarte, dass sie das erste Mal seit Jahrzehnten mit Carl wieder einen Orgasmus hatte... Als wir über ihren Mut sprechen, teilt Joanna mir mit, dass sie in der Vergangenheit jeden Gedanken an Sex, den sie hatte, sofort abrupt beiseitegeschoben hat. Seit sie sich mit ihren Gedanken wohler fühlt und einen offeneren Bezug zu ihrer Sexualität hat, lernt sie sich neu kennen: 'Mir wurde klar, dass ich dominiert werden wollte. Ich wollte, dass er grob ist, was so weit weg ist von allem, was ich mir je gedacht oder erträumt hätte.' Esther Perel berichtet weiter, dass Joanna auf die Nachfrage, ob sie Carls Reaktion gefürchtet habe, auf eine ungekannte souveräne Art reagierte: "Sie zeigt mir mit ihrer Hand, wie sie sich selbst die Augen verbunden hat." Ihre "Selbstentmachtung" stellt in der Deutung Esther Perels eine inszenierte und spielerische Weise dar, Carls Aufmerksamkeit zu erlangen.
Mit Blick auf Carl berichtet Esther Perel, dass er ja wusste, was er gerne mochte. Zurückweisung - eine regelmäßige Erfahrung - konnte bei ihm in der Reaktion extreme Formen annehmen: "Bei Menschen wie Carl drückt sich sexuelle Frustration körperlich aus und der emotionale Preis, den sie dafür bezahlen, kann sich unerträglich anfühlen. Für sie ist Sex eine Lebensader, mit der sie ihr Bedürfnis nach Geben und Empfangen von Zuneigung, Liebe, Fürsorge, Zärtlichkeit und Einssein nähren." Die Wahrnehmung ist die einer umfassenden Verweigerung: "Es ist eine ganze emotionale Landschaft, die abgeschnitten ist."
Für Joanna und Carl als Paar bedeutet dies, dass Carl beim Sex "umschalten" muss von einem Bedürfnis nach der Mutter zu einem Verlangen nach der Frau. Das heißt er muss lernen, die mütterliche Berührung von der sexuellen Reaktion der Frau zu differenzieren: "Dann kann sich Joanna begehrt statt gebraucht fühlen und sie können den ersten Schritt tun heraus aus ihrem erotischen Hinterhalt." Dabei gehe es - so Esther Perel - keineswegs darum, Bedürftigkeit oder Abhängigkeit auszuschließen: "Carl und Joanna sind in so vielem voneinander abhängig. Ihre Beziehung bietet ihnen Erdung und Verankerung, ein Gefühl von Zugehörigkeit und Kontinuität."
So schließt sich der Kreislauf, und aus dem gegenseitigen Geben und Nehmen, das die Ehe von Joanna und Carl nun schon über 26 Jahre ausgesprochen belastbar gemacht hat, gibt es einen Weg, in der sich die im sexuellen Bereich vorherrschende Konfusion zwischen Bedürftigkeit und Begehren zu einem "erotischen Todesurteil" auflöst. Esther Perel schließt ihren Bericht mit der Schilderung von einigen "Mini-Druchbrüchen" ab, bei denen Carl Kontakt mit seinem männlichen Begehren herstellt und Joanna den eigenen Bedürfnissen Vorrang einräumen konnte: "Carl fühlte sich zuständig, er 'wusste', dass er Joanna begehrte, und es entstand wieder ein erfülltes Liebesleben. Eines Tages kam er mit Nagellack nach Hause, um Joanna die Fußnägel zu lackieren. Die Farbe des Nagellacks war dunkel, keine 'Mami-Farbe'. An einem anderen Tag brachte er ein seidenes Halstuch mit, um der Sanftheit etwas Textur hinzuzufügen und ihr die Augen zu verbinden. Eines Abends, als sie seine Avancen zurückwies, nahm er den Schal unds masturbierte vor ihr... Seine Vorstellungskraft fließt, und Spiel ist an die Stelle von Scham getreten."
Schlussresümee: "Wenn Therapeuten zugehört und die Feinheiten der erotischen Imagination sondiert haben, können sie die Scharfsinnigkeit der Fantasie enthüllen - ihre Kraft, ihre raffinierte Funktionsfähigkeit, ihre heilenden Qualitäten und ihre psychologische Meisterleistung. Unsere Fantasien verbinden die Einzigartigkeit unserer persönlichen Geschichte mit dem weit gespannten Bogen der kollektiven Bilderwelt - die Anreize mit den Verboten, die Ideale mit der Repression, was uns gesagt wird, das sexy sei, mit dem, was verboten ist. Sie überbrücken die Kluft zwischen dem Möglichen und dem Erlaubten.
Fantasie ist die Alchemie, die den ungeordneten Mischmasch aus psychischen Ingredienzien in reines Gold erotischer Erregung verwandelt - ein wirksames Gegengift gegen das Untergehen der Libido in der Beziehung."