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Das Sterben ist kein Wunschkonzert! Und wie ist das mit der Sterbe-App?

Ein weiterer Mosaikstein in der Diskussion von Edo Reents in der FAZ (22.11.14)

"Jeder will würdig sterben. Was ist, wenn das nicht möglich ist?" Edo Reents stellt die richtige Frage. Er katapultiert mich mehr als elf Jahre zurück in das Jahr 2003, in die aktute Sterbephase meiner Mutter:

Von Februar bis Juli - ein halbes Jahr belgeite ich sie, ohne wirklich zu wissen, worum es geht. Erst der finale Akt, die finale Sterbephase vom 19. bis zum 27. Juli öffnet die Türe, durch die wir gehen müssen und hinter der sich unsere Wege trennen. Ich habe dieses letzte halbe Lebensjahr meiner Mutter und unseren gemeinsamen Weg protokolliert; die letzten 8 Tage minutiös und detailliert. Man kann es nachlesen in "Hildes Geschichte". Das "Sterbetagebuch" verdankt sich einer Mischung aus Trotz, Hilflosigkeit und kühler Beobachtung. Letztere kompensiert nach und nach und mehr und mehr meine Hilflosigkeit. Meine Mutter stirbt im Krankenhaus "Maria Hilf" in Bad Neuenahr. Während ich zu Beginn dieser finalen Phase zwischen Güls und Bad Neuenahr pendele und mir die Sterbebegleitung im wesentlichen mit meiner Schwester aufteile, ermöglicht mir das Krankenhaus in den letzten vier Tagen und Nächten eine Dauerbegleitung, indem man mir im Zimmer meiner Mutter ein Bett aufstellt. Für diese - im Krankenhausbetrieb alles andere als selbstverständliche - Ermöglichung bin ich bis heute zutiefst dankbar. Wo ist mein Problem?

Kommen wir auf Edo Reents zurück: "Das Sterben ist eine große, schwierige Sache. Anders wäre kaum erklärlich, dass die Philosophie seit der Antike, verkürzt gesagt, das Leben als eine einzige Einübung darauf begreift. Dafür werden 'Gelassenheit', 'Unerschütterlichkeit' oder 'Zuversicht' geltend gemacht." Das ist leichter gesagt als getan. Wie erlangen diese drei Grundtugenden denn Geltung in einer Welt, in der das Sterben nicht nur - wie ehedem - eine große und schwierige Sache ist, sondern zwischen totaler Verdrängung und totalen Verfügungsphantasien mehr und mehr ort- und kulturlos wird? Die sechs Monate im Jahre 2003 - insbesondere die erwähnten acht Tage - sowie die fünf bis sechs Jahre andauernde progressive Demenz meines Schwiegervaters, den wir die letzten vier Jahre mit vereinten Kräften und - noch ist Deutschland nicht verloren - mit der Hilfe wunderbarer polnischer Frauen (Katharina, Margareta und Stacha) zu Hause bis zu seinem Tod 2010 gepflegt haben, haben Gelassenheit und Unerschütterlichkeit auf eine harte Probe gestellt. Zuversicht ergibt sich im Rückblick auf die solidarische Kraft der Familie und in Dankbarkeit allen gegenüber, die durch ihre Unterstützung und Anteilnahme eine Pflege zu Hause ermöglicht haben; eine lange Pflege - für meinen Schwiegervater in eine Welt der vollkommenen Depersonalisation. Bis zum letzten Tag gab es nicht einen Gedanken an irgendeine Form der (aktiven) Sterbehilfe. Anders in der relativ kurzen Phase des Sterbens meiner Mutter. In diesen acht Tagen wurde meiner Mutter, deren finaler Sterbeprozess (auch) keine (fachkundigen) Zweifel mehr am finalen Charakter zuließ, eine Magensonde zur künstlichen Ernährung verordnet. Meine Mutter hatte keine Patientienverfügung unterzeichnet. Erst nach mühsamen Verhandlungen und durch die Einsicht der behandelnden Ärzte, wurde dieser (möglicherweise) lebensverlängernde Akt ausgesetzt.

Mit Christof Müller-Busch - maßgeblich beteiligt am Aufbau einer Palliativmedizin - vertritt Edo Reets die Auffassung, Angst vor Schmerzen dürfe kein Grund für Sterbehilfe sein: "Würdevolles Sterben ist teilweise auch verbunden mit einer guten Schmerztherapie." Acht Tage der finalen Sterbebegleitung reichen aus, um sowohl die Zwänge und die Enge der Krankenhauspflege zu erfahren und Zuversicht zu koppeln allein an die Hoffnung in die Möglichkeiten eines (palliativ) begleiteten Sterbens. Dafür war und ist das Krankenhaus nicht der geeignete Ort. Sicherlich begründet sich nicht zuletzt aus dieser Einsicht auch der Wunsch der übergroßen Mehrheit der Menschen zu Hause sterben zu dürfen:

