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Was mögen die Müllmänner denken
(dieses Gedicht findet ihr - neben vielen anderen - in der "Mohnfrau" - demnächst als PDF unter "Eigene und fremde Bücher")
Was mögen die Müllmänner denken,
Wenn die Tonnen vor Windeln bersten?
Um Deutschland scheint es bestens bestellt
Es poppt sich in eine neue Kinderwelt?
Kämen sie auf die Idee, genauer hinzuschauen,
Dann würden sie merken –
Das müssen recht große Kinder sein,
High-Tech-bewindelt
Mit 2-Liter-Fassungsvermögen.
„Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder"
Geht an der Sache vorbei:
Kinder wachsen hinein in die Welt
Und in die Welt der Sprache.
Die großen Kinder hingegen
Stürzen hinaus
Und hinein in den Alptraum,
„Die Krankheit zum Tod".
Wir fallen mit ihnen
– Noch nicht so ganz,
Wenn wir flechten
Aus Windeln den Ehrenkranz.
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Zur Beisetzung meines Schwiegervaters Leo Rothmund am 11.3.2010
Alle, die uns ihr Beileid bekunden und wir selbst stellen nach einem Leidensweg, wie ihn Leo auf sich nehmen musste, vor allem die „Erlösung" in den Vordergrund. Und das ist zweifellos angemessen! Warum erfahren manche Menschen das, was wir einen „gnadenvollen" Tod nennen, während andere einen nicht enden wollenden Leidensweg auf sich nehmen? Dass alles, was du, lieber Leo mit uns erfahren durftest und das alles was wir mit dir erfahren durften einen Sinn hat, darum soll es in der folgenden Totenrede gehen.
Lieber Leo,
du wunderst dich sicherlich, wie viele Menschen heute hierher gekommen sind, um dich auf deinem letzten Weg zu begleiten. Am 27. August 2006 – auf Claudias 50sten Geburtstag – haben dich einige der hier Versammelten zum letzten Mal in der Öffentlichkeit gesehen. Dort hast du deinen letzten Tanz getanzt. Damals warst du schon auf dem Weg, der am vergangenen Montag in dieser Welt für dich zu Ende gegangen ist. Das war ein langer, harter Weg.
Die letzten 31 Jahre dieses Weges sind wir gemeinsam gegangen. Nicht allein deshalb ist es mir eine besondere Ehre heute hier sprechen zu dürfen. Aus der Generation der „Väter" stehst du mir – abgesehen von meinen Eltern – am nächsten. Und das stand uns sicherlich nicht ins Stammbuch geschrieben, obwohl einige – ein bisschen auch ich selbst – der Auffassung sind, der liebe Gott habe dabei die Hand im Spiel gehabt. Hast du doch deine Lisa just an jenem 21. Februar 1952 geheiratet, an dem mich meine Mutter geboren hat. So war es mir immer ein Leichtes, dich auch zu Zeiten, als du noch unter Volldampf standest, daran zu erinnern, dass sich euer Hochzeitstag wieder einmal jährt – insgesamt 58 Mal, zuletzt vor knapp drei Wochen. Dass aus alldem in der Tat eine Bestimmung geworden ist, liegt halt daran, dass ihr mir, dem Jungen von der Ahr, die einzigartigste aller Moselperlen geschenkt habt. Ich habe mich aber mit Claudia revanchiert, indem wir dir und Lisa, Laura und Anne geschenkt haben, eure Enkelkinder, denen deine Liebe und deine ganze Fürsorge galt.
Du bist ja ein Bodenseeschwabe und da gilt ja ein bisschen auch die Devise: Nicht geschimpft ist schon gelobt genug. Wenn ich nun einige Stationen deines Weges nachzeichne und dies in einen tiefen Dank an dich kleide, dann geht es mir zu allerletzt um einen erschöpfenden Lebenslauf. Ein Lebenslauf – so kann man sagen – besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Ich will mich auf einige wenige Wendepunkte beschränken, an denen in der Tat jeweils etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Ohne diese Wendepunkte gäbe es diese Trauerfeier heute nicht und das ganze Feingewebe an Beziehungen, das in deiner Tochter und in deinen Enkeltöchtern wunderbare Gestalt angenommen hat, gäbe es nicht. Alle, die heute hier versammelt sind, kennen dich – haben dich gekannt. Jeder hat seine eigenen Erinnerungen, seine eigenen Geschichten mit dir. Und es ist ein Allgemeinplatz, dass wir solange weiterleben, wie wir in der Erinnerung der anderen lebendig sind.
• Wendepunkt 1: Du warst Soldat im 2.Weltkrieg. Davon hast du wenig erzählt. Aber mir hast du auf einer unserer Fahrten in deine geliebten Alpen erzählt, dass du 1944 im Hürtgenwald als Zugführer fast alle deine Kameraden durch kanadische Scharfschützen verloren hast. Im Visier eines dieser Scharfschützen hat dich pure Intuition – eine Ahnung – eine abrupte Körperwende vollziehen lassen, so dass nicht ein Kopfschuss dein damals gerade 20 Jahre währendes Leben beendete, sondern dieser Schuss deine rechte Schulter zertrümmerte.
• Du hast weitergelebt und der Junge, der bei Maybach den Maschinenbau von der Pike auf gelernt hat, hatte Ende der 40er Jahre das Maschinenbaustudium in Konstanz erfolgreich abgeschlossen. Er hatte seine Lektionen gelernt, kannte und beherrschte die Gesetze des Schwarzmarkts und hat so manchen Liter Moscht vermarktet, um Studium und Studentenleben zu finanzieren. Die Grundlagen für ein erfolgreiches Berufs- und Geschäftsleben waren gelegt. Der „Junge" vom See hatte Charme, er hatte Glück bei den Frauen, hatte den größten Stein im Brett bei seiner fast 80jährigen Zimmerwirtin, der Mimi, die ihn aus mancher Verlegenheit herausgeboxt hat. Es war die Mimi, die den Leo auf der Konstanzer Rheinbrücke, in Rufweite der Katzgasse, aus Polizeihand befreite, weil er sich – im leichten Alkoholnebel – nicht ausweisen konnte. Sie hatte sein Rufen: „Mimi, Mimi, komm und hol mich!" gehört und eilte mit wehendem Schlafrock ihrem Leo zu Hilfe.
• Wendpunkt 2: Am Bodensee ist es dir zu eng geworden. Und wo ließe es sich besser leben als in der Völkermühle am Rhein, besser gesagt, wo ließe sich besser leben, als in der einzigen Stadt an Rhein und Mosel! Da ist auch Platz für einen Bodenseeschwaben. Hier bist du heimisch geworden, ein Solitär geblieben, der aufgrund seiner Sprachfärbung auffiel und der auch zu gefallen wusste – du alter Schofsäckel! Wie du das Herz deiner Lisa erobert hast, ist Legende. Sie war ja eine viel umworbene Frau und vor allem auch schon eine gestandene Geschäftsfrau, während du mühsamst beruflich Fuß zu fassen suchtest. Aber dein Charme, dein Sprachwitz und deine unbändige Energie haben sie geradzu mit traumwandlerischer Sicherheit die richtige Wahl treffen lassen. Man darf an dieser Stelle natürlich deine legendären Qualitäten als Tänzer nicht unerwähnt lassen. Mit Lisas Liebe, mit ihrer Unterstützung ihrem Wohlwollen und ihrer Bewunderung ist die „Marke" Leo Rothmund zum Erfolgsmodell geworden: Leo, du bist ein Self-Made-Man, der mit einem Koffer und dem, was er auf dem Leibe trug, gestartet ist. Du hast es mit Fleiß und deiner unerschöpflich scheinenden Energie zu Wohlstand und Ansehen gebracht.
• Deine Lebensleistung nötigt nicht nur Respekt ab, sie erscheint nahezu unglaublich. Man kann das praktisch nur so erklären, dass du drei Arbeitsleben in deinem Leben vereint hast: Du warst planender Architekt, du warst in der Regel der Bauleiter der von dir geplanten Objekte und du warst dein eigener Sekretär. Deine Nächte hast du am Reißbrett verbracht, du hast die Gewerke ausgeschrieben, Bauanträge verfasst (an deiner eigenen zuletzt halbelektrischen Olympia); du hast vormittags und zwischendurch die Behördengänge und Verhandlungen mit Bauherren und den Handwerkern geführt, am Bau jedes Gewerk abgenommen. Du warst ein harter Hund und hoch geschätzt bei denen, die es nicht so dicke hatten. Wo hättest du da noch Zeit für so was „Unnützes" wie Schlaf hernehmen sollen. In deiner Hoch-Zeit sollen es nie mehr als 3 bis 4 Stunden gewesen sein. Als ich dich kennen lernte und das zwei-felhafte Vergnügen hatte, in Zürs oder sonstwo ein Zimmer mit dir zu teilen, war die Nacht um 4 zu Ende: Licht an, Akten raus. Wenn aber ein Schitag zu Ende war, dann warst du frisch und ich fertig wie ein Brötchen.
• Aber auch du fandest deine Grenzen; allerdings immer – solange dein Körper und dein Geist es zuließen – nach deinen Bedingungen; du warst zwar geborener Rechtshänder; und wer weiß, wie Tennis geht, der hat als mittelmäßig Begabter seine liebe Mühe. Du hast es mit links gemacht. Lange Jahre hast du dein Organisationstalent im Postsportverein deiner Tennismannschaft zur Verfügung gestellt. Deine besondere Liebe – sieht man einmal von Lisa ab – galt aber dem Schisport. Nur in knappster Form lässt sich andeuten, wie sehr diese Leidenschaft dir – auch gegen alle Vernunft – Lebenssinn und Lebensfreude bedeutete. Und ich muss an dieser Stelle auch gestehen, dass alle, die dich näher gekannt haben, fest davon überzeugt waren, dass dich die Berge irgendwann nicht mehr hergeben würden, dass dich ein „mort douce", ein süßer Tod heimholen würde. Du hast die Berge beben lassen. Dein Organisationstalent, dein Humor und deine Energie sind Legende und deine Schitouren legendär. Dort wo der Leo war, war das Leben (diesen Satz hat mir deine dir ein wenig ähnelnde Tochter Claudia in den Stift diktiert). Wer einmal im Auto oder auf der Schipiste mit dir unterwegs war, dem wird dies zeitlebens unvergessen bleiben. Der Tod in den Bergen war dir nicht vergönnt.
Es ist anders gekommen. Und dies gibt mir Gelegenheit auf etwas anderes hinzuweisen, als schlicht auf die Tatsache, dass du ein „Siegertyp" warst und Endlichkeit für dich ein Fremdwort war: Ich erinnere mich, dass du mich recht früh in väterlicher Haltung einmal darauf hingewiesen hast, dass du mir ein passables Pferd anbietest, aber reiten müsste ich den Gaul schon selbst. In den letzten Jahren, als sich deine Demenz mehr und mehr ausprägte, hatte ich häufig das Gefühl, dass du selbst auf einem toten Gaul sitzt und dich weigerst abzusteigen. Ich wollte dich überreden, mir deine Geschichten zu erzählen. Ich wollte sie aufschreiben und vor allem deinen Enkeltöchtern erhalten. Wir haben angefangen ein Album zu gestalten – vor sechs oder sieben Jahren. Wir haben dann zunehmend begriffen, dass sich deine Welt gleicherma-ßen verdichtet und reduziert. 10 oder 12 Fotos haben ausgereicht den Horizont und den Ozean eines ganzen Lebens zu vermessen. 2003 ist am Bodensee an der Birnau – das war unser beider Abschiedsreise an den See – bei herrlichem Wetter ein Foto vor der Birnau entstanden. Durch dieses Foto und die besagten 10 bis 12 Fotos bist du eingetaucht in deine eigene Welt, in den ungeheuren Kosmos deiner ganzen Lebensgeschichte, den wir nur in Facetten erahnen können, aber an dem wir alle mehr oder weniger teilhaben.
Ich möchte diese Trauerrede abschließen mit einem ganz besonderen Dank, der einen andern Leo zeigt. Ich danke dir Leo für die Begegnungen, die wir alle – Lisa, Claudia, Laura, Anne, Biene und ich in den letzten Jahren, Monaten, Wochen und Tagen mit dir noch haben durften. Aber ich danke auch Lisa, meiner Schwiegermutter, Claudia, meiner Moselperle, Laura und Anne, unseren unvergleichlichen Töchtern – und natürlich Biene, die uns alle auch in Hängepartien immer wieder motivierte, Kraft und Zuversicht in Gottes Natur zu suchen und zu finden. In diesen Dank sind so viele andere einzuschließen, die einfach da sind, im Gespräch, im gemeinsamen Wandern, Essen und Trinken. Namentlich erwähnen will ich aber Kathrin, Marlena und ganz besonders Stella, die Leo in den letzten drei Jahren mit gepflegt haben. Noch ist Deutschland nicht verloren – dank Polen.
Die letzten Bemerkungen entnehme ich dem Buch, das nun leider nicht mehr zu deinen Lebzeiten erscheint, und in dem ich u.a. auch begonnen habe, zu begreifen und zu verarbeiten, was der Weg in die Demenz und in die Hilflosigkeit für dich und für uns alle bedeutet hat. Eine große Hilfe war und ist mir dabei die kleine Schrift „Mut zur Endlichkeit – Sterben in einer Gesellschaft der Sieger" von Fulbert Steffensky, auf den ich mich im Folgenden immer wieder beziehe.
Lieber Leo, da ich dieses Kapitel, aus dem ich jetzt vorlese, vor rund einem halben Jahr geschrieben habe, liest es sich so, als wenn du noch am leben wärest. Aber du wirst es auf deine Weise verstehen. Ich zitiere jetzt aus diesem Kapitel:
„Mein eigener Vater starb innerhalb einer Woche an einem Herzinfarkt mit 65 Jahren, meine Mutter führte ein halbes Jahr einen harten Abwehrkampf gegen Gevatter Hein, bevor sie ihm im Alter von 79 Jahren folgte. Das alles war schwer zu ertragen, aber es sind naturgemäß die vorletzten Entwicklungsaufgaben, denen wir uns zu stellen haben. Meine Schwiegermutter Lisa erfreut sich mit 86 Jahren einer guten Gesundheit und einer beeindruckenden geistigen Frische. Hingegen fristet mein Schwiegervater Leo ein elendes Dasein, dem vor drei Jahren die Pflegestufe III attestiert wurde. Das Elende seines Daseins liegt hier primär im Auge des Beobachters, des beobachtenden Schwiegersohns. Die Vorsorgevollmacht liegt in Händen seiner Tochter und über eine Patientenverfügung hat er selbst lebensverlängernde intensivmedizinische Maßnahmen ausgeschlossen. Wir pflegen – wie oben angedeutet – zu Hause. Im Essen und Trinken findet er immer noch Genuss. Auch wenn er dazu selbst in keiner Weise mehr in der Lage ist, steht sein Lebenswille für mich außer Frage. Alle körperliche Zuwendung, alles Drücken uns Schmusen fällt, wie Regen in der Wüste, auf überaus bedürftigen und dankbaren Boden. Und seine Mimik, Gestik und sein Augenspiel lassen keine Zweifel an seinem Wohlbehagen. Sie sagen uns: Alles ist gut, hier bin ich wohl, geborgen und aufgehoben.
Fulbert Steffensky entwickelt seine Gedanken um eine schlichte und gleichwohl fundamentale Erfahrung: ‚Das, wovon wir eigentlich leben, können wir nicht herstellen: nicht die Liebe, nicht die Freundschaft, nicht die Vergebung, nicht die eigene Ganzheit und Unversehrtheit. Man kann sich nicht selbst beabsichtigen, ohne sich zu verfehlen.' Mit Fulbert Steffensky nähere ich mich einem theologisch begründeten Gnadenbegriff, mit dem er uns nahe legt, Gnade zu denken, bedeute zu erkennen, dass den Menschen nicht seine Tauglichkeit und Verwendbarkeit ausmache: ‚Alte Menschen, dauerhaft Kranke sind wenig tauglich und verwendbar. Sie können sich nicht durch sich selbst rechtfertigen, nicht durch ihre Arbeit, durch ihre Intelligenz und ihren Witz. Sie sind, weil sie sind. Sie sind nicht, weil sie etwas leisten.' Auch Kinder – betont Steffensky – seien zunächst einmal nicht durch ihre Funktion für die Gesellschaft gerechtfertigt. Aber sie seien immerhin – wie Zyniker sagen – eine ‚Investition für die Zukunft'.
Ich bedenke Fulbert Steffenskys Auffassung, dass die Bedürftigkeit den Grundzug aller Humanität ausmache. Und ich kann der Idee folgen, dass ein Wesen umso bedürftiger sei, je geistiger es ist: ‚Um so mehr weiß es, dass es sich nicht selbst gebären und vollenden kann. Es braucht Väter und Mütter, es braucht Kinder und Enkel. Es muss sich auf mehr berufen können als auf den eigenen Witz und die eigene Stärke'. Den Mittelpunkt seiner Argumentation bildet schließlich eine Idee, die ich als die letzte Entwicklungsaufgabe verstehen möchte, die uns möglicherweise allen gestellt ist: ‚Schwer erkrankt sein, heißt verarmt sein: arm an eigener Kraft, arm an Bewegungsfähigkeit, arm an Zukunft. Die Krankheit ist Krise: man kann angesichts dieser Verarmung in Hoffnungslosigkeit und Verbitterung erstarren, und man kann sich ergeben. Sich ergeben ist ein veraltetes Wort, das ich mag. Es heißt, sich aus der Hand geben, sich anvertrauen, sich nicht mehr mit sich selber rechtfertigen; wissen, das es zu wenig ist, nur bei sich selber aufgehoben zu sein. Vermutlich gelingt diese letzte Ergebung, die letzte Bedürftigkeit nur wenigen Menschen...' Und zu diesen Menschen gehörst ganz ohne jeden Zweifel du, mein lieber Leo!
Fulbert Steffensky spricht von einem ‚merkwürdigen neuen Leiden', das sich in einer ‚überhöhten Erwartung an das Leben und der Menschen an sich selber' ausdrücke. Der Katalog, den er auflistet, kommt uns allen vertraut vor: ‚Mein Körper soll fit sein bis ins hohe Alter, mein Aussehen schön. Mein Beruf soll mich erfüllen. Meine Ehe soll ungetrübt und glücklich sein. Der Partner soll der beste Liebhaber sein und die Partnerin die beste Köchin. Die Erziehung der Kinder soll gelingen. Solche Totalitätserwartungen an eine Liebe programmieren ihr scheitern. So ist das Leben nicht.' Nein, so ist das Leben nicht!
Könnten wir doch aus der Einsicht in die wunderbaren Gedanken Fulbert Steffenskys jene Bescheidenheit gewinnen, die uns das Leben in vollen Zügen genießen lässt, und sei es noch so begrenzt. Zeigen uns nicht eben genau diese Grundhaltung so viele kranke, beeinträchtige und behinderte Menschen. Gnade denken heißt mit den Worten Steffenskys, den Mut zum fragmentarischen Handeln zu finden und so sagt er wörtlich: ‚Die meisten Ehen gelingen halb, und das ist viel. Meistens ist man nur ein halb guter Vater, eine halb gute Lehrerin, ein halb guter Therapeut. Und das ist viel. Gegen den Totalitätsterror möchte ich die gelungene Halbheit loben. Die Süße und die Schönheit des Lebens liegt nicht am Ende, im vollkommenen Gelingen und in der Ganzheit. Das Leben ist endlich, nicht nur weil wir sterben müssen. Die Endlichkeit liegt im Leben selber, im begrenzten Glück, im begrenzten Gelingen, in der begrenzten Ausgefülltheit. Hier ist uns nicht versprochen, alles zu sein. Souverän wäre es, die jetzt schon mögliche Güte des Lebens anzunehmen und zu genießen; das Halbe nicht zu ver-achten, nur weil das Ganze noch nicht möglich ist.'
Steffensky nimmt auf Paulus Bezug und stellt mit ihm fest: ‚Der Mensch ist, weil er sich verdankt.' Damit spricht Fulbert Steffensky in seiner kleinen Schrift ein Letztes an, das mich zutiefst angerührt hat und zu einem Grundmotiv meines Lebens zurückführt, und das ich eben auch Leo verdanke: ‚Die große Grundfähigkeit des Lebens ist der Dank. Der Dank lehrt uns das Leben zu lieben.' Und ich möchte an dieser Stelle für mich selbst hinzufügen: Für mein überreiches Leben danke ich, konkret, weil ich mich selbst so (über)lebensnotwendig verdanke: der ungewöhnlichen Liebe meiner Eltern, der Liebe meiner Frau und meiner Kinder, der Aufmerksamkeit und Wertschätzung die mir Leo in all den Jah-ren unseres gemeinsamen Weges entgegengebracht hat. In diesem Sinne möchte ich das letzte Wort Fulbert Steffensky lassen:
Ich zitiere ihn ein letztes Mal: ‚Der Dank lehrt uns das Leben zu lieben. Ich – das ist jetzt Fulbert Steffensky – erzähle eine persönliche Geschichte: Ich habe den dramatischen Zusammenbruch meiner Frau zehn Jahre vor ihrem Tod erlebt. Wir haben Wochen um ihr Leben gebangt. Dann erholte sie sich, langsam und vollständig. Sie und wir haben gelernt, dass das Leben Frist ist. Und dies gab unserem Leben eine neue Intensität. Wir lernten die Selbstverständlichkeiten des Lebens als große Gaben zu schätzen. Dass ein neuer Morgen kam, war nicht mehr selbstverständlich, das Lachen unserer Enkel und dass wir zusammen weiter leben durften, waren nicht mehr selbstverständlich. Der Alltag hatte einen neuen Glanz. Wir haben die Bäume anders gesehen, wir haben unsere Liebe intensiver erfahren, wir haben gelernt, was Brot und was Zeit ist. Wir haben die Gaben des Lebens als uns ungeschuldete und als unverdienbare kennen gelernt. Die Dankbarkeit ist wie eine neue Schöpfung der Dinge. Und auch der nach zehn Jahren erfolgte Tod meiner Frau hat diese Dankbarkeit nicht durchstreichen können. Wer weiß, dass er sich verdankt, ist des Lebens fähig, vielleicht auch des Sterbens.'
Danke Leo!
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Totenrede für Dr. Gerd Wayand – Koblenz, am 9. November 2012 (Dr. F.J. Witsch-Rothmund)
„Ins nackte Dasein geworfen, gehen wir ins immerwährende Nichts."
Mit diesem Sinnspruch, lieber Gerd, machst Du dich aus dem Staub, wirst Du zu Staub – das alleine wäre allerdings immer noch mehr als „Nichts". Einer der von Dir so verehrten und respektierten großen Franzosen – so wie Du erklärter Atheist – macht uns auf die paradoxen und unlösbaren Widersprüche aufmerksam, mit denen sich „Materialisten" – trotz aller vordergründiger Evidenz ihrer Position – konfrontiert sehen:
„Da das Nichts Nichts des Seins ist, kann es nur durch das Sein selbst ins Sein kommen. Und es kommt zum Sein gewiss nur durch ein besonderes Sein, nämlich die menschliche Wirklichkeit."
Über diesen Satz von Jean Paul Sartre und seine Auslegung („Das Sein und das Nichts, Frankfurt 19989, S. 131) hätten wir trefflich einen Donnerstagabend gestritten. Fast regelmäßig an Donnerstagabenden haben wir gestritten, uns mit Literatur- und Filmtipps versorgt, Bücher und DVDs ausgetauscht und vor allem gemeinsam getrunken. Das war ein Stück unserer gemeinsamen „menschlichen Wirklichkeit" in den letzten Jahren geworden.
Dies ist nun unwiederbringlich vorbei und es bleibt die Erinnerung. An-fang November 2011, nach Eröffnung der finalen Diagnose, hast Du im Dormonts an einem Donnerstagabend zu mir gesagt: „Du musst meine Totenrede halten!" Du wirst dir schon etwas dabei gedacht haben – habe ich mir gedacht – mich zu einem Deiner Trauerredner zu bestimmen, um ein erstes Zeichen der Erinnerung zu setzen. Jetzt wirst Du sehen bzw. die Anderen werden sehen, was Du davon hast:
Ich möchte den folgenden wenigen Erinnerungssplittern einen Rahmen geben. Eine zeitliche Spanne von fast 40 Jahren beginnt und endet mit der Leit-/Leidfigur Gerd Wayand; die Leitfigur, die 1974/75 (für mich) in Erscheinung tritt, schreibe ich mit hartem t und die Leidfigur, die seit November 2011 in Erscheinung getreten ist, schreibe ich mit weichem d.
Ich habe Dich – wie erwähnt – 1974/75 kennengelernt – als jenen smarten, charmanten, eloquenten, belesenen (Ver)Führer, der uns in seiner Wohnung (mit der schon damals beeindruckenden Bibliothek) eine gründliche Einführung in den „DiaMat" bzw. „HistoMat" und die Politische Ökonomie anbot. Nachdem wir 1976 die RCDS-Hochburg an der EWH-Koblenz geschliffen, AStA und STuPa fest in der Hand hatten, „gehörte" uns für viele Jahre die Rheinau mit der „Vorhölle" (der Studentenkneipe) und den Räumen der studentischen Selbstverwaltung. In der „Vorhölle" (damals ein paradiesischer Ort) tauchtest Du am frühen Nachmittag auf, und hast „Hof gehalten". Als politische und intellektuelle Autorität war Dein Rat gefragt und als der profilierteste Repräsentant einer – insbesondere sexuell pointierten – „Libertinage" hast Du einen Lebensstil demonstriert, der dem Zeitgeist ein besonderes Profil verlieh (ich glaube das war die Zeit – 1977/78 als du u.a. den dunkelblauen 635er CSI Alpina fuhrst). Du hattest die 30 bereits überschritten, Du warst beamteter Lehrer in Hessen mit Ambitionen auf eine akademische Karriere. In dieser Rolle warst Du eine prägende Leitfigur; Du hast eine ganze Generation politisch sensibilisierter und interessierter Studenten geprägt – mit einem besonderen Faible für das weibliche Geschlecht – auch darin warst Du uns partiell Lehrmeister und Konkurrent gleichermaßen.
Wenn ich nun springe – weit springe in die Zeit des intensiven Kontakts der letzten Jahre, dann trafen da Lebensentwürfe aufeinander, deren Gemeinsamkeit darin bestand, dass sie sich auf je unterschiedliche Weise der Patina des Alters im Sinne einer „resignativen Reife" stellten: vom Impetus der Weltveränderung zu der Martin Walser geschuldeten Betrachtungsweise des Alters: „Ich verändere nichts, aber alles verändert mich". Zugegeben – da gab es starke Nuancierungen: Du hast den Kapitalismus nicht nur studiert und kritisiert; du hast ihn auch geritten, gewissermaßen gerockt! Wie oft musste ich in den beginnenden Zeiten der internetfähigen Handys donnerstags abends die Kurse exotischer Aktien ermitteln, mit denen du – Kostolany gleich („Einer Frau und einer Aktie darf man nie nachlaufen, die nächste kommt bestimmt") – spekuliert hast und dein Portfolio eigensinnig und ohne Bankberater verwaltet hast.
Insofern warst Du nicht veränderungsresistent, sondern ungemein wandlungsfähig. Und meine anfängliche Versuchung, Dir wie dem Brechtschen „Herrn Keuner" zu begegnen, der erschrak als ihm ein Bekannter nach langjährigem Wiedersehen eröffnete: „Sie haben sich gar nicht verändert" relativierte sich eindrucksvoll.
Du bist nicht erschrocken! Warum auch? Deine Verankerung in der marxistischen Theorie und Philosophie à la Louis Althusser wies ein große Kontinuität auf – erweiterte sich aber ständig um ein beharrliches Eindringen in die abendländische Philosophie (Florian wird sicherlich einen Einblick in die Schwerpunkte Deines akademischen Wirkens in Marburg geben). So war immer für eine Menge Spannung gesorgt, wenn wir zusammenkamen, denn Differenzen schaffen Spannungen, die wir weidlich zelebriert haben.
Eine denkwürdige Nacht haben wir im Dormonts verbracht, als Du mit Rudi Krawitz die philosphiegeschichtliche Bedeutung Immanuel Kants diskutiert hast. Da warst Du – zwischen Louis Althusser und Michel Foucault – in Deinem Element, das hast Du undendlich genossen. Eher als Beobachter dieses Disputs habe ich Dir den Spitznamen „Der Leguan" gegeben: Einer alten Echse gleich – vom Leben und der Leidenschaft zur Theorie gezeichnet, bereitetest Du auf eine faszinierende Weise „züngelnd" – die Argumente deines Kontrahenten gewissermaßen sinnlich antizipierend – Deine jeweilige Gegenargumentation vor – in bester dialektischer Manier.
Mir hast Du gestattet, Dich zu amüsieren: Als ich Dich 2005 in einem meiner Bücher in die Schlüsselszene um Roland Barthes mit einem bescheidenen, aber prägnanten Auftritt hineinschrieb, hast Du Dich herzlich amüsiert – und Du hast mir diese Marotte verziehen.
Fortan haben wir – gemessen an Deinem bevorzugten und kultivierten Lebensstil als Städter – verrückte Sachen gemacht. Auf den Feldwegen – immer linksmoselanisch – haben wir Wanderungen unternommen, Du immer im Straßenanzug, mit Straßenschuhen. Auf diese Weise hast Du vor zwei Jahren noch – unter Überwindung teils 24%iger Steigungen durchs Mühlental bei Kattenes den Gipfel zur Kehrkapelle erklommen; ein Jahr bevor Du begonnen hast jenen Gipfel zu besteigen, der Dein finaler werden sollte.
Exakt ein ganzes Jahr von Deinem 66en bis zu Deinem 67en Geburtstag hat diese Anstrengung angedauert. Die Leitfigur der 70er Jahre ist verblasst und ist im Leiden des letzten Lebensjahres einer anderen, beeindruckenden Leitfigur gewichen:
Niemals hast Du uns tiefer und nachhaltiger beeindruckt als in diesen letzten 12 Monaten Deines Lebens. Ich weiß, dass Du Dich in den letzten Jahren verstärkt auch mit der Philosophie der Antike, insbesondere mit den großen Griechen beschäftigt hast. Nach Aristoteles hält der Tapfere dem Furchtbaren stand: „Das Furchtbarste ist aber der Tod" – so Aristoteles – und weiter: „Im echten Sinne also darf als tapfer bezeichnet werden, wer keine Furcht hat vor dem Tod." Seit Platon zählt die Tapferkeit zu den vier Kardinaltugenden. Und sollte ich jemanden benennen, der uns diese Kardinaltugend im Angesicht des Todes auf eine so unvergleichliche, tief beeindruckende und berührende Weise verkörpert hat, dann bist das heute Du ganz alleine: Gerd Wayand.
Du hast uns noch so viel mehr gezeigt, und ich wage es anzuknüpfen an einen gleichermaßen fruchtbaren Streit, den Du, Rudi und ich über Heideggers „Feldweg" geführt haben. Der endet mit dem Ausblick: „Spricht die Seele? Spricht die Welt? Gott? Alles spricht den Verzicht in das Selbe. Der Verzicht nimmt nicht. Der Verzicht gibt. Er gibt die unerschöpfliche Kraft des Einfachen. Der Zuspruch macht heimisch in einer langen Herkunft."
Ohne es zu wollen, vielleicht ohne es zu wissen, hast Du uns in Deinen letzten Lebensmonaten beschämt mit Deiner bescheidenen, für Dich vollkommen selbstverständlichen Gegenwart und ungemeinen Präsenz in unserer Mitte. Und deshalb haben wir Dir am vergangenen Mittwoch in Deinem Gedenken an der Kehrkapelle mit Hölderlin in leicht abgewandelter Form zugerufen – und ich möchte es hier an dieser Stelle wiederholen: „Im heiligsten der Stürme falle zusammen deine Kerkerwand. Und herrlicher und freier walle dein Geist ins unbekannte Land."
Über den Tod „wissen" wir Lebenden nichts, während Sterben und Trauer diesseitige soziale Phänomene sind, die wir mit Ritualen gestalten können. So danke Dir für Dein Vertrauen und die Ehre, heute hier sprechen zu dürfen, und für die Einladung ins Dormonts nach der Trauerfeier, wo wir so viele gemeinsame Stunden verbracht haben.
Herbert Gudjons: Die Gleichsetzung von körperlichem Ende und Tod im Zuge der Aufklärung und Säkularisierung war ein fataler Fehler... Leben sei mehr als körperliche Existenz. Unsere westliche Kultur habe keinen Raum mehr für ein Denken, nach dem der Tod nicht das Ende der geistigen Existenz des Menschen sei. Unsere Gedanken, unser Gedenken und die Totenrede sollen nahelegen, dass einiges für diesen Hinweis von Herbert Gudjons spricht.
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Zu einer Totenrede kommt man einerseits durch Verpflichtung und andererseits durch Ermächtigung: Die Verpflichtung zur Totenrede meines Schwiegervaters Leo Rothmund wurde mir zur Ehre, weil ich danken konnte für viele Ermöglichungen und eine besondere Beziehung zwischen Schwiegervater und Schwiegersohn. Die Ermächtigung zur Totenrede von Gerd Wayand war zuallererst Last und schließlich einer Herausforderung ein Stück des gemeinsamen Weges zum Anlass für die Würdigung eines guten Freundes zu nehmen.
Die Erinnerungen an die frühen Abschiede, die "gemäßen" und die zur "Unzeit" sind eigentlich immer präsent, und sie bilden die Wegmarken und Wendepunkte, an denen sich die grundlegenden Neuorientierungen gleichermaßen anbieten und auch aufzwingen. Ich erinnere mich an den "frühen" Tod meines Vaters, dessen finale Altersgrenze nur noch drei Jahre von meinem derezeitigen Lebensalter entfernt ist. Ich erinnere mich an die intensive Phase der (Sterbe-)Begleitung meiner Mutter, die einzige, die - neben meinen Großeltern mütterlicherseits - einen "gemäßen" Tod (in der Nähe des generationenspezifischen statistischen Mittels) erreicht hat. Ich erinnere mich an den zur Unzeit aus dem Leben gerissenen Bruder und den aus dem Leben "gegangenen" Freund aus Kinder- und Jugendtagen. Das Urmotiv für diesen BLOG speist sich aus diesen Erfahrungen, die immer mehr und immer konsequenter die oben erwähnte Mahnung Michel Montaignes nahelegen: "Glaubt ihr denn, ihre kämet nie dort an, worauf wir alle hinstreben!"
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Hier könnt ihr mein zweites Lyrikbändchen, "Die Mohnfrau", herunterladen. Neben Gedichten enthält das Buch weitere Variantionen existentieller Grundthemen, wie sie uns alle im Kontext von Freundschaft, Partnerschaft und Familie beschäftigen.
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Bert Hellinger: „Es gehört zu den Grundrechten des Menschen, dass er weiß, wer sein Vater und wer seine Mutter ist."
(Dies ist eine Auskopplung aus meinem Buch: Ich sehe was, was du nicht siehst – Komm in den totgesagten Park und schau, Koblenz 2002 – hinsichtlich der Literatur- und Quellenverweise empfehle ich auf die Buchpublikation unter „Eigene und fremde Bücher" zurückzugreifen)
Tagebuchauszug (2001):
Ich nähere mich an dieser Stelle einem Aspekt unserer Familiendynamik, von dem ich sage, dass er sich die längste Zeit meines Lebens – insbesondere mit dem Blick auf meine Kindheit und Jugend jeder Deutungssensibilität, ja mehr noch jeder Deutungsmöglichkeit entzogen hat. Erst nachdem mich meine eigenen Lebenskrisen für drei Jahre nach Heidelberg geführt hatten, holte ich die Dynamik in meiner Familie ein, so wie die Dynamik innerhalb meiner Familie mich gleichzeitig dabei wieder ein– und überholte. Im Rahmen meines Grundkurses in systemischer Familientherapie, den ich das Glück hatte bei Gunthard Weber in Wiesloch zu absolvieren, begegnete ich der von Bert Hellinger im Wesentlichen begründeten Methode des Familienstellens.
Weiterlesen: Jeder hat das Recht zu wissen, wer sein Vater und wer seine Mutter ist
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Identitätsentwicklung im intergenerativen Kontext – aufgezeigt am Beispiel der eigenen Familie (Anne Rothmund)
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Identität oder „Biographizität" – Biografieforschung und Identitätsentwicklung
aus der Perspektive Peter Alheits
1.1 Biographie als Konzept des Lernens in der Lebensspanne
1.2 Identität oder „Biographizität"
2. Erziehung als Formung des Lebenslaufs im Rahmen der Luhmannschen
Systemtheorie
2.1 Grundannahmen in der Lebenslauftheorie Niklas Luhmanns (vgl. ebd. S.266-270)
2.2 Grundannahmen im Kontext der Systemtheorie Niklas Luhmanns
3. „Hildes Geschichte" – Ein Interview mit meinem Vater
4. Fazit
Literatur- und Quellenverzeichnis
Identitätsentwicklung im intergenerativen Kontext – aufgezeigt am Beispiel der eigenen Familie (Anne Rothmund)
Einleitung
Die neuere Biografieforschung weist darauf hin, dass die (Re)Konstruktion des eigenen Lebens kein konsistenter, linearer Prozess ist, sondern ein „komplizierter Vorgang", der Diskontinuitäten und Veränderungen bewältigen müsse (vgl. Alheit 2010, S. 238). Durch eine knappe Bezugnahme auf aktuelle Forschungsansätze (Alheit/Brandt 2006; Alheit 2010; Luh-mann 1997, 2004) soll zunächst ein Referenzrahmen begründet werden, mit dessen Hilfe „Normalbiografien" im intergenerativen Kontext (re)konstruiert werden können. Im Mittelpunkt dieses Rekonstruktionsversuchs stehen Facetten der Biografie meiner Großmutter. Mein Vater hat sie in den letzten zwei Jahren auf der Grundlage intensiver Recherchen (re)konstruiert und im Rahmen einer eher ästhetisierenden Form als Erzählung entwickelt (Witsch-Rothmund 2013).
Positionen innerhalb des Diskurses um Ausrichtung und Grundorientierung der aktuellen Biografieforschung bilden dann auch die Basis für ein Interview, das ich mit meinem Vater um Motive, Probleme und Formen seiner Vorgehensweise geführt habe. Dabei war uns von Beginn an klar, dass die von Alheit im Anschluss an Luhmann betonte immense Bedeutung von „Selbstbezüglichkeit" von vorne herein allen „objektiven" Rekonstruktionsbemühungen im Wege stehen würde. Das Interview dient insofern einer „naiven Rekonstruktion" von Bemühungen um biografische Plausibilität und Konsistenz. Andererseits sollen aber auch die Grenzen dieses Vorhabens im Sinne von Peter Alheit thematisiert werden: „Es ist wichtig, ob ich eine Frau bin oder eine Mann... Ich bin Mitglied der ‚Kriegsgeneration', selbst wenn die Enkel mich als wohlsituierte Großmutter wahrnehmen. Die Spuren der ‚objektiven' Bedin-gungen, die mich geprägt haben, sind also keineswegs ausgelöscht. Aber die ‚Logik', durch die sie wirken, muss noch präziser beschrieben werden (Alheit 2010, S. 238)."
Für mich – als Enkelin – erweist sich diese, drei Generationen umfassende, biografische Rekonstruktion als besonders spannend und folgenreich, weil es um die ‚Logiken' und Bedingungen der jeweiligen Identitätsentwicklung (von Großeltern-, Eltern- und Enkelgeneration) geht.
1. Identität oder „Biographizität" – Biografieforschung und Identitätsentwicklung aus der Perspektive Peter Alheits
Peter Alheit betrachtet „die Organisation des sozialen Lebens" in modernen Gesellschaften grundlegend als Zumutung an den Einzelnen und folgt damit der Individualisierungshypothese Ulrich Becks. Auf diese Weise wird der gesamte Lebenslauf allerdings aus seiner Sicht zu einem eigenen Lernfeld: „Kaum eine Statuspassage des Lebenslaufs wird nicht von pädagogischen Maßnahmen flankiert (Alheit 2010, S. 219)." Lebensläufe verlieren nach Alheit ihre normative Kraft. Das Individuum werde zu einer Agentur selbstorganisierter Lernprozesse, deren Ergebnis eine jeweils unverwechselbare einzigartige, aber durchaus fragile Biografie darstellt. Die Biografieforschung rücke damit ins Zentrum vor allem des bildungswissenschaftlichen Diskurses (vgl. ebd., S. 219f.).
1.1 Biographie als Konzept des Lernens in der Lebensspanne
In der aktuellen, sozialisationsorientierten Biografieforschung steht nach Alheit der Doppelaspekt einer Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen bzw. der Ausbildung von Identität im Mittelpunkt. Er spricht von einer „Prozessperspektive", die Kindheit, Jugend, Beruf und Alter gleichermaßen thematisiere. Psychologische Ansätze befassten sich dabei mehr mit dem Individuum, während soziologische Konzepte eher die institutionellen bzw. strukturellen Aspekte in den Blick nehmen (vgl. ebd., S. 221f.). Aber erst die „soziologische Biographieforschung" habe weiterführende Perspektiven entwickelt. Ein neues „Leitparadigma" manifestiere sich – verbunden mit dem Einfluss von Ulrich Beck – in der „Individualisierungsdebatte". Seine These läuft darauf hinaus, dass die Individuen in der Moderne immer mehr zu „Zentren von Handlungen und Entscheidungen" würden (vgl. dazu Alheit ebd., S. 223). Damit steige auf Seiten der Individuen die Notwendigkeit zur Selbstregulation und zu einem höheren Maß an Selbstreflexivität. Vor allem die Bildungswissenschaften reagierten hierauf mit Konzepten eines „lebenslangen Lernens". Aus alledem resultiert als zentrale Frage, „wie aber die Subjekte mit dieser zunehmenden ‚Unsicherheit' umgehen (ebd., S. 225)?" Alheit selbst führt an dieser Stelle den Begriff der „Biographisierung" ein. Er biete den Vorteil, die „Integrations- und Identitätsleistung der Subjekte im lebensgeschichtlichen Prozess" greifbar zu machen:
„Mit dem Biographiekonzept wird jene Doppelheit... als eine biographische Prozessstruktur interpretierbar, als ‚biographischer Code', der die einmalige biographische Organisation von Erfahrungen im sozialen Raum als eine Temporalstruktur fasst... Die Verknüpfungslogik ist keine Kausalkette, sondern die narrativ rekonstruierbare Geschichte eines Falles, eine generative Struktur, die zugleich strukturiertes und strukturierendes Element im gesellschaftlichen Prozess ist... Biographien sind also immer beides zugleich: die besondere Lebensgeschichte einer Person und konkretes ‚Dokument' einer allgemeinen – kollektiv geteilten – gesellschaftlich-historischen Geschichte... Erzählte oder in anderen Medien und kommunikativen Formen repräsentierte ‚Lebensgeschichten' dokumentieren diese Dialektik am je konkreten Fall... mehr noch: die narrativ darstellbare Lebensgeschichte ist die entscheidende Ressource zum immer neu geforderten Prozess der Vergewisserung der eigenen Identität (ebd., S. 227)."
Für das Vorhaben, Biografie im intergenerativen Zusammenhang zu (re)konstruieren, erweist sich diese Sichtweise als vorteilhaft, weil im „biographischen Erzählen deutlich wird, dass die erzählende Person keine ein für allemal feststehende Identität besitzt, sondern fortwährend damit beschäftigt ist, Identität auf immer neuen Niveaus herzustellen (ebd., S. 229)." Alheit verweist im Fortgang darauf, dass es sinnvoll sei, den Identitätsbegriff als „Zustandsbeschreibung" durch das „offenere Prozesskonzept Biographie" zu ersetzen. Auf diese Weise würden Biographien als „innere (Sinn)Struktur" beschreibbar, die Identität „als ein generatives Erzeugungsprinzip in einer Zeitperspektive" aufzeige.
Im Zusammenhang mit dem oben angezeigten Vorhaben („Hildes Geschichte") müsste man das „generative Erzeugungsprinzip" in eine Mehrgenerationenperspektive einordnen; vor allem weil in den letzten 80 Jahren – vom Beginn des „Dritten Reiches" an bis zu dem, was in Moderne und Postmoderne ausmündet – der jeweilige gesellschaftliche Referenzrahmen einen dynamischen (Werte)Wandel offenbart.
1.2 Identität oder „Biographizität"
Dass vor allem von Niklas Luhmann in die Soziologie eingeführte Paradigma der Selbstreferentialität/Selbstbezüglichkeit greift Alheit auf, indem er darauf hinweist, dass der „Widerspruch" eines generalisierbaren Identitätsgefühls mit der „Trivialität erzwungener Veränderungen" sich konzeptionell dadurch „heilen" lasse, „dass die Außeneinflüsse offensichtlich niemals ‚als solche', sondern immer schon als Aspekte aufgeschichteter Erfahrungen wahrgenommen werden" (ebd., S. 238). Alheit versucht dieses Paradigma in seine Vorstellung „biographischer Konstruktion" einzuführen, indem er darauf hinweist, dass man sich diese „nun durchaus nicht als ein Gefängnis" vorstellen solle, sie sei eben kein „hermetisch-geschlossenes System". In ihr verkörpere sich vielmehr „außerordentlich plastisch die Verarbeitungsstruktur einer nach außen offenen Selbstrefentialität", die Außeneinflüsse mit der ihr eigenen Logik wahrnehme, gewichte, ignoriere und vereinnahme, und die sich in diesem Prozess selbst verändere (vgl. ebd., S. 239).
Alheit verfolgt diese Perspektive weiter, indem er das Oszillieren zwischen „Innenwelt und Außenwelt" nicht nur als jeweils spontane Konstruktion auffasst, die unser Gedächtnis als Reaktion auf neue Außenimpulse erzeuge, um damit Kontinuität und Konsistenz zu bewahren. Er regt vielmehr an, entsprechende Konstruktionen als „biographische Temporalisierung sozialer Strukturen" zu begreifen (vgl. ebd.). Genau in diesem Sinne geht er weiter davon aus, dass „biographische Konstruktionen keine abgeschlossenen Entitäten" seien: „Ihr Charakter ist ‚transitorisch' (ebd.)."
Dies erweise sich zumal in biographischen Krisen als überlebensnotwendig:
„Wir kennen nämlich Situationen, in denen uns der Anschluss neuer Erfahrungen misslingt. Wir können eine Anforderung, die man an uns stellt, oder ein Verhalten, mit dem wir unerwartet konfrontiert werden, nicht mehr einordnen. Es irritiert uns. Es fehlt uns das Instrumentarium, damit umzugehen. Wir fühlen uns überfordert. Die Dinge wachsen uns – alltagssprachlich ausgedrückt – ‚über den Kopf'. Wir mögen das Gefühl nicht loswerden, dass wir ‚gegen unsere Zeit' leben... Oder wir spüren einfach, dass die Bedingungen, unter denen wir unser Leben fristen müssen, uns keinen Spielraum mehr lassen. Vielleicht überfällt uns aber auch ein ganz gegenteiliges Gefühl: dass sich uns nämlich völlig neue ‚Welten' auftun, dass wir eine qualitativ neue Erfahrung gemacht haben, die unser künftiges Leben verändern wird. Alles deutet darauf hin, dass sich hinter den alltäglichen Erfahrungen eine ‚Logik' verbirgt, die unser ganz persönliches Leben betrifft. Zwischen ‚Außenwelt' und ‚Innenwelt' entstehen biographische Konstruktionen (ebd., S. 240)."
Alheit fasst nun diese „transitorische Qualität" unter dem Begriff der „Biographizität" zusammen. Damit meint er die prinzipielle Fähigkeit, Anstöße von außen auf eigensinnige Weise zur Selbstentfaltung zu nutzen, „also (in einem ganz und gar ‚unpädagogischen' Sinn) auf eine nur uns selbst verfügbare Weise zu lernen". In dem, was er die „Biographizität des Sozialen" nennt, nähert er sich einem systemtheoretischen Verständnis von „Selbstrefentialität" an: „Das bedeutet, dass wir Soziales tatsächlich nur selbstreferentiell ‚haben' können – dadurch dass wir uns auf uns selbst und unsere Lebensgeschichte beziehen. Diese Einsicht des radikalen Konstruktivismus bleibt ein intellektuelle Provokation von beträchtlichem theoretischem Reiz (ebd., S. 241)." Biographien werden in diesem Sinne von Alheit verstanden als lernende Aktionszentren, deren Wandlungs- und Anpassungschancen durch die je eigenen biographischen Erfahrungs-ressourcen zwar begrenzt, aber doch niemals prognostizierbar seien: „Ein biographietheoretisch aufgeklärtes Identitätskonzept hat die Beziehung von Selbst und Welt zum Gegenstand – und diese Beziehung ist ein lebenslanger Lernprozess (ebd., S. 241)." „Nur wenn konkrete Menschen sich derart auf ihre Lebenswelt beziehen, dass ihre selbstreflexiven Aktivitäten gestaltend auf soziale Kontexte zurückwirken, ist jene moderne Schlüsselqualifikation ‚Biographizität' berührt... Biographizität bedeutet, dass wir unser Leben in den Kontexten, in denen wir es verbringen (müssen), immer wieder neu auslegen können, und dass wir diese Kontexte ihrerseits als ‚bildbar' und gestaltbar erfahren. Wir haben in unserer Biographie nicht alle denkbaren Chancen, aber im Rahmen der uns strukturell gesetzten Grenzen stehen uns beträchtliche Möglichkeitsräume offen. Es kommt darauf an, die ‚Sinnüberschüsse' unseres biographischen Wissens zu entziffern und das heißt: die Potenzialität unseres ‚ungelebten Lebens' wahrzunehmen (ebd. S. 243)."
Es lohnt an dieser Stelle abschließend, einen zuletzt von Alheit hervorgehobenen Hinweis aufzugreifen, mit dem er auf die aus der Psychoanalyse bzw. aus der humanistischen Psychologie (Rogers u.a.) – abgeleitete Idee „ungelebten Lebens" verweist. Der letzte Satz seiner Ausführungen greift dieses zentrale Motiv noch einmal auf: „Der tiefe (philosophische) Wunsch in uns allen, zu werden, was man ‚eigentlich' ist, macht das Projekt Identität keineswegs nur theoretisch, sonder auch praktisch zu einer überzeugenden Perspektive. Dies impliziert indessen eine Einsicht in die Biographizität moderner Existenz, in das transitorische Potenzial einer lebenslangen Veränderung der Selbst- und Weltreferenz (ebd.)."
2. Erziehung als Formung des Lebenslaufs im Rahmen der Luhmannschen Systemtheorie
Auch Niklas Luhmann geht von der Schwierigkeit aus, in der modernen Gesellschaft eine Antwort auf die Frage zu finden: „Wer bin ich (Luhmann 2004, S. 266)?" Vor allem stimmt er mit Alheit darin überein, dass Identitätskonzepte hier nur unbefriedigende Antworten geben:
„Aber auch ‚Identität' ist ein unzureichendes Konzept, denn identisch ist man sowieso und kann auch nicht noch identischer werden, als man ohnehin ist. Der Begriff... enthält keinen Platz für eine offene Zukunft, und wenn er trotzdem als noch unbestimmt interpretiert wird, wird sein semantischer Gehalt überfordert (ebd.)."
Im Gegensatz zu Peter Alheit geht es Niklas Luhmann nicht um die „Schlüsselqualifikation Biographizität". Sein Interesse als Soziologe konzentriert sich vielmehr auf die Frage, ob es ein Medium gebe, in dem sich – gleich auf wen sie sich beziehen, ob auf Kinder oder Erwachsene – die Wirkungen von Erziehung und Bildung beobachten lassen. An dieser Stelle bietet sich für Niklas Luhmann der Begriff des Lebenslaufs an: „Im Unterschied zu ‚Biographie' enthält er eine noch nicht beschriebene Seite (ebd.)."
2.1 Grundannahmen in der Lebenslauftheorie Niklas Luhmanns (vgl. ebd. S.266-270)
Den Lebenslauf versteht Niklas Luhmann:
- als allgemeinstes Medium des Erziehungssystems mit sehr unterschiedlichen Aus-prägungen: „Ein Lebenslauf ist der Lebenslauf jeweils eines Individuums, also ein anderer als der jedes anderen Individuums (ebd. S. 268)."
- als eine Beschreibung, die während des Lebens angefertigt und bei Bedarf revidiert wird und die die vergangenheitsabhängige, aber noch unbestimmte Zukunft einschließt;
- als eine Integrationsleistung von Nichtselbstverständlichkeiten.
Niklas Luhmann fasst den Lebenslauf als eine „rhetorische Leistung" auf, (als eine Erzählung)
- „dessen Komponenten aus Wendepunkten bestehen, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen". Insofern ist der Lebenslauf aus seiner Sicht eine Form für die „unaufhebbare Kontingenz der Geschehnisse des Lebens" (ebd. S.270). Die angebotene Definition ist gleichzeitig eine Definition für den Begriff der „Kontingenz" – exemplarisch angewendet auf den Lebenslauf.
So wird bereits die Geburt von Niklas Luhmann als „extrem unwahrscheinlicher Zufall" verstanden: „Deshalb muss sie erwähnt werden. Alle weiteren Ereignisse schließen sich an. Einerseits gilt: wäre man nicht geboren, wäre es nicht zu einem beschreibbaren Lebenslauf gekommen. Andererseits gilt, dass damit so gut wie nichts festgelegt ist. Das Muster wiederholt sich von Ereignis zu Ereignis: Immer gewinnt etwas Bestimmtes Form. Man erhält einen Namen, lernt seine Eltern kennen (oder nicht), lässt sich durch dieses oder jenes beeindrucken, arbeitet sich spielend in die Welt hinein, beginnt eine Karriere mit der Erfahrung von Erfolgen und Misserfolgen und schiebt mit alldem eine noch nicht bestimmte Zukunft vor sich her (ebd. S. 267)."
- „Ob aufgeschrieben oder nicht, man vergisst und erinnert, füllt und entleert sein Gedächtnis, um Kapazitäten für neue Operationen und vor allem für Unvorhergesehenes zu gewinnen (ebd. S268)." Vor allem die Vergangenheit ist nach Luhmann nicht ein für allemal gegeben:
- Vielmehr führe der Lebenslauf mit neuen Lagen immer auch zu einer Neubeschrei-bung seiner Vergangenheit: „Nach der Scheidung findet man sich wieder als jemand, der das erreicht hatte, was er gewünscht hatte, und dann einsehen musste, dass es nicht so gut war, wie er gedacht hatte (ebd. 269)."
Nach Niklas Luhmann „ist der aus Wendepunkten bestehende Lebenslauf „einerseits ein Medium im Sinne eines Kombinationsprogramms von Möglichkeiten und andererseits eine von Moment zu Moment fortschreitende Festlegung von Formen, die den Lebenslauf vom jeweiligen Stand aus reproduzieren, indem sie ihm weitere Möglichkeiten eröffnen und ver-schließen (ebd. 270)."
Im Weiteren setzt sich Niklas Luhmann mit der Frage nach einer „Begründbarkeit" oder auch der „Teleologie" von Lebensläufen auseinander. Seiner Auffassung nach kann ein Lebenslauf nicht begründet, sondern nur „erzählt" werden: „Streng genommen kann er nicht begründet werden. Wollte man nur die Ziele und Erfolge hervorheben, wäre sofort einsichtig, dass etwas verschwiegen wird (ebd. 268)." Gleichermaßen verwirft er jede Vorstellung einer teleologischen Struktur. Zwar geht er davon aus, dass das Medium des Lebenslaufs keines-wegs „amorph" sei, auch wenn es unabsehbar Vieles und vor allem Unerwartetes zulasse. Es könne sich immer nur um den Lebenslauf nur eines Individuums handeln. Jeder Lebenslauf sei ein „Unikat", also „das Ergebnis eines einmaligen Formfindungsprozesses (ebd. S. 269f.)". Dabei eröffneten in der modernen Gesellschaft „zunehmende Freiheitsgrade" sowohl Wahlmöglichkeiten als auch den Zwang ständig neue Kompromisse zu finden zwischen Kontinuität und Diskontinuität. Auf diese Weise erfülle die „Beschreibung" Lebenslauf eine grundlegende „Sinnfindungsfunktion", die nach Luhmann immer einhergeht mit dem Versuch über sogenannte „Inkonsistenzbereinigungsprogramme" mögliche Widersprüche in einem erträglichen Rahmen zu halten (vgl. ebd. S. 270).
2.2 Grundannahmen im Kontext der Systemtheorie Niklas Luhmanns
Am Ende seines Aufsatzes „Identität oder ‚Biographizität'?" weist Peter Alheit darauf hin, dass „'Autopoiesis' (Niklas Luhmann)" im Alltag viel verbreiteter sei, als wir ahnten. Luhmann selbst hat in seinem Aufsatz „Selbstreferentielle Systeme" (Frankfurt 1997a) den von Humberto Maturana und Francisco Varela eingeführten Begriff der „autopoietischen Systeme" in den Mittelpunkt seiner theoretischen Bemühungen gerückt: „Dieser Begriff bezeichnet Systeme, die die Komponenten, aus denen sie bestehen, durch das geschlossene Netzwerk eben dieser Komponenten selbst produzieren und reproduzieren. Sie bestehen aus selbst produzierten Elementen und sind durch eine rekursiv-geschlossene Organisation gekennzeichnet (ebd. S. 70)." Luhmann argumentiert, dass die damit verbundenen neuartigen Einsichten über „selbstreferentielle Geschlossenheit" eine völlig ungewohnte Perspektive für die Beschreibung von System-Umwelt-Verhältnissen nahelegen:
„Nimmt man dafür drei verschiedenartige Grundoperationen an, nämlich Leben, Bewusstsein und Kommunikation, muss man von ganz verschiedenartigen sich selbst reproduzierenden Systemen ausgehen, die füreinander Umwelten sind und füreinander nur Rauschen erzeugen (ebd. S.70f.)."
Am Beispiel der folgenden, eher trivialen Einsichten („Aber wissen wir das nicht sowieso?") lässt sich konkret darlegen, was Niklas Luhmann mit der Unterscheidung von biologischen, psychischen und sozialen Systemen meint. Für (s)ein Bild vom Menschen erweisen sich diese Unterscheidungen als extrem folgenreich: „Was bemerkt das Bewusstsein schon vom Leben seines Körpers? Und wie wenig Bewusstseinsinhalte lassen sich in das geschlossene Netzwerk der sozialen Kommunikationen überführen! Kommunikationen lassen sich nur durch Kommunikationen reproduzieren; bewusste Gedanken nur durch bewusste Gedanken; und das Leben lebt sein Leben, ohne dass ihm Bewusstsein oder Kommunikation hinzugefügt werden könnte. Die im geschlossenen Netzwerk reproduzierten Elementareinheiten sind anschlussfähig nur an Elementareinheiten des gleichen Netzwerkes. Kein Lebensvorgang ist jemals Bewusstseinsakt oder Kommunikation; aber auch keine Kommunikation ist jemals ein Akt der Reproduktion von Bewusstsein, geschweige denn ein Moment der Autopoiesis des Lebens (ebd. S. 71)."
Ein auf dieser Grundlage entwickeltes System-Umwelt-Verständnis hat Luhmann z.B. zu den umstrittenen Aussagen veranlasst, dass „ein soziales System nicht denken und ein psychisches System nicht kommunizieren kann" (vgl. Luhmann 1997b, S. 28): „Der Ansatz betont die Differenz von psychischen und sozialen Systemen. Die einen operieren auf der Basis von Bewusstsein, die anderen auf der Basis von Kommunikation (ebd.)."
Für Niklas Luhmann ist diese Unterscheidung fundamental. Gedankliche Prozesse – Wahrnehmungsprozesse bleiben zunächst ein psychisches Ereignis ohne kommunikative Existenz. Innerhalb des kommunikativen Geschehens sind sie folgerichtig auch nicht anschlussfähig, denn wir können weder wissen noch nachvollziehen, was ein anderer denkt. Sie bleiben im Bewusstsein verschlossen und für das Kommunikationssystem ebenso wie für jedes andere Bewusstsein intransparent. Sie können natürlich externer Anlass werden für eine nachfolgende Kommunikation (vgl. ebd. S. 22): „Beteiligte können ihre eigenen Wahrnehmungen und die damit verbundenen Situationsdeutungen in die Kommunikation einbringen; aber dies nur nach den Eigengesetzlichkeiten des Kommunikationssystems, zum Beispiel nur in sprachform, nur durch Inanspruchnahme von Redezeit, nur durch ein Sichaufdrängen, Sichsichtbarmachen, Sichexponieren – also nur unter entmutigend schwierigen Bedingungen (ebd.)."
1986, im Rahmen einer Tagung zur Frage von „Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie, hat Niklas Luhmann „das wechselseitige Rauschen, Stören, Perturbieren" von psychischen und sozialen Systemen als den „Normalfall" von Kommunikation beschrieben (vgl. ebd. S. 30f.) Die „entmutigend schwierigen Bedingungen", die diesen alltäglichen „Normalfall" von Kommunikation fundieren, halten wir sowohl als „psychische Systeme" wie auch als Teilnehmer an Kommunikation „im Normalfall" aus – wir kommen damit mehr oder weniger klar. Hingegen entsteht nach seiner Auffassung "der Eindruck des Pathologischen erst, wenn gewisse Toleranzschwellen überschritten sind, oder vielleicht könnte man auch sagen: wenn die Gedächtnisse der Systeme hierdurch in Anspruch genommen werden und Störungserfahrungen speichern... und mehr und mehr Kapazität dafür in Anspruch nehmen (ebd. S. 31)." Die mit einem solchen Verständnis von „Selbstreferentialität" und „Autopoiese" sichtbar werdenden Grenzen für jede Form der Selbstrepräsentation (z.B. bei den Bemühungen um autobiografische ReKonstruktionen) hat Dieter Lenzen in einer bemerkenswerten Formulierung zusammengefasst: „Jede Form der Repräsentation von Außenwelt ist immer eine bestimmte Form der Selbstrepräsentation."
Damit ist „Autopoiesis" nicht – wie Peter Alheit meint – „im Alltag viel verbreiteter, als wir ahnen". Sie ist offenkundig eine unaufhebbare conditio sine qua non (auch für jegliche Formen der Biografiearbeit).
Dieser Annahme wollen wir auch im folgenden Interview nachgehen.
3. „Hildes Geschichte" – Ein Interview mit meinem Vater
Anne: Ich habe „Hildes Geschichte" über die Weihnachtszeit gelesen, und diese Geschichte hat mich (emotional) sehr bewegt. Ich weiß, dass du lange daran gearbeitet hast und während der letzten zwei Jahre fast ein Geheimnis daraus gemacht hast. Was waren und sind deine Motive für diese intensive Auseinandersetzung?
Papa: Da müsste ich jetzt sehr weit ausholen. Zunächst einmal nur so viel, dass die „Geheimnisse", die mit „Hildes Geschichte" verbunden sind, unsere Familie – da geht es jetzt um meine Herkunftsfamilie, also deine Großeltern väterlicherseits – schon seit vielen Jahrzehnten beschäftigen. Deine Tante Ulla, meine Schwester, ist 10 Jahre älter als ich. Sie ist am 5. Juni 1942 geboren worden. Da war deine Oma Hilde eine junge, siebzehnjährige Frau. Ulla hat mit zunehmendem Alter, als ihr klar war, dass mein Vater und der Vater deines Onkels nicht ihr (biologischer) Vater war, Genaueres erfahren wollen über ihre eigene Herkunft, also vor allem, wer ihr Vater ist.
Anne: Aber hätte sie da nicht einfach die Oma fragen können!
Papa: Das hat sie ja versucht. Aber Oma hat sich anfangs, das war 1988, als dein Opa gestorben war, vollkommen verweigert. Sie hat darüber nicht reden wollen und deine Tante teils recht unwirsch zurückgewiesen.
Anne: Warum hat sie das deiner Meinung nach getan?
Papa: Das ist eine Frage, über deren Antwort wir nur spekulieren können. Und in meiner Erzählung stelle ich deiner Großmutter selbst diese Frage – eingebettet in eine ganze Fragebatterie, mit der ich sie – sozusagen posthum – darum bitte bzw. sie nötigen will, uns dies zu erklären. Es gibt dafür „natürlich" eine ganz naheliegende Erklärung, auf die viele Psychoanalytiker (das Ehepaar Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern), aber aktuell auch viele Wissenschaftler oder auch Filmemacher zurückgreifen. Nico Hofmann (der Produzent von „Unsere Mütter, unsere Väter") und Götz Aly (ein Historiker – „Die Belasteten") sprechen in einem Interview mit der ZEIT von der „Vereisten Vergangenheit": Es ist wohl eine Mischung aus Scham, Schuld und konsequenter Verdrängung der Vergangenheit, die unsere Eltern- und eure Großelterngeneration erst in die Lage versetzt hat, das Trauma des Krieges hinter sich zu lassen und die Wirtschaftswunderwelt aufzubauen.
Anne: Und wie ist dann „Hildes Geschichte" entstanden? Welcher Hilde begegne ich denn in deiner Erzählung? Und wie bist du überhaupt selbst ins Spiel gekommen?
Papa: Es hat mehr als zehn Jahre gedauert, bis deine Tante das Geheimnis ihrer Herkunft lüften konnte. Deine Großmutter hat sich erst spät und nach und nach geöffnet und ihrer Tochter, deiner Tante, wenigstens den Namen ihres Vaters genannt. Sie hat ansonsten erklärt, dass sie alle Dokumente (Briefe und Fotos vor allem) schon 1942 ver- nichtet hat, nachdem sie erfahren hatte, dass der Vater ihrer Tochter bereits verheiratet war, eine Familie und schon einen Sohn hatte. Es hat nach der Geburt deiner Tante keinerlei Kontakt mehr gegeben zwischen deiner Großmutter und Ullas Vater. In die Geburtspapiere hat sie eintragen lassen: „Vater unbekannt", und über den Verbleib, das weitere Schicksal von Franz Streit – das ist der Name von Ullas Vater – hat sie keinerlei Informationen gehabt, bis zu dem Tag, als Ulla endlich an das Ziel ihrer Bemühungen gelangt ist. Aber keiner hat diese Geschichte „wirklich erzählt". In mir ist das Bedürfnis immer stärker geworden, irgendwie verstehen zu können, wie das alles zusammenhängt.
Anne: Was davon hat die Oma denn noch erlebt?
Papa: Deine Oma hat die beiden Söhne, also die Brüder von Ulla, noch kennengelernt. Sie hat erst 60 Jahre nach der Geburt ihrer Tochter erfahren, dass Franz Streit ein gutes Jahr nach der Geburt seiner Tochter in Russland gefallen ist. Und sie hat sich vor allem – nach Jahrzehnten der Verdrängung und der Sprachlosigkeit – mit ihrer eigenen Geschichte und auch mit ihrer Tochter noch aussöhnen knnen.
Anne: Aber worauf beruht denn deine „biografische (Re)Konstruktion"? Was an dieser Geschichte ist „erfunden" und was ist über „harte Daten und Fakten" verbürgt?
Papa: Die Daten – Geburtstage, Todestage – sind selbstverständlich „amtlich" verbürgt. Die Geschichte des „Kennenlernens", diese sonderbare, verrückte Liebesgeschichte, der deine Tante ihr In-die-Welt-Kommen verdankt, sind ebenfalls im Kern verbürgt – und zwar von deiner Großmutter selbst. Auf die Frage deiner Tante, wie denn ihr Vater ausgesehen habe, hat sie ihr z.B. geantwortet, sie solle in den Spiegel schauen und vor allem: Sie würde schon verstehen, was damals geschehen sei, wenn sie einmal ein Foto ihres Vaters in Händen halten würde. Mir hat sie – du weißt, dass ich sie in den letzten Jahren ihres Lebens regelmäßig einmal in der Woche, immer mittwochs, besucht habe – anvertraut, dass sich die Geschichte in Remagen so zugetragen hat, wie ich sie geschildert habe, nicht in allen Einzelheiten, aber in den Grundzügen – und vor allem als „Liebesgeschichte".
Anne: Aber wie konntest du das in dieser Weise tun. Man hat ja den Eindruck, dass du dich in deine eigene Mutter hineinversetzt, in ihre Gefühlswelt, in ihre Nöte und Bedrängnisse, aber auch in die Gefühlswelt einer jungen, verliebten Frau.
Papa: In „Hildes Geschichte" bedanke ich mich zum Schluss (S.313f.) bei allen, die mich un- terstützt und ermuntert haben; vor allem bei deiner Mutter. Sie hat mir Weihnachten 2011 zur „Initialzündung" verholfen, indem sie gemeint hat, ich solle mir diese junge Frau um Gottes Wollen doch nicht ständig als meine Mutter vorstellen. Diese junge Frau sei 1941 Galaxien davon entfernt gewesen, meine Mutter zu werden. Von da an lief es „wie am Schnürchen". Auf der anderen Seit hatte ich ein sehr innige, intensive Bindung an deine Großmutter, so dass ich glaube mich sehr gut in sie hineinversetzen zu können.
Anne: Als Mann in eine junge Frau???
Papa: Ja, das klingt verrückt. Und ich vermute, dass mir das jetzt erst im Alter möglich ist – sicherlich aus vielen Gründen: Ich habe mich schon von Jugend an für die Zeit des Nationalsozialismus interessiert und habe viel darüber gelesen. Die näheren Lebensumstände, sozusagen das Herkunftsmilieu deiner Großeltern, sind mir auf eine merk-würdige Weise besonders vertraut, weil deine Oma und dein Opa ja als Nachbarskinder, Hausbacke an Hausbacke und Garten an Garten groß geworden sind. In diese eher singuläre Ausgangslage bin ich selbst – ebenso wie dein Onkel – hineingeboren worden. Mir sind also Umgebung und Lebensumstände von Kind an vertraut gewesen. Das „Einfühlen" in die besondere Lebenssituation deiner Großmutter bezieht sich einerseits auf das Nachvollziehen des sozialen, kulturellen und wertemäßigen Umfelds, das ein junger Historiker, Sönke Neitzel, den „historischen Referenzrahmen" nennt. Andererseits war ich selbst überrascht davon, wie sehr mich diese hochdramatische Geschichte eines 17jährigen Mädchens im katholischen Rheinland – in einem ausgesprochen „bildungsfernen Milieu" – gepackt hat, wie sehr ich „mitgelitten" habe.
Anne: Peter Alheit spricht in seinen Ausführungen an einer Stelle von der besonderen Bedeutung „biographischer Krisen" und davon, dass wir „Außeneinflüsse mit der ihr eigenen ‚Logik' wahrnehmen, gewichten, ignorieren und vereinnahmen", und dass wir uns in diesem Prozess selbst verändern. Beschreibst du in deiner Erzählung nur „Hildes Geschichte" oder hat das auch etwas mit dir zu tun?
Papa: Als wir über den Aufsatz von Peter Alheit gesprochen haben, fanden wir seine Hin-weise sehr überzeugend, dass unser „biographischer Habitus durch die Tatsache geprägt wird, dass wir in einem bestimmten Milieu aufwachsen". Die Milieus, aber noch sehr viel mehr die Bindungen an Vater und Mutter prägen unsere Möglichkeiten, unsere jeweilige Identität – oder zumindest das, was wir dafür halten – in einem intergenerativen Kontext zu begründen und zu reflektieren: „Ich bin Mitglied der ‚Kriegsgeneration', selbst wenn meine Enkel mich als wohlsituierte Großmutter wahrnehmen", zitiert Alheit eine Frau aus der Generation deiner Großeltern und meiner Eltern. Eine „apokalyptische" Krise, wie sie deine Großmutter als siebzehnjährige junge Frau erlebt, die schwanger wird und damit gegen alle Prinzipien und Werte ihrer Zeit und ihres Herkunftsmilieus verstößt, und die vor allem damit ihre gesamte Existenz aufs Spiel setzt, die – zumindest für eine Zeit – das Gefühl von Geborgenheit und Zugehörigkeit verliert, und die dennoch Lösungen findet; eine Krise solchen Ausmaßes und solcher Bedrohungsqualität habe ich selbst vermutlich nicht erlebt. Ich habe versucht, die Bedingungen zu sehen, unter denen sich all dies 1941/42 und darüber hinaus zugetragen hat. Peter Alheit spricht von der „Logik der objektiven Bedingungen", die keineswegs ausgelöscht seien und um deren Beschreibung man sich bemühen müsse.
Anne: Es gibt eine Stelle bei Peter Alheit, die mich bei all den komplizierten Ausführungen in seinem Aufsatz sehr überzeugt: „Wir kennen nämlich Situationen, in denen uns der Anschluss neuer Erfahrungen misslingt. Wir können eine Anforderung, die man an uns stellt, oder ein Verhalten, mit dem wir unerwartet konfrontiert werden, nicht mehr einordnen. Es irritiert uns. Es fehlt uns das Instrumentarium, damit umzugehen. Wir fühlen uns überfordert. Die Dinge wachsen uns – alltagssprachlich ausgedrückt – ‚über den Kopf'. Wir mögen das Gefühl nicht loswerden, dass wir ‚gegen unsere Zeit' leben... Oder wir spüren einfach, dass die Bedingungen, unter denen wir unser Leben fristen müssen, uns keinen Spielraum mehr lassen. Vielleicht überfällt uns aber auch ein ganz gegenteiliges Gefühl: dass sich uns nämlich völlig neue ‚Welten' auftun, dass wir eine qualitativ neue Erfahrung gemacht haben, die unser künftiges Leben verändern wird. Alles deutet darauf hin, dass sich hinter den alltäglichen Erfahrungen eine ‚Logik' verbirgt, die unser ganz persönliches Leben betrifft. Zwischen ‚Außenwelt' und ‚Innenwelt' entstehen biographische Konstruktionen."
Papa: „Der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen." Ich glaube, du kannst diesen Satz von Niklas Luhmann nicht mehr hören, weil ich ihn bei jeder Gelegenheit immer wieder zitiere. Peter Alheit betont die Bedeutung „biographischer Krisen"; Niklas Luhmann spricht von der „unaufhebbaren Kontingenz der Geschehnisse des Lebens". Ich muss an der Stelle ehrlich gestehen, dass mich bis heute immer wieder ein existentieller Schwindel ergreift, wenn ich darüber nachdenke, wie absurd und vollkommen unwahrscheinlich die drei Wochen der Begegnung deiner Großmutter mit Franz Streit, dem Vater von Ulla, meiner Schwester und deiner Tante, aus dem Fluss unserer Biographien herausragen. Ohne dieses verrückte Ereignis „gegen die Zeit", gegen alle Vernunft, gegen alle herrschende Moral, wäre – wenn man das filigrane Geflecht von „Zufällen" und Ereignissen auch nur ansatzweise zu erahnen beginnt – unser aller Existenz – so zumindest niemals zustande gekommen!
Anne: Aber das ist doch jetzt pure Vermutung und nichts als Spekulation. Dafür kannst du doch nicht wirklich Fakten oder überzeugende Argumente vorbringen!?
Papa: Ich schließe mich der Überzeugung Niklas Luhmanns an, dass man einen Lebenslauf nicht begründen, sondern nur erzählen kann. Diese Erzählung gestattet mir – mit einem Abstand von 70 Jahren zu den Ereignissen – wenigstens eine Ahnung davon zu bekommen, was eigentlich geschehen wäre, wenn z.B. Franz Streit nicht verheiratet gewesen wäre und vor allem (und außerdem), wenn er nicht im Krieg gefallen wäre. Die Bedingungen für das, was sich in den Nachkriegsjahren ereignet hat, dass vor allem deine Großmutter und dein Großvater tatsächlich zusammengekommen sind und eine Familie begründet haben, sind nicht wirklich zwingend und hätten leicht einen anderen Verlauf begünstigen können.
Anne: Aber rückblickend sind die Geschehnisse eines Lebenslaufs letztendlich doch zwingend: Du und deine Geschwister sind geboren worden, deine Kinder, deine Nichten und Neffen sind geboren worden! Was bedeutet „Hildes Geschichte" für ihre eigene Entwicklung, für euch, ihre Kinder und für uns, ihre Enkelinnen und Enkel?
Papa: Peter Alheit spricht an einer Stelle davon, dass wir die „Sinnüberschüsse unseres biographischen Wissens" entziffern müssen. Ich glaube ganz sicher, dass es eine starke (intergenerative) Linie gibt, die man vielleicht mit der Idee einer starken „Resillienz" auf den Begriff bringen kann: Deine Oma hat sich „gegen ihre Zeit" für eine uneheli-che Schwangerschaft entschieden, hat sich als alleinerziehende Mutter wieder zurückgekämpft in ein nicht allzu freundliches Umfeld; in ihrer Tochter ist ihr letztlich die gleiche Sturheit und Beharrlichkeit – und auch ein ausgeprägte Resillienz – begegnet, die sie selbst charakterisiert. Und ich bin überzeugt davon, dass auch ihre Söhne und Enkelinnen ähnliche Persönlichkeitsmerkmale aufweisen; zumindest wirst du dich/werdet ihr euch immer an dieses „großmütterliche Erbe" erinnern (können). Ein wenig anders liegen offensichtliche die Verhältnisse für ihren einzigen Enkel, euren Cousin Michael, der einer anderen Generation (Jahrgang 1962) angehört. Bei ihm – der seine Großmutter über alle Maßen verehrt – habe ich den Eindruck, dass ihm die kognitiven und emotionalen Dissonanzen zu schaffen machen, die damit zusammenhängen, dass es ihm – als Antifaschisten, der 1988 als junger Mann am ehemaligen Ort der Synagoge in Bad Neuenahr die Gedenkrede zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht hält, schwer fällt, einen erklärten und bekennenden Nationalsozialisten in seinen Lebenslauf zu integrieren.
Anne: Spiegelt sich das eigentlich in den Rückmeldungen wider, die du seit der Veröffentlichung (Weihnachten 2013) bekommen hast?
Papa: Die berührendsten Reaktionen kamen von euch, den Enkelinnen. Die waren auf einer emotionalen Ebene – wie du am besten weißt – ziemlich heftig; vermutlich, weil ihr vier junge Frauen seid, die sich noch viel mehr hineinversetzen können (und sich hineingezogen fühlen) in den Überlebenskampf einer jungen Frau in einer zutiefst feindseligen Umgebung. Ansonsten gab es im Wesentlichen positive Rückmeldungen, die sich in der älteren Generation teils distanzierten von den intimen Schilderungen im Zusammenhang mit der „Liebesgeschichte", der sich auch Ullas Existenz letztlich und einzig verdankt.
Anne: Was glaubst du, wie die Oma selbst darauf reagiert hätte?
Papa: Ich habe einem Bekannten geschrieben, der die Oma auch kannte – und der von einer „Verletzung ihrer Intimsphäre" ausgeht, dass – wenn mich je jemand ermuntert hätte zu diesem Buch – das die Oma selbst gewesen wäre. Vielleicht hat sie am Ende ihres Lebens eine große Sehnsucht danach gehabt, verstanden zu werden. Und meine Erzählung wird im Grunde getragen von einer großen Dankbarkeit und einem durchgehenden Motiv der Liebe zu ihr – trotz all der beharrlichen und auch schmerzenden Fragen, die diese Geschichte nun auch einmal hervorruft und die mich weiter antreiben.
Anne: Also wird es weitergehen?
Papa: Es wird weitergehen – und es hat ja schon viel früher angefangen. All die Geschich-ten, die ich seit mehr als 10 Jahren aufgeschrieben habe, möchte ich jetzt zu einer großen vernetzten biographischen Erzählung zusammenführen. Dazu hast du im Übrigen mit deiner Seminararbeit einen entscheidenden Anstoß gegeben!
Anne: Zuletzt möchte ich noch wissen – du hast da eine Andeutung gemacht – inwieweit sich deine Auseinandersetzung mehr auf eine ästhetische Ebene hin verlagert?
Papa: Ich wollte immer schreiben – und habe es aus Verdruss, aus Frustration, weil ich den selbst gesetzten Maßstäben nicht zu genügen vermochte, einfach gelassen. Erst kurz vor meinem 50igsten Geburtstag habe ich diese „Schreibblockade" abgelegt und arbeite seitdem munter vor mich hin. Dabei sind viele Gedichte entstanden. Aber erst mit „Hildes Geschichte" habe ich mich zum ersten Mal aufs Erzählen eingelassen, vermutlich weil ich vorher immer mehr erklären als erzählen wollte. In einem Buch von Peter Alheit, das du mir gegeben hast (und das ich nicht kannte) schreibt er, „dass die Bewegungen in der Moderne offensichtlich nicht notwendig auf eine Zunahme funktional-rationaler Reflexivität hinauslaufen, sondern dass es – parallel dazu und gewöhnlich übersehen – eine Form ‚ästhetischer Reflexivität' gibt, die den Modernisieriungsprozess begleitet und durchaus mitgestaltet (Alheit/Brandt, S. 25)." Da finde ich mich wieder und ergänze es zum Schluss mit einem ähnlichen Zitat von Niklas Luhmann, dessen nüchterner Analyse ich viel verdanke: „Ich denke manchmal, es fehlt uns nicht an gelehrter Prosa, sondern an gelehrter Poesie... Vielleicht sollte es für anspruchsvolle Theorieleistungen eine Art Parallelpoesie geben, die alles noch einmal anders sagt und damit Wissenschaftssprache in die Grenzen ihres Funktionssystems zurückweist."
4. Fazit
Für mich war die Entscheidung ein glücklicher Zufall, das Seminar zur ästhetischen Bildung noch einmal zu besuchen und dass in diesem Semester der Seminarschwerpunkt bei Frau Dr. Lohfeld „Biografische Zugänge in der Ästhetischen Bildung" war. Mein Vater, der über zwei Jahre lang an dem Buch „ Hildes Geschichte- oder auch eine Liebe in Deutschland" gearbeitet hatte, beendete kurz vor Weihnachten des letzten Jahres seine Arbeit. Ich las das Buch über die Weihnachtstage. Dabei entstand bei mir die Idee, diese Arbeit zum Thema meines Portfolios zu machen. Das Seminar, das Projekt meines Vaters und meine Auseinandersetzung mit dem Buch beziehen sich auch auf ästhetische Prozesse mit biografischem Hintergrund.
Letztendlich sind wir beide dankbar dafür, dass dieses Seminar uns die Möglichkeit zu einer Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Feld der Biografieforschung ermöglicht hat. Besonders dankbar bin ich vor allem dafür, dass dieses Buch der Anstoß war, zu einer intensiven Beschäftigung mit unserer Familiengeschichte. Für viele Fragen, die wir uns auch gemeinsam stellten, gab uns die Biografieforschung wichtige Impulse, die wir weiterverfolgen werden.
Dieses Buch meines Vaters und die Seminararbeit haben mir dazu verholfen mehr über mei-ne Wurzeln herauszufinden und somit auch besser zu verstehen wer ich bin, wo ich herkomme und wie sich Familiengeschichte auf meine eigenen Entwicklungsperspektiven auswirkt. Somit wurden die Erwartungen, die ich zu Anfang des Semesters an das Seminar „Zugänge zur ästhetischen Bildung" hatte bei weitem übertroffen.
Literatur- und Quellennachweis:
Alheit, Peter (2010): Identität oder „Biographizität"? Beiträge der neueren sozial- und er- ziehungswissenschaftlichen Biographieforschung zu einem Konzept der Identitätsentwicklung, in: Griese (Hrsg.): Subjekt – Identität – Person, Wiesbaden 2010, S. 219-250
Alheit, Peter/Morten Brandt (2006): Autobiographie und ästhetische Erfahrung – Entdeckung und Wandel des Selbst in der Moderne, Frankfurt 2006)
Luhmann, Niklas (2004): Erziehung als Formung des Lebenslaufs, in: Niklas Luhmann Schriften zur Pädagogik, herausgegeben von Dieter Lenzen, Frankfurt 2004, S. 260-277
Luhmann, Niklas (1997a): Selbstreferentielle Systeme, in: Lebende Systeme – Wirklichkeits- konstruktionen in der systemischen Therapie, herausgegeben von Fritz B. Simon, Frankfurt 1997, S. 69-77
Luhmann, Niklas (1997b): Was ist Kommunikation, in: Lebende Systeme – Wirklichkeits konstruktionen in der systemischen Therapie, herausgegeben von Fritz B. Simon, Frankfurt 1997, S. 19-31
Witsch-Rothmund, Franz Josef: Hildes Geschichte – oder: Auch eine Liebe in Deutschland, Koblenz 2013
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Präsenile Bettflucht, 27.6. um 5.48 Uhr. Ich hatte einen Wachtraum, der mich in meine Kindheit zurückführte - "Abgehängte Decken" als Metapher für Familiengeheinisse: einmal assoziativ sozusagen traumwandlerisch - das andere Mal gestützt auf Erfahrungen mit der Idee der Kurzzeittherapie in Gestalt des Familienstellens nach Bert Hellinger bzw. Gunthard Webers.
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Paardynamik: soziologisch - therapeutisch - lyrisch
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Um der "mohnverhafteten" Paardynamik auf der Spur zu bleiben, sind lyrische Impressionen und ihre Reflexion das unmittelbarste und authentischste Medium; also Beobachtungen zur Paardynamik mit Hilfe lyrischer Seismographen.
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Das „Mohnheimer Schnittchen“
Zwischen Mohnfrau und „Mohnheimer Schnittchen“ (aus meinem letzten Lyrikbändchen: Die Mohnfrau)
Die Deutungsmöglichkeiten hinsichtlich der Mohnfrau sind nahezu unbegrenzt, liegen aber – je nach bemühtem Kontext nahe oder zwingen sich gar auf. Wo beginnen? Das Beginnen erfordert einen harten Schnitt mit dem Skalpell durch die Erdzeitalter der je individuellen und der je dyadischen (Paar)Geschichte(n): Jede Repräsentation von Außenwelt kann dabei unabdingbar immer nur als eine bestimmte Form der Selbstrepräsentation verstanden werden. Das ist sozusagen die conditio sine qua non aller (Selbst)Beobachtung.
Vor das Fürsorgliche Finale (S. 232-244) als letzter Phase der Leidenschaft setzt Detlef Klöckner in seiner grandiosen – für ins Trudeln geratene ältere Paare – höchst anregenden und hilfreichen Monographie "Phasen der Leidenschaft" als Phase IV Intime Dialoge – Gewohnheiten und Umbrüche, Freundschaft (Klöckner 2007, 198-232). Wiederverzauberung versus unromantische Fixierung nennt er die Vertikalspannung, die das Driften von Paaren in dieser Phase häufig markiert, in der, wie er meint, häufig Vertrautheit die ursprüngliche Erregung der Liebe zunehmend verdrängt. „Spannende, außerordentliche Bewegung bringen hingegen mehr die Stolpersteine des Lebens. Wenn das Stolpern nicht nur kurz erschreckt und gleich wieder beruhigt wird, wenn das Hinfallen nicht nur Narben hinterlässt, sondern das Fragile am Langlebigen aufrüttelt, ist es ein Motor des Widererwachens. Wieder verführbar zu sein ist die andere Quelle der Revitalisierung, die erneut auf den Weg bringt (Klöckner 2007, 204).“
Detlef Klöckner führt eine Reihe beeindruckender Beispiele für die Revitalisierung in die Jahre gekommener Beziehungen an; und vor allem gelingt ihm dies in einer wunderbar subtilen und einfühlsamen Sprachwelt, die andererseits an Klarheit nichts vermissen lässt. Eines seiner Beispiele möchte ich gerne aufgreifen, um mir einen Eindruck von den Gratwanderungen zu verschaffen, die viele Paare durchaus erfolgreich miteinander bewältigen. Manchmal – so Detlef Klöckner – sehne man zum Beispiel nach der „guten alten Zeit“ zurück: „Was läge näher, als Verflossene und Vergessene auferstehen zu lassen, die mit lustbetonten und verantwortungsfreien Zeiten assoziiert sind, die genügend anders sind, um sich mit ihnen in den Zustand der Zeitlosigkeit zurückzuversetzen, in eine Atmosphäre zu wiegen, die frei ist von aktuellen Belastungen (Klöckner 2007, 214).“
Kann man sich vorstellen, eine solche lustbetonte, verantwortungsfreie Zeit noch einmal zu erleben, der Suggestion einer Zeitlosigkeit und einer Atmosphäre zu erliegen, die alle aktuellen Belastungen abschattet? Wo könnte man dies – eine gemeinsame Leidenschaft für den Skisport vorausgesetzt – besser als in den Alpen, sagen wir auf dem Stubaier Gletscher, für eine Woche, vielleicht mit den Briefen und den Erinnerungen an die gemeinsame Zeit, die nun vielleicht schon 35 Jahre zurück liegt?
In diesem Kontext vertritt Detlef Klöckner die These, dass Treue nicht sichere, dass ein Paar gut miteinander umgehe. Verlangt sei ein Aufeinander-Eingehen, das Einhaltungen anstrebe und Ausnahmen lösungsorientiert kommuniziere, das sich als Paar fördere, ohne sich persönlich zu vernachlässigen: „Das ist einfacher ausgesprochen als getan. Manche Paare versuchen ein gutes Klima herzustellen, indem sie eine ungemütliche Unterscheidung bemühen. Sie differenzieren zwischen Situationen, die passieren, also gleichsam körperlicher Untreue und dem übergeordneten Versprechen, im Zweifelsfall zum bisherigen Partner zu stehen. Die bestehende Beziehung hat auf einer höheren Ebene uneingeschränkte Priorität, und vorübergehende Sekundärpartner erhalten den Stempel von Durchreisenden. Darin steckt durchaus eine Lösung zum Erhalt einer vitalen Beziehungskultur, die aber ein enormes Selbstbewusstsein und viel Vergebungswillen erfordert (Klöckner 2007, 216).“
Das ist natürlich keine verlässliche Rezeptur. Nur im Nachhinein vermag sich herauszustellen, was zu den verträglichen und letztlich erträglichen Ingredienzien einer vitalen Beziehungskultur gehört. Dieses Büchlein (Die Mohnfrau) ist meiner Frau Claudia gewidmet, der Besonderen und der Einzigartigen (von manchen auch Moselperle genannt). Und die Geheimrezeptur zum Erhalt unserer vitalen Beziehungskultur ist u.a. im Monheimer Schnittchen aufgehoben.
Für die Variante True Lies lässt sich die Rezeptur zumindest andeuten:
Man nehme einen Verflossenen (wenn möglich mit Trennungsabsichten), gewähre ihm Durchreiserecht, füge einen Vertrautheits- und Freundschaftsrahmen in Form von Asylangeboten hinzu, würze des Weiteren mit schönen romantikfähigen Orten – etwa schnee- und erinnerungsträchtigen Alpentälern. Den Teig lasse man neun Monate gehen, füge ein wenig Eifersuchtsfluidum als katalysierendes Triebmittel hinzu. Zur besseren Durchmischung lasse man ein kleines Sturmtief – vielleicht namens Emma – hindurchfegen. Man knete das Gemenge schließlich mit heilenden Händen ordentlich durch, forme kräftige Schnittchen daraus und gare dieselben 24 Stunden nahe am Siedepunkt. Man garniere ein wenig mit bahnhofschwangerer Abschiedsatmosphäre und serviere das Ganze lauwarm – fertig ist eine delikate ménage à trois. Das Ganze nenne man Monheimer Schnittchen. Schaltjahre stellen im Übrigen optimale Gedeihlichkeitsbedingungen bereit. Als Digestif (ein die Verdauung anregendes Getränk) empfiehlt sich ein hochprozentiges Destillat humorhaltiger Gedanken und Scherze – so ist eine nachhaltige Bekömmlichkeit nahezu garantiert!
Detlef Klöckner würde wohl zustimmen, dass sich diese deftige kulinarische Gabe im Sinne eines Stolpersteins als nachhaltige Revitalisierung müder Pärchen im Schlafrock anbietet. Ich weiß schon, Rudi (Krawitz), Hans (Kusenbach) und ihr Franks (Tiedemann und Windhövel) – ihr wüsstet gern mehr von den geheimnisvollen Zutaten und der Art ihrer Zubereitung! Sorry – es ist eine interaktive Rezeptur mit vielen Variationen, und ich weiß nur einen Teil von dem, was ich dazu beitrage: Faszination, Hin- und (Her)Gerissenheit, die sich mit einer gehörigen Portion Humor recht gut kultivieren lässt, Entschiedenheit, Geduld und Gelassenheit und den Blick des Begehrens, der auch heute noch weiß, was Heißhunger ist!
Aber es ergeben sich für einen aufmerksamen Beobachter ja noch ganz andere Fragen. Warum ge-rade diese Hinweise als Interpretationshilfe zur Mohnfrau? Natürlich liegt es im Sinne des weiter oben zitierten Hinweises von Detlef Klöckner im Wesen eines Durchreisenden, dass er den Mohn zwar sehen und bewundern, seiner Schönheit und Faszination erliegen kann; aber eben nur als (Durch)Reisender. Das fahrende Volk hat keinen Ort und muss immer wieder fort (am besten natürlich nach Hause). So bleibt vom Mohn der Traum – was manchmal reichen muss und allemal die Bedingung ist, um sich – mit brennender Geduld (Antonio Skarmeta) – die unerfüllten Träume und damit die wahre Liebe zu bewahren. Aber wer weiß das alles schon so ganz genau – und wann ist man Koch und wann ist man Gast!?
Und dieses Gedichtlein – „Die Mohnfrau“ – ist gar nicht entstanden, um die unerfüllten Obsessionen anderer – z.B. Durchreisender – zu kommentieren, sondern es ist eher der Ausdruck einer resignativen Reife (Arnold Retzer), die das Wahre nicht mehr in (s)einer vermeintlichen Erfüllung sieht, sondern eher im sanften Schmerz und in der Behaglichkeit des komfortablen Verzichts. Und dafür sag ich schlicht allen, die daran Anteil haben, DAnke!
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In "Kopfschmerzen und Herzflimmern - Talk im Café Hahn" habe ich eine Reihe von "Experten" miteinander "ins Gespräch gebracht". Roland Barthes, Niklas Luhmann, Peter Fuchs und viele andere entwickeln einen höchst interessanten Diskurs über Liebe, Sex und solche Sachen.