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Hier könnt ihr mein zweites Lyrikbändchen, "Die Mohnfrau", herunterladen. Neben Gedichten enthält das Buch weitere Variantionen existentieller Grundthemen, wie sie uns alle im Kontext von Freundschaft, Partnerschaft und Familie beschäftigen.
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Zu einer Totenrede kommt man einerseits durch Verpflichtung und andererseits durch Ermächtigung: Die Verpflichtung zur Totenrede meines Schwiegervaters Leo Rothmund wurde mir zur Ehre, weil ich danken konnte für viele Ermöglichungen und eine besondere Beziehung zwischen Schwiegervater und Schwiegersohn. Die Ermächtigung zur Totenrede von Gerd Wayand war zuallererst Last und schließlich einer Herausforderung ein Stück des gemeinsamen Weges zum Anlass für die Würdigung eines guten Freundes zu nehmen.
Die Erinnerungen an die frühen Abschiede, die "gemäßen" und die zur "Unzeit" sind eigentlich immer präsent, und sie bilden die Wegmarken und Wendepunkte, an denen sich die grundlegenden Neuorientierungen gleichermaßen anbieten und auch aufzwingen. Ich erinnere mich an den "frühen" Tod meines Vaters, dessen finale Altersgrenze nur noch drei Jahre von meinem derezeitigen Lebensalter entfernt ist. Ich erinnere mich an die intensive Phase der (Sterbe-)Begleitung meiner Mutter, die einzige, die - neben meinen Großeltern mütterlicherseits - einen "gemäßen" Tod (in der Nähe des generationenspezifischen statistischen Mittels) erreicht hat. Ich erinnere mich an den zur Unzeit aus dem Leben gerissenen Bruder und den aus dem Leben "gegangenen" Freund aus Kinder- und Jugendtagen. Das Urmotiv für diesen BLOG speist sich aus diesen Erfahrungen, die immer mehr und immer konsequenter die oben erwähnte Mahnung Michel Montaignes nahelegen: "Glaubt ihr denn, ihre kämet nie dort an, worauf wir alle hinstreben!"
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Totenrede für Dr. Gerd Wayand – Koblenz, am 9. November 2012 (Dr. F.J. Witsch-Rothmund)
„Ins nackte Dasein geworfen, gehen wir ins immerwährende Nichts."
Mit diesem Sinnspruch, lieber Gerd, machst Du dich aus dem Staub, wirst Du zu Staub – das alleine wäre allerdings immer noch mehr als „Nichts". Einer der von Dir so verehrten und respektierten großen Franzosen – so wie Du erklärter Atheist – macht uns auf die paradoxen und unlösbaren Widersprüche aufmerksam, mit denen sich „Materialisten" – trotz aller vordergründiger Evidenz ihrer Position – konfrontiert sehen:
„Da das Nichts Nichts des Seins ist, kann es nur durch das Sein selbst ins Sein kommen. Und es kommt zum Sein gewiss nur durch ein besonderes Sein, nämlich die menschliche Wirklichkeit."
Über diesen Satz von Jean Paul Sartre und seine Auslegung („Das Sein und das Nichts, Frankfurt 19989, S. 131) hätten wir trefflich einen Donnerstagabend gestritten. Fast regelmäßig an Donnerstagabenden haben wir gestritten, uns mit Literatur- und Filmtipps versorgt, Bücher und DVDs ausgetauscht und vor allem gemeinsam getrunken. Das war ein Stück unserer gemeinsamen „menschlichen Wirklichkeit" in den letzten Jahren geworden.
Dies ist nun unwiederbringlich vorbei und es bleibt die Erinnerung. An-fang November 2011, nach Eröffnung der finalen Diagnose, hast Du im Dormonts an einem Donnerstagabend zu mir gesagt: „Du musst meine Totenrede halten!" Du wirst dir schon etwas dabei gedacht haben – habe ich mir gedacht – mich zu einem Deiner Trauerredner zu bestimmen, um ein erstes Zeichen der Erinnerung zu setzen. Jetzt wirst Du sehen bzw. die Anderen werden sehen, was Du davon hast:
Ich möchte den folgenden wenigen Erinnerungssplittern einen Rahmen geben. Eine zeitliche Spanne von fast 40 Jahren beginnt und endet mit der Leit-/Leidfigur Gerd Wayand; die Leitfigur, die 1974/75 (für mich) in Erscheinung tritt, schreibe ich mit hartem t und die Leidfigur, die seit November 2011 in Erscheinung getreten ist, schreibe ich mit weichem d.
Ich habe Dich – wie erwähnt – 1974/75 kennengelernt – als jenen smarten, charmanten, eloquenten, belesenen (Ver)Führer, der uns in seiner Wohnung (mit der schon damals beeindruckenden Bibliothek) eine gründliche Einführung in den „DiaMat" bzw. „HistoMat" und die Politische Ökonomie anbot. Nachdem wir 1976 die RCDS-Hochburg an der EWH-Koblenz geschliffen, AStA und STuPa fest in der Hand hatten, „gehörte" uns für viele Jahre die Rheinau mit der „Vorhölle" (der Studentenkneipe) und den Räumen der studentischen Selbstverwaltung. In der „Vorhölle" (damals ein paradiesischer Ort) tauchtest Du am frühen Nachmittag auf, und hast „Hof gehalten". Als politische und intellektuelle Autorität war Dein Rat gefragt und als der profilierteste Repräsentant einer – insbesondere sexuell pointierten – „Libertinage" hast Du einen Lebensstil demonstriert, der dem Zeitgeist ein besonderes Profil verlieh (ich glaube das war die Zeit – 1977/78 als du u.a. den dunkelblauen 635er CSI Alpina fuhrst). Du hattest die 30 bereits überschritten, Du warst beamteter Lehrer in Hessen mit Ambitionen auf eine akademische Karriere. In dieser Rolle warst Du eine prägende Leitfigur; Du hast eine ganze Generation politisch sensibilisierter und interessierter Studenten geprägt – mit einem besonderen Faible für das weibliche Geschlecht – auch darin warst Du uns partiell Lehrmeister und Konkurrent gleichermaßen.
Wenn ich nun springe – weit springe in die Zeit des intensiven Kontakts der letzten Jahre, dann trafen da Lebensentwürfe aufeinander, deren Gemeinsamkeit darin bestand, dass sie sich auf je unterschiedliche Weise der Patina des Alters im Sinne einer „resignativen Reife" stellten: vom Impetus der Weltveränderung zu der Martin Walser geschuldeten Betrachtungsweise des Alters: „Ich verändere nichts, aber alles verändert mich". Zugegeben – da gab es starke Nuancierungen: Du hast den Kapitalismus nicht nur studiert und kritisiert; du hast ihn auch geritten, gewissermaßen gerockt! Wie oft musste ich in den beginnenden Zeiten der internetfähigen Handys donnerstags abends die Kurse exotischer Aktien ermitteln, mit denen du – Kostolany gleich („Einer Frau und einer Aktie darf man nie nachlaufen, die nächste kommt bestimmt") – spekuliert hast und dein Portfolio eigensinnig und ohne Bankberater verwaltet hast.
Insofern warst Du nicht veränderungsresistent, sondern ungemein wandlungsfähig. Und meine anfängliche Versuchung, Dir wie dem Brechtschen „Herrn Keuner" zu begegnen, der erschrak als ihm ein Bekannter nach langjährigem Wiedersehen eröffnete: „Sie haben sich gar nicht verändert" relativierte sich eindrucksvoll.
Du bist nicht erschrocken! Warum auch? Deine Verankerung in der marxistischen Theorie und Philosophie à la Louis Althusser wies ein große Kontinuität auf – erweiterte sich aber ständig um ein beharrliches Eindringen in die abendländische Philosophie (Florian wird sicherlich einen Einblick in die Schwerpunkte Deines akademischen Wirkens in Marburg geben). So war immer für eine Menge Spannung gesorgt, wenn wir zusammenkamen, denn Differenzen schaffen Spannungen, die wir weidlich zelebriert haben.
Eine denkwürdige Nacht haben wir im Dormonts verbracht, als Du mit Rudi Krawitz die philosphiegeschichtliche Bedeutung Immanuel Kants diskutiert hast. Da warst Du – zwischen Louis Althusser und Michel Foucault – in Deinem Element, das hast Du undendlich genossen. Eher als Beobachter dieses Disputs habe ich Dir den Spitznamen „Der Leguan" gegeben: Einer alten Echse gleich – vom Leben und der Leidenschaft zur Theorie gezeichnet, bereitetest Du auf eine faszinierende Weise „züngelnd" – die Argumente deines Kontrahenten gewissermaßen sinnlich antizipierend – Deine jeweilige Gegenargumentation vor – in bester dialektischer Manier.
Mir hast Du gestattet, Dich zu amüsieren: Als ich Dich 2005 in einem meiner Bücher in die Schlüsselszene um Roland Barthes mit einem bescheidenen, aber prägnanten Auftritt hineinschrieb, hast Du Dich herzlich amüsiert – und Du hast mir diese Marotte verziehen.
Fortan haben wir – gemessen an Deinem bevorzugten und kultivierten Lebensstil als Städter – verrückte Sachen gemacht. Auf den Feldwegen – immer linksmoselanisch – haben wir Wanderungen unternommen, Du immer im Straßenanzug, mit Straßenschuhen. Auf diese Weise hast Du vor zwei Jahren noch – unter Überwindung teils 24%iger Steigungen durchs Mühlental bei Kattenes den Gipfel zur Kehrkapelle erklommen; ein Jahr bevor Du begonnen hast jenen Gipfel zu besteigen, der Dein finaler werden sollte.
Exakt ein ganzes Jahr von Deinem 66en bis zu Deinem 67en Geburtstag hat diese Anstrengung angedauert. Die Leitfigur der 70er Jahre ist verblasst und ist im Leiden des letzten Lebensjahres einer anderen, beeindruckenden Leitfigur gewichen:
Niemals hast Du uns tiefer und nachhaltiger beeindruckt als in diesen letzten 12 Monaten Deines Lebens. Ich weiß, dass Du Dich in den letzten Jahren verstärkt auch mit der Philosophie der Antike, insbesondere mit den großen Griechen beschäftigt hast. Nach Aristoteles hält der Tapfere dem Furchtbaren stand: „Das Furchtbarste ist aber der Tod" – so Aristoteles – und weiter: „Im echten Sinne also darf als tapfer bezeichnet werden, wer keine Furcht hat vor dem Tod." Seit Platon zählt die Tapferkeit zu den vier Kardinaltugenden. Und sollte ich jemanden benennen, der uns diese Kardinaltugend im Angesicht des Todes auf eine so unvergleichliche, tief beeindruckende und berührende Weise verkörpert hat, dann bist das heute Du ganz alleine: Gerd Wayand.
Du hast uns noch so viel mehr gezeigt, und ich wage es anzuknüpfen an einen gleichermaßen fruchtbaren Streit, den Du, Rudi und ich über Heideggers „Feldweg" geführt haben. Der endet mit dem Ausblick: „Spricht die Seele? Spricht die Welt? Gott? Alles spricht den Verzicht in das Selbe. Der Verzicht nimmt nicht. Der Verzicht gibt. Er gibt die unerschöpfliche Kraft des Einfachen. Der Zuspruch macht heimisch in einer langen Herkunft."
Ohne es zu wollen, vielleicht ohne es zu wissen, hast Du uns in Deinen letzten Lebensmonaten beschämt mit Deiner bescheidenen, für Dich vollkommen selbstverständlichen Gegenwart und ungemeinen Präsenz in unserer Mitte. Und deshalb haben wir Dir am vergangenen Mittwoch in Deinem Gedenken an der Kehrkapelle mit Hölderlin in leicht abgewandelter Form zugerufen – und ich möchte es hier an dieser Stelle wiederholen: „Im heiligsten der Stürme falle zusammen deine Kerkerwand. Und herrlicher und freier walle dein Geist ins unbekannte Land."
Über den Tod „wissen" wir Lebenden nichts, während Sterben und Trauer diesseitige soziale Phänomene sind, die wir mit Ritualen gestalten können. So danke Dir für Dein Vertrauen und die Ehre, heute hier sprechen zu dürfen, und für die Einladung ins Dormonts nach der Trauerfeier, wo wir so viele gemeinsame Stunden verbracht haben.
Herbert Gudjons: Die Gleichsetzung von körperlichem Ende und Tod im Zuge der Aufklärung und Säkularisierung war ein fataler Fehler... Leben sei mehr als körperliche Existenz. Unsere westliche Kultur habe keinen Raum mehr für ein Denken, nach dem der Tod nicht das Ende der geistigen Existenz des Menschen sei. Unsere Gedanken, unser Gedenken und die Totenrede sollen nahelegen, dass einiges für diesen Hinweis von Herbert Gudjons spricht.
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Zur Beisetzung meines Schwiegervaters Leo Rothmund am 11.3.2010
Alle, die uns ihr Beileid bekunden und wir selbst stellen nach einem Leidensweg, wie ihn Leo auf sich nehmen musste, vor allem die „Erlösung" in den Vordergrund. Und das ist zweifellos angemessen! Warum erfahren manche Menschen das, was wir einen „gnadenvollen" Tod nennen, während andere einen nicht enden wollenden Leidensweg auf sich nehmen? Dass alles, was du, lieber Leo mit uns erfahren durftest und das alles was wir mit dir erfahren durften einen Sinn hat, darum soll es in der folgenden Totenrede gehen.
Lieber Leo,
du wunderst dich sicherlich, wie viele Menschen heute hierher gekommen sind, um dich auf deinem letzten Weg zu begleiten. Am 27. August 2006 – auf Claudias 50sten Geburtstag – haben dich einige der hier Versammelten zum letzten Mal in der Öffentlichkeit gesehen. Dort hast du deinen letzten Tanz getanzt. Damals warst du schon auf dem Weg, der am vergangenen Montag in dieser Welt für dich zu Ende gegangen ist. Das war ein langer, harter Weg.
Die letzten 31 Jahre dieses Weges sind wir gemeinsam gegangen. Nicht allein deshalb ist es mir eine besondere Ehre heute hier sprechen zu dürfen. Aus der Generation der „Väter" stehst du mir – abgesehen von meinen Eltern – am nächsten. Und das stand uns sicherlich nicht ins Stammbuch geschrieben, obwohl einige – ein bisschen auch ich selbst – der Auffassung sind, der liebe Gott habe dabei die Hand im Spiel gehabt. Hast du doch deine Lisa just an jenem 21. Februar 1952 geheiratet, an dem mich meine Mutter geboren hat. So war es mir immer ein Leichtes, dich auch zu Zeiten, als du noch unter Volldampf standest, daran zu erinnern, dass sich euer Hochzeitstag wieder einmal jährt – insgesamt 58 Mal, zuletzt vor knapp drei Wochen. Dass aus alldem in der Tat eine Bestimmung geworden ist, liegt halt daran, dass ihr mir, dem Jungen von der Ahr, die einzigartigste aller Moselperlen geschenkt habt. Ich habe mich aber mit Claudia revanchiert, indem wir dir und Lisa, Laura und Anne geschenkt haben, eure Enkelkinder, denen deine Liebe und deine ganze Fürsorge galt.
Du bist ja ein Bodenseeschwabe und da gilt ja ein bisschen auch die Devise: Nicht geschimpft ist schon gelobt genug. Wenn ich nun einige Stationen deines Weges nachzeichne und dies in einen tiefen Dank an dich kleide, dann geht es mir zu allerletzt um einen erschöpfenden Lebenslauf. Ein Lebenslauf – so kann man sagen – besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Ich will mich auf einige wenige Wendepunkte beschränken, an denen in der Tat jeweils etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Ohne diese Wendepunkte gäbe es diese Trauerfeier heute nicht und das ganze Feingewebe an Beziehungen, das in deiner Tochter und in deinen Enkeltöchtern wunderbare Gestalt angenommen hat, gäbe es nicht. Alle, die heute hier versammelt sind, kennen dich – haben dich gekannt. Jeder hat seine eigenen Erinnerungen, seine eigenen Geschichten mit dir. Und es ist ein Allgemeinplatz, dass wir solange weiterleben, wie wir in der Erinnerung der anderen lebendig sind.
• Wendepunkt 1: Du warst Soldat im 2.Weltkrieg. Davon hast du wenig erzählt. Aber mir hast du auf einer unserer Fahrten in deine geliebten Alpen erzählt, dass du 1944 im Hürtgenwald als Zugführer fast alle deine Kameraden durch kanadische Scharfschützen verloren hast. Im Visier eines dieser Scharfschützen hat dich pure Intuition – eine Ahnung – eine abrupte Körperwende vollziehen lassen, so dass nicht ein Kopfschuss dein damals gerade 20 Jahre währendes Leben beendete, sondern dieser Schuss deine rechte Schulter zertrümmerte.
• Du hast weitergelebt und der Junge, der bei Maybach den Maschinenbau von der Pike auf gelernt hat, hatte Ende der 40er Jahre das Maschinenbaustudium in Konstanz erfolgreich abgeschlossen. Er hatte seine Lektionen gelernt, kannte und beherrschte die Gesetze des Schwarzmarkts und hat so manchen Liter Moscht vermarktet, um Studium und Studentenleben zu finanzieren. Die Grundlagen für ein erfolgreiches Berufs- und Geschäftsleben waren gelegt. Der „Junge" vom See hatte Charme, er hatte Glück bei den Frauen, hatte den größten Stein im Brett bei seiner fast 80jährigen Zimmerwirtin, der Mimi, die ihn aus mancher Verlegenheit herausgeboxt hat. Es war die Mimi, die den Leo auf der Konstanzer Rheinbrücke, in Rufweite der Katzgasse, aus Polizeihand befreite, weil er sich – im leichten Alkoholnebel – nicht ausweisen konnte. Sie hatte sein Rufen: „Mimi, Mimi, komm und hol mich!" gehört und eilte mit wehendem Schlafrock ihrem Leo zu Hilfe.
• Wendpunkt 2: Am Bodensee ist es dir zu eng geworden. Und wo ließe es sich besser leben als in der Völkermühle am Rhein, besser gesagt, wo ließe sich besser leben, als in der einzigen Stadt an Rhein und Mosel! Da ist auch Platz für einen Bodenseeschwaben. Hier bist du heimisch geworden, ein Solitär geblieben, der aufgrund seiner Sprachfärbung auffiel und der auch zu gefallen wusste – du alter Schofsäckel! Wie du das Herz deiner Lisa erobert hast, ist Legende. Sie war ja eine viel umworbene Frau und vor allem auch schon eine gestandene Geschäftsfrau, während du mühsamst beruflich Fuß zu fassen suchtest. Aber dein Charme, dein Sprachwitz und deine unbändige Energie haben sie geradzu mit traumwandlerischer Sicherheit die richtige Wahl treffen lassen. Man darf an dieser Stelle natürlich deine legendären Qualitäten als Tänzer nicht unerwähnt lassen. Mit Lisas Liebe, mit ihrer Unterstützung ihrem Wohlwollen und ihrer Bewunderung ist die „Marke" Leo Rothmund zum Erfolgsmodell geworden: Leo, du bist ein Self-Made-Man, der mit einem Koffer und dem, was er auf dem Leibe trug, gestartet ist. Du hast es mit Fleiß und deiner unerschöpflich scheinenden Energie zu Wohlstand und Ansehen gebracht.
• Deine Lebensleistung nötigt nicht nur Respekt ab, sie erscheint nahezu unglaublich. Man kann das praktisch nur so erklären, dass du drei Arbeitsleben in deinem Leben vereint hast: Du warst planender Architekt, du warst in der Regel der Bauleiter der von dir geplanten Objekte und du warst dein eigener Sekretär. Deine Nächte hast du am Reißbrett verbracht, du hast die Gewerke ausgeschrieben, Bauanträge verfasst (an deiner eigenen zuletzt halbelektrischen Olympia); du hast vormittags und zwischendurch die Behördengänge und Verhandlungen mit Bauherren und den Handwerkern geführt, am Bau jedes Gewerk abgenommen. Du warst ein harter Hund und hoch geschätzt bei denen, die es nicht so dicke hatten. Wo hättest du da noch Zeit für so was „Unnützes" wie Schlaf hernehmen sollen. In deiner Hoch-Zeit sollen es nie mehr als 3 bis 4 Stunden gewesen sein. Als ich dich kennen lernte und das zwei-felhafte Vergnügen hatte, in Zürs oder sonstwo ein Zimmer mit dir zu teilen, war die Nacht um 4 zu Ende: Licht an, Akten raus. Wenn aber ein Schitag zu Ende war, dann warst du frisch und ich fertig wie ein Brötchen.
• Aber auch du fandest deine Grenzen; allerdings immer – solange dein Körper und dein Geist es zuließen – nach deinen Bedingungen; du warst zwar geborener Rechtshänder; und wer weiß, wie Tennis geht, der hat als mittelmäßig Begabter seine liebe Mühe. Du hast es mit links gemacht. Lange Jahre hast du dein Organisationstalent im Postsportverein deiner Tennismannschaft zur Verfügung gestellt. Deine besondere Liebe – sieht man einmal von Lisa ab – galt aber dem Schisport. Nur in knappster Form lässt sich andeuten, wie sehr diese Leidenschaft dir – auch gegen alle Vernunft – Lebenssinn und Lebensfreude bedeutete. Und ich muss an dieser Stelle auch gestehen, dass alle, die dich näher gekannt haben, fest davon überzeugt waren, dass dich die Berge irgendwann nicht mehr hergeben würden, dass dich ein „mort douce", ein süßer Tod heimholen würde. Du hast die Berge beben lassen. Dein Organisationstalent, dein Humor und deine Energie sind Legende und deine Schitouren legendär. Dort wo der Leo war, war das Leben (diesen Satz hat mir deine dir ein wenig ähnelnde Tochter Claudia in den Stift diktiert). Wer einmal im Auto oder auf der Schipiste mit dir unterwegs war, dem wird dies zeitlebens unvergessen bleiben. Der Tod in den Bergen war dir nicht vergönnt.
Es ist anders gekommen. Und dies gibt mir Gelegenheit auf etwas anderes hinzuweisen, als schlicht auf die Tatsache, dass du ein „Siegertyp" warst und Endlichkeit für dich ein Fremdwort war: Ich erinnere mich, dass du mich recht früh in väterlicher Haltung einmal darauf hingewiesen hast, dass du mir ein passables Pferd anbietest, aber reiten müsste ich den Gaul schon selbst. In den letzten Jahren, als sich deine Demenz mehr und mehr ausprägte, hatte ich häufig das Gefühl, dass du selbst auf einem toten Gaul sitzt und dich weigerst abzusteigen. Ich wollte dich überreden, mir deine Geschichten zu erzählen. Ich wollte sie aufschreiben und vor allem deinen Enkeltöchtern erhalten. Wir haben angefangen ein Album zu gestalten – vor sechs oder sieben Jahren. Wir haben dann zunehmend begriffen, dass sich deine Welt gleicherma-ßen verdichtet und reduziert. 10 oder 12 Fotos haben ausgereicht den Horizont und den Ozean eines ganzen Lebens zu vermessen. 2003 ist am Bodensee an der Birnau – das war unser beider Abschiedsreise an den See – bei herrlichem Wetter ein Foto vor der Birnau entstanden. Durch dieses Foto und die besagten 10 bis 12 Fotos bist du eingetaucht in deine eigene Welt, in den ungeheuren Kosmos deiner ganzen Lebensgeschichte, den wir nur in Facetten erahnen können, aber an dem wir alle mehr oder weniger teilhaben.
Ich möchte diese Trauerrede abschließen mit einem ganz besonderen Dank, der einen andern Leo zeigt. Ich danke dir Leo für die Begegnungen, die wir alle – Lisa, Claudia, Laura, Anne, Biene und ich in den letzten Jahren, Monaten, Wochen und Tagen mit dir noch haben durften. Aber ich danke auch Lisa, meiner Schwiegermutter, Claudia, meiner Moselperle, Laura und Anne, unseren unvergleichlichen Töchtern – und natürlich Biene, die uns alle auch in Hängepartien immer wieder motivierte, Kraft und Zuversicht in Gottes Natur zu suchen und zu finden. In diesen Dank sind so viele andere einzuschließen, die einfach da sind, im Gespräch, im gemeinsamen Wandern, Essen und Trinken. Namentlich erwähnen will ich aber Kathrin, Marlena und ganz besonders Stella, die Leo in den letzten drei Jahren mit gepflegt haben. Noch ist Deutschland nicht verloren – dank Polen.
Die letzten Bemerkungen entnehme ich dem Buch, das nun leider nicht mehr zu deinen Lebzeiten erscheint, und in dem ich u.a. auch begonnen habe, zu begreifen und zu verarbeiten, was der Weg in die Demenz und in die Hilflosigkeit für dich und für uns alle bedeutet hat. Eine große Hilfe war und ist mir dabei die kleine Schrift „Mut zur Endlichkeit – Sterben in einer Gesellschaft der Sieger" von Fulbert Steffensky, auf den ich mich im Folgenden immer wieder beziehe.
Lieber Leo, da ich dieses Kapitel, aus dem ich jetzt vorlese, vor rund einem halben Jahr geschrieben habe, liest es sich so, als wenn du noch am leben wärest. Aber du wirst es auf deine Weise verstehen. Ich zitiere jetzt aus diesem Kapitel:
„Mein eigener Vater starb innerhalb einer Woche an einem Herzinfarkt mit 65 Jahren, meine Mutter führte ein halbes Jahr einen harten Abwehrkampf gegen Gevatter Hein, bevor sie ihm im Alter von 79 Jahren folgte. Das alles war schwer zu ertragen, aber es sind naturgemäß die vorletzten Entwicklungsaufgaben, denen wir uns zu stellen haben. Meine Schwiegermutter Lisa erfreut sich mit 86 Jahren einer guten Gesundheit und einer beeindruckenden geistigen Frische. Hingegen fristet mein Schwiegervater Leo ein elendes Dasein, dem vor drei Jahren die Pflegestufe III attestiert wurde. Das Elende seines Daseins liegt hier primär im Auge des Beobachters, des beobachtenden Schwiegersohns. Die Vorsorgevollmacht liegt in Händen seiner Tochter und über eine Patientenverfügung hat er selbst lebensverlängernde intensivmedizinische Maßnahmen ausgeschlossen. Wir pflegen – wie oben angedeutet – zu Hause. Im Essen und Trinken findet er immer noch Genuss. Auch wenn er dazu selbst in keiner Weise mehr in der Lage ist, steht sein Lebenswille für mich außer Frage. Alle körperliche Zuwendung, alles Drücken uns Schmusen fällt, wie Regen in der Wüste, auf überaus bedürftigen und dankbaren Boden. Und seine Mimik, Gestik und sein Augenspiel lassen keine Zweifel an seinem Wohlbehagen. Sie sagen uns: Alles ist gut, hier bin ich wohl, geborgen und aufgehoben.
Fulbert Steffensky entwickelt seine Gedanken um eine schlichte und gleichwohl fundamentale Erfahrung: ‚Das, wovon wir eigentlich leben, können wir nicht herstellen: nicht die Liebe, nicht die Freundschaft, nicht die Vergebung, nicht die eigene Ganzheit und Unversehrtheit. Man kann sich nicht selbst beabsichtigen, ohne sich zu verfehlen.' Mit Fulbert Steffensky nähere ich mich einem theologisch begründeten Gnadenbegriff, mit dem er uns nahe legt, Gnade zu denken, bedeute zu erkennen, dass den Menschen nicht seine Tauglichkeit und Verwendbarkeit ausmache: ‚Alte Menschen, dauerhaft Kranke sind wenig tauglich und verwendbar. Sie können sich nicht durch sich selbst rechtfertigen, nicht durch ihre Arbeit, durch ihre Intelligenz und ihren Witz. Sie sind, weil sie sind. Sie sind nicht, weil sie etwas leisten.' Auch Kinder – betont Steffensky – seien zunächst einmal nicht durch ihre Funktion für die Gesellschaft gerechtfertigt. Aber sie seien immerhin – wie Zyniker sagen – eine ‚Investition für die Zukunft'.
Ich bedenke Fulbert Steffenskys Auffassung, dass die Bedürftigkeit den Grundzug aller Humanität ausmache. Und ich kann der Idee folgen, dass ein Wesen umso bedürftiger sei, je geistiger es ist: ‚Um so mehr weiß es, dass es sich nicht selbst gebären und vollenden kann. Es braucht Väter und Mütter, es braucht Kinder und Enkel. Es muss sich auf mehr berufen können als auf den eigenen Witz und die eigene Stärke'. Den Mittelpunkt seiner Argumentation bildet schließlich eine Idee, die ich als die letzte Entwicklungsaufgabe verstehen möchte, die uns möglicherweise allen gestellt ist: ‚Schwer erkrankt sein, heißt verarmt sein: arm an eigener Kraft, arm an Bewegungsfähigkeit, arm an Zukunft. Die Krankheit ist Krise: man kann angesichts dieser Verarmung in Hoffnungslosigkeit und Verbitterung erstarren, und man kann sich ergeben. Sich ergeben ist ein veraltetes Wort, das ich mag. Es heißt, sich aus der Hand geben, sich anvertrauen, sich nicht mehr mit sich selber rechtfertigen; wissen, das es zu wenig ist, nur bei sich selber aufgehoben zu sein. Vermutlich gelingt diese letzte Ergebung, die letzte Bedürftigkeit nur wenigen Menschen...' Und zu diesen Menschen gehörst ganz ohne jeden Zweifel du, mein lieber Leo!
Fulbert Steffensky spricht von einem ‚merkwürdigen neuen Leiden', das sich in einer ‚überhöhten Erwartung an das Leben und der Menschen an sich selber' ausdrücke. Der Katalog, den er auflistet, kommt uns allen vertraut vor: ‚Mein Körper soll fit sein bis ins hohe Alter, mein Aussehen schön. Mein Beruf soll mich erfüllen. Meine Ehe soll ungetrübt und glücklich sein. Der Partner soll der beste Liebhaber sein und die Partnerin die beste Köchin. Die Erziehung der Kinder soll gelingen. Solche Totalitätserwartungen an eine Liebe programmieren ihr scheitern. So ist das Leben nicht.' Nein, so ist das Leben nicht!
Könnten wir doch aus der Einsicht in die wunderbaren Gedanken Fulbert Steffenskys jene Bescheidenheit gewinnen, die uns das Leben in vollen Zügen genießen lässt, und sei es noch so begrenzt. Zeigen uns nicht eben genau diese Grundhaltung so viele kranke, beeinträchtige und behinderte Menschen. Gnade denken heißt mit den Worten Steffenskys, den Mut zum fragmentarischen Handeln zu finden und so sagt er wörtlich: ‚Die meisten Ehen gelingen halb, und das ist viel. Meistens ist man nur ein halb guter Vater, eine halb gute Lehrerin, ein halb guter Therapeut. Und das ist viel. Gegen den Totalitätsterror möchte ich die gelungene Halbheit loben. Die Süße und die Schönheit des Lebens liegt nicht am Ende, im vollkommenen Gelingen und in der Ganzheit. Das Leben ist endlich, nicht nur weil wir sterben müssen. Die Endlichkeit liegt im Leben selber, im begrenzten Glück, im begrenzten Gelingen, in der begrenzten Ausgefülltheit. Hier ist uns nicht versprochen, alles zu sein. Souverän wäre es, die jetzt schon mögliche Güte des Lebens anzunehmen und zu genießen; das Halbe nicht zu ver-achten, nur weil das Ganze noch nicht möglich ist.'
Steffensky nimmt auf Paulus Bezug und stellt mit ihm fest: ‚Der Mensch ist, weil er sich verdankt.' Damit spricht Fulbert Steffensky in seiner kleinen Schrift ein Letztes an, das mich zutiefst angerührt hat und zu einem Grundmotiv meines Lebens zurückführt, und das ich eben auch Leo verdanke: ‚Die große Grundfähigkeit des Lebens ist der Dank. Der Dank lehrt uns das Leben zu lieben.' Und ich möchte an dieser Stelle für mich selbst hinzufügen: Für mein überreiches Leben danke ich, konkret, weil ich mich selbst so (über)lebensnotwendig verdanke: der ungewöhnlichen Liebe meiner Eltern, der Liebe meiner Frau und meiner Kinder, der Aufmerksamkeit und Wertschätzung die mir Leo in all den Jah-ren unseres gemeinsamen Weges entgegengebracht hat. In diesem Sinne möchte ich das letzte Wort Fulbert Steffensky lassen:
Ich zitiere ihn ein letztes Mal: ‚Der Dank lehrt uns das Leben zu lieben. Ich – das ist jetzt Fulbert Steffensky – erzähle eine persönliche Geschichte: Ich habe den dramatischen Zusammenbruch meiner Frau zehn Jahre vor ihrem Tod erlebt. Wir haben Wochen um ihr Leben gebangt. Dann erholte sie sich, langsam und vollständig. Sie und wir haben gelernt, dass das Leben Frist ist. Und dies gab unserem Leben eine neue Intensität. Wir lernten die Selbstverständlichkeiten des Lebens als große Gaben zu schätzen. Dass ein neuer Morgen kam, war nicht mehr selbstverständlich, das Lachen unserer Enkel und dass wir zusammen weiter leben durften, waren nicht mehr selbstverständlich. Der Alltag hatte einen neuen Glanz. Wir haben die Bäume anders gesehen, wir haben unsere Liebe intensiver erfahren, wir haben gelernt, was Brot und was Zeit ist. Wir haben die Gaben des Lebens als uns ungeschuldete und als unverdienbare kennen gelernt. Die Dankbarkeit ist wie eine neue Schöpfung der Dinge. Und auch der nach zehn Jahren erfolgte Tod meiner Frau hat diese Dankbarkeit nicht durchstreichen können. Wer weiß, dass er sich verdankt, ist des Lebens fähig, vielleicht auch des Sterbens.'
Danke Leo!
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Was mögen die Müllmänner denken
(dieses Gedicht findet ihr - neben vielen anderen - in der "Mohnfrau" - demnächst als PDF unter "Eigene und fremde Bücher")
Was mögen die Müllmänner denken,
Wenn die Tonnen vor Windeln bersten?
Um Deutschland scheint es bestens bestellt
Es poppt sich in eine neue Kinderwelt?
Kämen sie auf die Idee, genauer hinzuschauen,
Dann würden sie merken –
Das müssen recht große Kinder sein,
High-Tech-bewindelt
Mit 2-Liter-Fassungsvermögen.
„Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder"
Geht an der Sache vorbei:
Kinder wachsen hinein in die Welt
Und in die Welt der Sprache.
Die großen Kinder hingegen
Stürzen hinaus
Und hinein in den Alptraum,
„Die Krankheit zum Tod".
Wir fallen mit ihnen
– Noch nicht so ganz,
Wenn wir flechten
Aus Windeln den Ehrenkranz.