  • Im Krankenhaus begegnet uns der Tod - auf unvermeidbare Weise, in der Regel wird er als Niederlage der auf Lebenserhaltung ausgerichteten ärztlichen Professionalität gesehen. Über das Sterben weiß man dort wenig! Mein persönlicher Respekt meine Hochachtung gilt dem Pflegepersonal in deutschen Krankenhäusern, insbesondere - im Zusammenhang mit der Pflege meiner Mutter - dem Pflegepersonal auf Station sechs des Krankenhauses Maria Hilf in Bad Neuenahr. Die Pflege war fürsorglich, in jeder Situation angemessen und fand vor allem in den vorgegebenen Zeitrhythmen statt - Tag und Nacht!
  • Gerade der letzte Hinweis macht deutlich, dass über die vorgegebenen - eng regulierten - Zeiteinheiten hinaus für die Pflege kein Spielraum für Begleitung blieb/bleibt. Ganz sicher ist das Pflegepersonal dankbar, wenn Angehörige diese Begleitung wahrnehmen, sofern dies im Rahmen der eingeengten Möglichkeiten innerhalb des Krankenhauses geschieht und unter der Maßgabe, dass "Sterben kein Wunschkonzert ist".

"Es ist begreiflich, dass jeder Mensch sich einen kurzen, schmerzlosen Tod wünscht. Nur kann er das nicht allein bestimmen."

  • Edo Reents betont nicht nur einen "Bereich des Unverfügbaren" - er reklamiert ihn geradezu:"Die Leute wollen sich das nur nicht eingestehen und reden von allen möglichen Lebensentwürfen und bei jeder Kleinigkeit davon, dass sie etwas 'entschieden' haben. Das Anschwellen dieser Ermächtigungsrhetorik ist nicht zu übersehen. Nun geht es also ans Sterben, zur Not von fremder Hand. Es wundert einen, dass, nachdem IT-Firmen sich nun auch noch in die Geburt einmischen, noch keine Sterbe-App auf dem Markt ist. Den Markt gibt es ja schon."

Edo Reents stellt den Autonomie-Begriff nicht nur wegen einer Überforderungsproblematik auf den Prüfstand: Wenn schon das "Nix mitnehma" unausweichlich ist, werden "Schmerzfreiheit", "Kontrolle über das eigene Denken und die Körperfunktionen" zu den letzten Bastionen einer "Autonomie" - samt eines "Nicht-angewiesen-Seins auf andere". Edo Reets kann auch richtig Ironie, vielleicht Sarkasmus, aber immer in entlarvender, die unausweichlichen Paradoxien betonenden Geste:

  • "Wo aber steht geschrieben, dass das Sterben  so ablaufen soll? Dass der ärtzlich assistierte Suizid das Autonomie-Kriterium ja gerade nicht erfüllt, unterschlagen dessen Befürworter. Nirgends offenbaren sich die Grenzen menschlicher Würde und Autonomie doch so wie am Lebensende."

Ich folge Edo Reents. Aber ich halte ihm entgegen, dass dort, wo sich die Grenzen menschlicher Würde und Autonomie am Lebensende offenbaren, deren "Unantastbarkeit" auf uns übergeht. Im Sterben unserer Lieben (siehe Karl Otto Hondrichs Vermächtnis) spiegelt sich deren Würde und deren Gefährdung in unserem verantwortlichen Handeln. Jeder Arzt (und jeder Angehörige) verliert seine Würde und tritt die der Sterbenden mit Füßen, der aktiv (durch sein Handeln und Unterlassen) duldet, dass Sterbende als anonyme Goldmienen der Apparate-Medizin ausgebeutet werden. Und ich werde böse auf Edo Reets, wenn er akademisch-lapidar feststellt:

  • "Es gibt Fälle, in denen Menschen nicht (mehr) Hand an sich legen können. Wie wäre es, wenn man sich damit abfände?" Wie weiland Hintze sind wir in der Diskussion um Sterbehilfe auf eigene Erfahrungen angewiesen. Und ich möchte mich verwahren gegen Euphemismen, die - ich bleibe bei meinem Beispiel - selbst im irreversiblen Prozess des Sterbens noch von "unterlassener Hilfeleistung" sprechen, wenn sie unter Einführung einer Magensonde nicht diesen Sterbeprozess unbotmäßig verlängern. Mir fällt das Beispiel einer guten Freundin ein, die - bei fehlender Patientenverfügung der Mutter - keine Chance sah, sich der Duldung ärztlicher Verordnung und Eingriffe zu versagen. Wie (un-)christlich und unmenschlich ist es eigentlich, sich dem Unausweichlichen, dem Unabwendbaren zu versagen? "Glaubt ihr denn ihr kämet nie dort an, worauf ihr alle hinlebt?" (Ich glaube Montaigne)

Ja, Edo Reents, gerade weil "die halbe Gesellschaft von morgens bis abends an Apparate angeschlossen ist", ist das Unterlassen in finalen, aber nicht ausweglosen Situationen zu erwägen und eine Alternative! Vielleicht verweigert sich Edo Reets hier einer stoischen Haltung, und räumt den Apparaten Vorrang um jeden Preis ein. Und der Preis ist heiß! Fragt die Krankenkassen! Und wie bitter ist denn überhaupt die Reklamation von Traditionen, die Edo Reents "unter dem Begriff eines tragischen Heroismus oder Pessimismus" erwähnt und uns angesichts unserer Verletzlichkeit Verächtliches nur anbietet: "Aber hiervon auch abgesehen, scheint mir der Begriff der Würde auf ein am Willen so sündliches, ab Geiste so beschränktes, am Körper so verletzbares und hinfälliges Wesen, wie der Mensch ist, nur ironisch anwendbar (Arthur Schopenhauer)." Und wenn die Würde ohnehin nur als Schimäre taugt, dann kann den im Geiste so Beschränkten und im Willen so Sündlichen als auch so verletzlichen Körper ohne weiteres und bis zum letzten Atemzug einer Apparate-Medizin ausliefern, deren sündiges Äquivalent wohlgefüllte Chef-Ärzte-Konten sind.

Aber bei Edo Reents kommt es noch deftiger. Ein kleiner Ausflug in die "Befassung des zwanzigsten Jahrhunderts mit dem Sterben" endet in der Überleitung zur Dekonstruktion der Würde bei Schopenhauer mit dem lapidaren Hinweis, dass man im Kontext eines "tragischen Heroismus oder Pessimismus" Begriffe wie "Würde" und "Autonomie" vergeblich suche:

  • "Das zwanzigste Jahrhunder befasste sich mit dem Sterben (Selbstmord inbegriffen) unter anderem in Form von Ungerührtheitsposen (Jünger), persönlich beglaubigten Auseinandersetzungen (Améry), aufs Paradoxale gerichteten Grübeleien (Camus) sowie schlichtem Protest (Canetti)."

Warum hängt Edo Reents so sehr an der Idee des Verächtlichen und läuft Gefahr sich selbst des Verächtlich-Machens auszusetzen. Den Tod als Skandalon zu betrachten (Canetti) ist nicht mehr als eine Pose, die allerdings in der modernen Medizin dazu verleiten kann, das Ableben - man kann auch sagen das Sterben - unter Inkaufnahme des sozialen Todes so lange als möglich auszusetzen und hinauszuzögern. Die "Ungerührtheits-Pose" (Jünger)ist zweifellos die würdeloseste, in der Verachtung Programm wird. Sie erfährt ihren Höhepunkt in Auschwitz und Stalingrad gleichermaßen.

Was also gilt es zu lernen - und von wem? Im Ausblick erwähnt Edo Reents den dänischern Schriftsteller Jens Peter Jacobsen (1847-1885). Dessen Romanheld "Niels Lyhne" sterbe zuletzt, unversöhnt mit Leben und Tod und erhalte folgenden Rat:

"Quälen sie sich doch jetzt nicht mit ihren Anschauungen; Leute, die Sterben sollen, haben keine Anschauungen mehr, und es ist auch einerlei, ob Sie welche haben; Anschauungen sind nur dazu da, um danach zu leben."

Und Edo Reents Schlussfrage verkennt gleichermaßen die Botschaft, die Niels Lyhne hier (zu spät) erhält wie auch die Ausgangslage, in der wir (noch) Lebenden uns befinden: "Was also will man vom Tod, vom Sterben" - fragt Edo Reets - "dasselbe wie vom Leben? Diese Rechnung geht selten auf.

Wir wissen nichts über den Tod! Und es verbietet sich Sterben und Tod ineins zu setzen! Sterben findet im Diesseits statt. Es ist und bleibt ein soziales Phänomen, für dessen Gestaltung wir selbst Verantwortung tragen. Der Tod ist und bleibt eine Methaper für das Ungewisse, für das Offene. Die "Ungerührtheits-Pose" Jüngers hat(te) im Endeffekt zur Folge den TOD von Hekatomben von Menschen nicht nur billigend in Kauf zu nehmen, sondern strategisch zu wollen und zu planen. Die Ungerührtheits-Geste kommt dem Versuch gleich sich zu immunisieren gegenüber einer Verantwortung, die im diesseitigen Gestalten von guter Gesellschaft und guter Gemeinschaft beruht.

Und Edo Reents: Sterbende sind noch Lebende! Und sie sind möglicherweise Sterbende, die auch etwas bereuen: "Oh Leben, Leben: Draußen sein. Und ich in Lohe. Niemand der mich kennt." (Rainer Maria Rilke)

Macht Euch kenntlich zu Lebzeiten - nicht gläsern, kenntlich im Sinne Eurer Würde und Eurer Verantwortung, denn Anschauungen sind nur dazu da, um danach zu leben (das Scheitern inbegriffen)!

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund