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Der ewige Kreislauf von Werden und Vergehen – Erinnerungen an den Tod meines Vaters im März 1988
Der folgenden Erinnerungen sind dem Buch: "Ich sehe was, was du nicht siehst - Komm in den totgesagten Park und schau" (S. 157-172) entnommen. Die mit Fotos ausgestattete Version kann man sich durch obigen Link verfügbar machen. Der Tod und Sterben von Vater und Mutter - oder auch Geschwistern bzw. Großeltern markieren "Wendepunkte" im Sinne der Luhmannschen "Lebenslauftheorie". Die folgenden - ca. zwölf Jahre nach dem Tod meines Vaters aufgezeichneten - Erinnerungen verbürgen ein große Kontinuität meines Denkens und Fühlens:
Es gab lange Zeit ein kraftvolles Ritual, worin - bei aller frühen jugendbewegten und ablösungsnotwendigen Distanzierung von Traditionen - die Verbundenheit mit den Wurzeln der Heimat und der Gemeinschaft auflebte: Kirmesmontag führte die Familie und die Vereinsgemeinschaft im Festzelt des SC07 Bad Neuenahr zusammen. Das sind die Lebenssituationen, wo man im Sinne von Familienzugehörigkeit und im Sinne der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft die Zeit anhalten möchte oder zumindest als slow-motion intensivieren möchte. Die Verlangsamung der Bewegung und des Denkens wurde durch den Konsum alkoholischer Getränke begünstigt. Da kamen alle noch einmal zusammen, nicht als Trauergemeinde, nein alljährlich als moderate Sauf- und Festgemeinde. Und mein Vater, mein Bruder, meine Schwester, vor allen die Ulla, bildeten das Zentrum. Vater und Bruder - schon jeder auf seine Weise Institution und nicht wegzudenkende Keimzellen und Arbeitstiere in diesem alljährlichen Kraftakt des SC07. Und wir, alle anderen waren dabei; früher die Schulfreunde, später die Studienfreunde, die Freundinnen, noch später die Schwiegertöchter, deren Zugehörigkeit von meinem Vater regelmäßig in der Sektbar bekräftigt wurde - bis 1987.
1987 war mit der Kirmes die Wende eingeleitet und die letzte schwere Runde eingeläutet, so dass man, angesichts des Verlaufs dieser letzten sieben Monate, meinem Vater den von ihm immer gewünschten „schnellen Tod“ auch vergönnt hätte. Aber auch wenn diese sieben Monate einen Leidensweg bezeichnen, so war diese Zeit nicht ohne Hoffnung, bis zuletzt. Denn was sich an diesem Kirmesmontag 1987 zeigte, war zunächst nichts anderes als eine Gallenkolik, vielleicht schon eine Entzündung der Gallenblase.
Für mich war dieser Kirmesmontag 1987 aber auch in anderer Hinsicht noch bemerkenswert. Es war die erste Kirmes mit Laura. Laura war genau 2 Monate alt. An diesem Kirmesmontag, einem milden Herbstvormittag, habe ich mit ihr einen langen Spaziergang durch den von mir geliebten Kaiser-Wilhelm-Park bis hoch zum Dahliengarten gemacht. Es gab einen ersten kleinen Anflug von Routine, einen Rhythmus, der es erlaubte, einen Vormittag, einen Tag zu planen und zu gestalten. Diese letzte Kirmes stand also einerseits im Zeichen von Laura - und natürlich auch von Ann-Christin, die ein knappes Jahr älter ist als ihre Cousine Laura. Andererseits nahm dieser schöne Herbsttag eine bedrohliche Wende. Am Nachmittag waren wir bei Ulla und Ernst in Ahrweiler zum Kaffee eingeladen.
Traditionell ging der Frühschoppen über in einen ausgedehnten Kaffee zu Hause in der Kreuzstraße 113. Dort trudelten bis zum späten Nachmittag Verwandte und Freunde ein. Ein großes buntes Treffen; wie immer ein offenes Haus, das wegen seiner Gastlichkeit und Offenheit von vielen Menschen geschätzt wurde. Hier gibt es die schönsten Erinnerungen an den Aufbruch von der Kindheit in die Jugend - von der Schule ins Leben, Kirmesmontag immer ins Festzelt - vom Festzelt in die Kreuzstraße, wo jeder willkommen war.
An diesem Kirmesmontag 1987 war das zum ersten Mal anders. In Ahrweiler verschlimmerte sich das Befinden meines Vaters deutlich. Die Schmerzen nahmen zu, und wir entschlossen uns nach langer Beratung und den unausweichlichen Widerständen meines Vaters ins Krankenhaus zu fahren. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie lange der erste Aufenthalt meines Vaters im Bad Neuenahrer Maria-Hilf-Krankenhaus gedauert hat. Behandelt wurde jedenfalls eine Entzündung der Gallenblase. Es gibt im Verlauf dieses ersten Krankenhaus-Aufenthalts meines Vaters eine kleine Geschichte, an die ich mich erinnere: Der „Män“, ein etwa gleichaltriger Cousin meines Vaters (auf diesem Foto zwischen meiner Mutter und der Schwester meines Vaters, Tante Agnes) hatte eines Tages „Reibekuchen“ - in Koblenz sagt man dazu „Krebbelchen“ - mit ins Krankenhaus gebracht. Das sind flache, in Fett ausgebackene Kartoffelkuchen. Rohe Kartoffeln werden fein gerieben, mit Eiern, fein gewürfelten Zwiebeln vermischt, dann mit Salz, Pfeffer und Muskat gewürzt und in der Pfanne mit viel Fett oder Öl ausgebacken; eine absolute Lieblingsspeise meines Vaters. Er hat drei oder vier Stück davon prompt gegessen und damit in der Familie einen Eklat heraufbeschworen. Der „Män“ - der heute noch lebt - war seither „persona non grata“. Rückblickend würden natürlich alle miteinander - bei aller Unvernunft - sagen, gut, dass er sie sich hat schmecken lassen. Daran ist er nicht gestorben.
Wie dann im Weiteren die Verlegung in den Koblenzer Kemperhof zustande gekommen ist, kann ich nicht mehr nachvollziehen. Die Gallenblase sollte entfernt werden. Warum dies nicht in Bad Neuenahr, sondern im Kemperhof geschah, weiß ich nicht mehr. Uns bescherte das in Güls immerhin den fast vierwöchigen Besuch meiner Mutter. Wir wohnten damals „Im Pühlchen 1a“ - in einer großen, sich über das erste Obergeschoss und das Dachgeschoss erstreckenden Wohnung. Von unserem Dachbalkon aus konnte man auf die Mosel schauen und schräg gegenüber, moselabwärts bis zum alten Kemperhof. Eingeprägt hat sich mehrfach ein Bild, bei dem ich am Fenster stehend meine Mutter mit meinen Blicken begleite, während sie auf der anderen Moselseite in Richtung Kemperhof geht; ab und zu auch noch den Kinderwagen mit Laura vor sich herschiebend. Der Fußweg von uns zum Kemperhof beansprucht etwa eine halbe Stunde über die Gülser Eisenbahnbrücke und dann am Moselufer mit seinen hohen Bäumen entlang.
Im Kemperhof ist mein Vater im November 1987 operiert worden. Diese Operation gestaltete sich kompliziert, eher durch die Schwierigkeiten einer angemessenen Anästhesie. Durch die Hirnschläge und wohl auch eine massive Beeinträchtigung des Herz-Kreislauf-Systems barg die Operation unkalkulierbare Risiken. Ich arbeitete damals beim Caritas-Verband in der Sprachförderung und Betreuung von Aussiedlern und Asylbewerbern. Ich habe - wie immer in solch existenziell bedrohlichen Situationen - alte Ängste und Befürchtungen in mir verspürt, die mich schon früh begleitet haben in dem Wissen um nachhaltige gesundheitliche Belastungen und Gefährdungen meiner Eltern.
Die Operation und die erste Phase danach hat mein Vater so überstanden, dass Hoffnung auf nachhaltige Gesundung bestand. Wir haben sogar damit begonnen, Vorbereitungen für seinen 65. Geburtstag am 11.12.1987 zu treffen. Auch hier gibt es im Vorfeld eine kleine Episode, die mich lange belastet hat und die fehlende Souveränität „junger, alter“ Eltern zeigt: Die Entlassung aus dem Kemperhof war von mir so arrangiert, dass eine erste Station - vielleicht sogar mit einer Übernachtung - bei uns in Güls sein sollte. Es hat großen diplomatischen Geschicks bedurft, um meinem Vater deutlich zu machen, dass er zu Hause eine bessere Möglichkeit der Erholung und Betreuung habe. Der eigentliche Grund, mögliche Infektionsgefahren für unser Baby - Laura - kommt mir heute absurd vor. Die Sorge war übertrieben und hat lange Jahre in Ansätzen einer fortgesetzten Haltung der Überfürsorglichkeit und der Vorsicht eine fragwürdige Kontinuität erfahren. Ein kleiner Trost liegt in den wenigen Begegnungen, die mein Vater dennoch mit Laura noch gehabt hat.
Es ist sicherlich die richtige Stelle, um zu erzählen, dass die Beziehung meines Vaters zu Ann-Christin sehr viel intensiver gewesen ist. Ihren dramatischen Höhepunkt hatte sie in einer akuten Magen-Darm-Infektion Ann-Christins, bei der zum Schluss wohl Stunden über Leben und Tod entschieden haben müssen. Ann Christin war zu diesem Zeitpunkt wohl erst ein halbes bis dreiviertel Jahr alt. Kinderarzt und örtliches Krankenhaus waren mit der dramatischen, über extremen Flüssigkeitsverlust einsetzenden Lebensgefahr überfordert. Nur der entschlossenen Haltung Helgas und Willis, die nachts nach St. Augustin in die Kinderklinik gefahren sind und der dort erfolgenden Akutmaßnahmen ist die Rettung Ann-Christins zu verdanken. Für meinen Vater muss dies eine Grenzerfahrung gewesen sein, die sich in seiner tiefen Art der Zuneigung und der Faszination über dieses Enkelkind - der Michael war damals ja schon 25 Jahre alt - ausgedrückt hat.
Wie schwierig im Übrigen für relativ „alte Eltern“ die Eingewöhnung in die Welt mit Kind war, zeigt der im engen zeitlichen Kontext stehende 50. Geburtstag meines Schwagers Ernst. Am 3. Dezember feierte er seinen runden Geburtstag auf der Adenbach-Hütte in Ahrweiler. Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt noch nicht soweit, als dass er daran mit Lust und Laune hätte teilnehmen können. Meine Eltern wohnten noch in meinem Elternhaus in der Kreuzstraße 113, während Willi und Helga mit Ann-Christin noch auf der anderen Ahrseite in einer großen städtischen Wohnung lebten, die in den Gebäudekomplex des städtischen Gartenschwimmbades integriert war. Sie hatten uns angeboten dort zu übernachten.
Rückblickend stellt sich unser (Claudias und mein) Verhalten als ein über die Maßen ängstliches Such- und Tastverhalten dar. Ein kleines Beispiel mag in der diplomatischen Zurückweisung liegen, mit der wir alle „Einmischung“, teils auch Formen von Nähe zurückwiesen. Den eigenen Weg auf unsicheren Füßen selbst suchen und finden. So geriet dieser Geburtstag zu einem einzigen Horrortrip, weil wir uns entschlossen hatten, Laura in Willis Wohnung am Schwimmbad unter Betreuung einer Bekannten für einige Stunden „allein“ zu lassen. In der Unsicherheit und in der Ängstlichkeit gab es kaum Unterschiede. So konnten wir uns natürlich auch nicht mit der entsprechenden Ruhe und Gelassenheit der Geburtstagsfete zuwenden. Und natürlich hat Laura die drei Stunden unserer Abwesenheit unentwegt geschrieen; aber immerhin hat sie‘s überlebt.
Eine deutliche Erinnerung habe ich allerdings noch daran, dass ich gegen 20 Uhr, nachdem das Büfett eröffnet war, mit leckeren Sachen von Ahrweiler aus nach Bad Neuenahr gefahren bin, um meinem Vater ein köstliches Abendessen zu bringen. Eine Zeit lang - vielleicht eine halbe Stunde - habe ich mit ihm zusammen gesessen, und es ist mir ein recht lebendiges Bild in Erinnerung geblieben: Unser Wohnzimmer in der Kreuzstraße war - wie wohl die meisten Wohnzimmer in den 70er und 80er Jahren – eigentlich ein „Fernsehzimmer“. Neben der obligatorischen Couch mit Wohnzimmertisch stand meines Vaters Fernsehsessel, einer Erfindung der 70er Jahre. Ein breiter, bequemer Sessel, den man dank eines stabilen Kippmechanismus in einen Liegesessel verwandeln konnte, ausgerichtet, nicht in kommunikationsförderlicher Weise, auf die anderen Sitzgelegenheiten hin, sondern daran vorbei auf den Fernseher, der in einer eigens dafür ausgesparten Fernsehnische im Wohnzimmerschrank stand.
Als ich kam, saß er dort, vermutlich bei einer seiner Lieblingssendungen (Der Fahnder, Stan und Olly...): „Wie isset?“ „Et jeit!“
Es ging - ich habe jetzt seitenlang belangloses Zeug zusammengeschrieben, nur um mich zu der Grundstimmung vorzuarbeiten, die mir mehr hoffend als zuversichtlich sagte: Geschafft! Die Tortur der letzten zwei Monate ist ausgestanden, eine Ende ist gefunden, ein Anfang gemacht. Die Ursache allen Übels - eine entzündete Gallenblase - ist entfernt. Und in dieser Entfernung von drohendem Übel zeigt sich die Perspektive der nächsten Jahre überdeutlich. Und in der Tat, es schmeckte meinem Vater wieder. Er hatte - und dies sollte sich in den nächsten drei bis vier Monaten noch deutlich stabilisieren - einige Kilogramm zugenommen, und er hatte seine rosa-rote, eher gesund als kränklich erscheinende Gesichtsfarbe, er hatte das alte schelmische Lachen zurückgewonnen, er neigte wieder mehr zu einer scherzhaften mit sanfter (Selbst)Ironie gepaarten Grundhaltung. Und vor allem: Er nahm Zug um Zug seine gewohnten Aktivitäten wieder auf. Morgens ausschlafen, Besorgungen machen (mit dem Auto) für die eigene Familie, für die Nachbarschaft, regelmäßiger Mittagstisch, nachmittags ein Spielchen. Nicht mehr Skat, dafür war die Frauenpräsenz zu erdrückend. Mama, Tante Annemie, Frau Jochemich, Frau Thieme, so gut wie keine Männer; also eher Rommé oder Kniffel. Die Männer kamen dann abends ins Spiel. Wer Mann bleiben will, muss unter Männer gehen.
Am Abend - und ich glaube es gab in den letzten Jahren in der Woche wenige Abende, an denen dies nicht der Fall war - war Theo die gute Seele im Vereinsheim des SC07 Bad Neuenahr. Ja meine Güte, wenn das nicht heißt: Jetzt, mit 65 über den Berg und dann auf der Hochebene noch mal 10 bis 15 geruhsame Jährchen, natürlich auch im Vereinsheim; das lag mal gerade 100 Meter von der Kreuzstraße. 113 entfernt auf der anderen Straßenseite. Dort trug er die Verantwortung für die gesamte abendliche Betreuung sowie für wichtige Angelegenheiten des Spielbetriebs. Da war über Jahre eine gewisse Unentbehrlichkeit: Einkauf, Thekenbetrieb sicherstellen (Würstchen und Brot, Getränke), den Spielbetrieb ermöglichen: Organisation des Waschens und Pflegens der Trikotagen, Instandhaltung = Aufpumpen und Fetten der Bälle; Verkauf, ja Thekenbetrieb! Und die sonntäglichen Aufgaben eines Platzwarts. In diese Arbeiten hat er mich Zug um Zug einbezogen. Viele Jahre haben wir gemeinsam den Spielbetrieb gewährleistet und damit eine angenehme Aufbesserung meines Taschengeldes sichergestellt.
Nach dem Training, nach dem Duschen trafen sich Spieler und Trainer zu einem Bier, einem Würstchen und zu „Plänerei“, zum Fachsimpeln. Vorher aber, während die Jungs noch trainierten, trafen sich im Vereins-heim, an dessen Wänden die Zeugnisse einer glorreichen Vergangenheit den passenden Rahmen abgaben, also dort - nicht im „buena vista-social-club“, sondern im „buena-vista-football-social-club“, dort trafen sich die alten Kämpen: immer, solange er lebte Witsche-Pitte (Namens-, Job-, Kampf-, Weggefährte meines Vaters in Beruf, Hobby und Spiel und Vater von Peter-Georg, der in Kinder- und Schulzeit mein Weg- und Kampfgefährte war), die Brüder von Witsch-Pitte, der Albert, der Hans, Elfgangs Pitte, Schwedens Heinz, Wirtze Jünter, sein Schwager, H.G. Hansen und wie sie alle hießen. Alle tranken ein Bier, zwei oder drei, viele aßen ein Würstchen, mein Vater immer. Die Würstchen waren excellent - und mein Vater machte Profit. Der Gewinn floss in die Vereinskasse. Ein elementares, urwüchsiges Phänomen der Gemeinschaftserfahrung. Der Fußballplatz und das Vereinsheim vor der Haustüre. Dort war ein Ort der Sozialisation, für meinen Vater ein zentraler Lebensmittelpunkt, ein Ort, an dem sich leben, trinken, essen, lachen, erzählen ließ, an dem die Höhen und Tiefen der Vereinsgeschichte durchlitten, gefeiert und bewältigt wurden.
Wundert es da, dass am 17. April 1988 der Anruf kam, von dem ich an anderer Stelle gesagt habe, dass er irgendwann kommt, und dass er kommen darf, am Tag und in der Nacht. Aber er kam gar nicht in der Nacht. Es geschah am helllichten Tag, kurz vor Abpfiff. Ab und zu habe ich es mir auch noch als verheirateter Mann und sogar noch als Vater herausgenommen, die erste oder zweite Mannschaft unseres Vereins anzuschauen. Aus diesen seltenen Erfahrungen weiß ich, wie schon früher an eigener Haut erlitten, die unsäglichen Reaktionen und die „Anteilnahme“ der Altvorderen einzuschätzen. Wenn die Jungs, die ja letztlich - als aktuelle erste oder zweite Mannschaft die Vereinsfarben vertreten, versagen, die hochgeschraubten Erwartungen enttäuschen, wenn klar wird, wie klaffend groß ihr Unvermögen gegen die eigene Klasse sich ausnimmt, ja dann war die Stunde der Adrenalinschübe, der fortgesetzten Hypertonie, der Zornesausbrüche, der stillen Enttäuschung und des Schmerzes über den Verlust der eigenen Jugend und der eigenen Unbesiegbarkeit. Meinem Vater trete ich mit der letzten Aussage uneingeschränkt zu nahe. Ihn, gerade ihn, habe ich Zeit meines und seines Lebens als über die Maßen fairen Sportsmann erlebt. Da nahm er als Jugendbetreuer auch keine Rücksicht auf meinen Lahnsteinschen Jähzorn. Konsequent stellte er mich als Gastschiri in Dernau während eines C-Jugendspiels vom Platz, als ich einen schwergewichtigen Gegenspieler, der es geschickt verstand, den Ball abzudecken, in den Allerwertesten trat, als mir der Geduldsfaden riss. Fortan war Fairness eine Lektion, die ich in beständiger Anschauung – und in demütiger Akzeptanz ab und zu auch heute noch aufwallenden Jähzorns - von meinem Vater gelernt habe. Das nachstehende Foto zeigt ihn übrigens mit seinen „Schwägern“, Onkel Günther (Wirtz- ganz links) und Onkel Fred (Boemann- ganz rechts) als Mitglieder der Meistermannschaft von 1948) – aber um die Fotos anzuschauen, müsst ihr euch die Originalversion (S. 157-172) herunterladen.
Es muss jedenfalls eine dieser schmerzlichen Niederlagen gewesen sein, die über die Jahre einen stolzen Verbandsliga-Verein Zug um Zug in die Mittelmäßigkeit eines Landes-, später eines Bezirksligisten geführt hatten - den Niedergang in die Kreis-(A)-Klasse hat er nicht mehr erleben müssen, wobei das im Übrigen an seiner Vasallentreue dem Verein gegenüber nicht ein Jota verändert hätte - und die vielleicht an diesem Sonntag, dem 17. April 1988 den Auftakt bedeutet hatte zum finalen Show-down. Der finale Niedergang mit Insolvenz und Vereinsauflösung „seines“ SC 07 Bad Neuenahr im Jahr 2014 hätte sicherlich identitätsgefährdend, wenn nicht –auflösend gewirkt. Aus dem Elysium heraus mag sich all dies (hoffentlich) etwas milder ausnehmen.
Der Anruf kam irgendwann nachmittags gegen 16.00 Uhr. Ich solle mich nicht aufregen, aber man habe Papa vorsorglich ins Krankenhaus gefahren. Es sei ihm während des Spiels der 1. Mannschaft „schlecht“ geworden. Er ist wohl noch nach Hause gekommen und dann aber selbst damit einverstanden gewesen, ärztlichen Rat hinzuzuziehen, auch am Sonntag. Aufrecht sitzend auf der Bahre, aber schon mit den Füßen voraus, ist er aus dem Haus getragen worden, Nachbarn noch zuwinkend mit dem Hinweis, die (die Ärzte) würden nur mal nachsehen, in ein paar Tagen sei er wieder da. Ich war schon eine Stunde später da, im Krankenhaus Maria Hilf, in Bad Neuenahr. Aber ich war schon zu spät, um mir selbst die hoffnungsvolle Botschaft von ihm abzuholen, er sei in ein paar Tagen wieder da. Mama, Willi, Ulla, Ernst, Gaby, die ihn begleitet hatten, konnten mir nur mitteilen, im Krankenhaus, noch während der ersten Untersuchung, sei ein zweiter Infarkt hinzugekommen. Er sei jetzt auf der Intensivstation, wo alles Erdenkliche getan werde, aber dort könnten wir jetzt nicht hin.
Gerade in einer solchen Situation lässt man sich von solchen Hinweisen allzu gern beschwichtigen. 1988 hatte die Intensivmedizin schon allerhand auf der Pfanne. Wenn vom Zeitpunkt des ersten Infarkts bis zur notärztlichen Versorgung und schließlich bis hin zur intensivmedizinischen Klaviatur mal gerade eine Stunde vergangen war, ja verdammt noch mal, dann müsste es doch mit dem Teufel zugehen, wenn man diesem kein Schnippchen schlagen würde.
Ja, verdammt noch Mal, es ging mit dem Teufel zu. Vom 17. bis zum 24. April dauerte das langsame, schnelle Sterben meines Vaters. Wir haben an diesem Sonntag in der Kreuzstraße zusammengesessen und dabei auch überlegt, wie wir gemeinsam uns vereinbaren und kümmern könnten. Ich bin nach Hause gefahren an diesem 17. April, habe mir montags Urlaub genommen und bin mittags nach Bad Neuenahr gefahren und habe meinen Vater erstmals nach seiner Einlieferung ins Krankenhaus gesehen. Er lag ruhig und „ohne Bewusstsein“, verstrippt mit verschiedenen Überwachungsgeräten und an Infusionen angeschlossen. Später erst habe ich erfahren, dass die Herz-Lungen-Funktion unterstützt wurde, und dass der Organismus aus eigener Kraft wohl schon da, an diesem Montag nicht mehr lebensfähig gewesen wäre. In der Ruhe und mit „gesunder“ Gesichtsfarbe - eigentlich so, wie ich ihn in den letzten Jahren immer gesehen habe, wenn er sich in seinen Grenzen wohlgefühlt hat - war mein persönlicher Eindruck eher von Zuversicht getragen, auch von Hoffnung und Vertrauen in ärztliche Kunst und Kompetenz. Skeptisch im Sinne von nüchtern und später auch Abgeklärtheit war am ehesten meine Schwester. Sie hatte auf dem Hintergrund ihrer Erfahrungen in der Altenpflege vielleicht den klarsten Blick. Wir, der enge Kreis, die wir wohl auch hier eher intuitiv geleitet, uns an diesem Montag entschlossen haben, dafür zu sorgen, dass immer jemand bei ihm sein sollte, waren wirklich der enge, innere Zirkel, der in solchen Grenzsituationen darüber entscheidet, wer was tut und wer was lässt: Mama, Ulla, Willi und ich, im weiteren Kreis - eher als Besucher - Gaby, meine Tanten Annemie (Schwägerin) und Agnes (Schwester meines Vaters), meine Schwägerin Helga, mein Schwager Ernst und mein Onkel Günther (Schwager meines Vaters, ob der einmal da war, vermag ich nicht mehr zu erinnern) und schließlich Claudia, die aufgrund der erst acht Monate alten Laura in Güls gebunden war.
Inwieweit sich Hoffnung, Fatalismus, Resignation, Aktionismus und stille Verzweiflung zu einer Haltung vermischten ist mir bis heute nicht ganz klar. Klar hingegen ist, dass diese Mischung für diese eine intensive Woche eine Grundausstattung bedeutete, die uns alle eingebunden hat in die Begleitung zum Tod hin. Was aus einer anderen Dynamik und einem anderen Verlauf resultiert wäre, vermag ich nicht zu sagen. Anfangs war auch kein Gedanke an das Ende. Dessen Unausweichlichkeit hat sich - zumindest für mich - erst nach Tagen herauskristallisiert. Die ersten Tage saßen wir häufiger noch gemeinsam an seinem Bett und ich erinnere mich, dass aus der Gleichförmigkeit der akustischen Signale der Überwachung und der Unterstützung sowie aus der eigentlich ebenso gleichförmigen, ruhigen Ausstrahlung seines Daliegens eher auch für mich Hoffnung auf Besserung und eine Wende seines Zustands resultierte. Ich hatte mittwochs oder donnerstags ein Gespräch mit einem der diensthabenden Ärzte. In diesem Gespräch wurde erstmals von einem Arzt in Aussicht gestellt, dass bei der Schwere des Infarkts eine Besserung seines Zustands und eine Rückkehr in die Familie nur bedeuten könne, als Schwerstpflegefall weiterleben zu müssen, im Rollstuhl, mit gravierenden Lähmungsfolgen, u.U. auch Hirnschäden und damit verbundenen Beeinträchtigungen.
Vielleicht begann damit für mich der bewusste Prozess, der Beginn des Abschiednehmens mit ständig schwindender Hoffnung. Viel deutlicher hat dies zu diesem Zeitpunkt meine Schwester gesehen. Und sie hat wohl auch nach Gesprächen mit den zuständigen Ärzten zum ersten Mal mit meiner Mutter gemeinsam erwogen, die lebensverlängernden Maßnahmen (Herz-Lungen-Maschine) in Frage zu stellen. Zu einigen Ärzten gab es von Willis und Helgas Seite aus auch private Kontakte. Der Tenor all dieser Gespräche lief auf ähnliche Prognosen hinaus. Diese eine Woche bereitete mich darauf vor, das Unabwendbare nicht mehr auszuschließen. In diesen Tagen hatte sich für mich ein Rhythmus herausgebildet, der mir intensiv Gelegenheit bot, mich mit dem Tod als Möglichkeit auseinanderzusetzen.
Bis auf die letzte Nacht, von Samstag auf Sonntag, bin ich immer „nach Hause“ - nach Güls - gefahren, habe dort einige Stunden verbracht, Besorgungen gemacht, mich mit Laura beschäftigt und bin dann - nach einem groben Plan und ad hoc-Entscheidungen zu meinen „Wachen“ gefahren. Gerade die Fahrten - frühmorgens oder in der Nacht gaben immer Gelegenheit ein wenig Abstand zu gewinnen, gleichermaßen aber auch im Allein-Sein die Vorstellung von einem Leben ohne meinen Vater in meinem Vorstellungshorizont zuzulassen; um auch darüber nachzudenken, was uns beiden „Nihilisten“ denn nach diesem Ende bliebe? Im Gegensatz zu meiner Mutter hat mein Vater nie erkennen lassen, dass es für ihn die Hoffnung auf ein Jenseits gebe, auf irgendetwas, was den Tod nicht als ein Nichts verstehe. Das war kein Thema für gemeinsame Gespräche, es war eher eine zutiefst skeptische, vielleicht indifferente Haltung zu allem, was das Diesseits in irgendeiner Weise überschritt. Aber auch solch einer Sichtweise gegenüber wirkt eine skeptische Haltung eher befreiend.
Seit den dreizehn Jahren, die seither vergangen sind, hat sich mein eigenes Denken Schritt für Schritt von der Hybris entfernt, die aus unserem Denken und Erkenntnisvermögen irgendwelche veritablen Positionen ableiten will, mit denen Klarheit in die Welt, in das Sein und das Nichts zu bringen wäre. Kleine Geschichten haben mich zutiefst irritiert und tiefe, mir wohltuende Skepsis erzeugt gegenüber allen „rational“ begründeten Positionen, die vorgeben mehr zu wissen, als dass wir wissen, dass wir nichts wissen.
In der Nacht vom 23. Auf den 24. April habe ich bis 4.00 Uhr in der Frühe am Bett meines Vaters gesessen. In mir war in dieser Nacht mehr Unruhe. Ich bin oft nah an das Bett zu ihm hingegangen. Augenscheinlich – nach Fülle und Farbe seiner Gesichtszüge - sah mein Vater „gut“ aus. Die Maschinen täuschten die Regelmäßigkeit des Atmens und des Herzschlags vor. Und dennoch war da etwas anderes. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit bin ich zum Abschied ganz nah zu ihm hingegangen und habe seinen Kopf in meine Arme genommen. Ich habe mit ihm gesprochen und habe zu ihm gesagt: „Papa, mach dir keine Sorgen, es wird alles gut.“ Tränen sind mir dabei über mein Gesicht gelaufen und meine Überzeugung ist bis heute, dass die Augen meines Vaters, die ge-schlossenen Augen feucht geworden sind, dass eine Form von Resonanz da war. Wir haben an diesem Morgen beide Abschied genommen. Ich bin nach Hause, nach Güls gefahren, und der Anruf, dass er gestorben war, kam im Laufe des Tages. Eine zunehmende Gewissheit, dass die medizinischen Möglichkeiten nicht mehr weiterhelfen, hatte auch Vorbereitungscharakter. Und dennoch: Die Nachricht wirkte wie ein Keulenschlag, und ich habe sie auch nicht „gefasst“ aufgenommen, sondern mit Bitterkeit und Fassungslosigkeit. Es war eine stille, verzweifelte Haltung, in der sich der Körper krümmt und die Tränen hemmungslos fließen. Ich habe vielleicht eine Stunde in meinem Arbeitszimmer verharrt, bevor sich in mir wieder Regung zeigte.
Die Handlungsimpulse sind mir bis heute unklar geblieben. Wie in einer Trance bin ich dann irgendwann an eines der Regale gegangen, in denen tausende von Büchern standen und habe eines „zielsicher“ genommen. „Zielsicher“ nicht in dem Sinne, dass ich irgendetwas gewusst, gesehen hätte, sozusagen absichtsvoll dieses und nur dieses Buch und kein anderes aus dem Regal genommen hätte. Nein, ich habe dieses und kein anderes Buch genommen, ohne damit eine klare und zielgerichtete Handlung zu vollziehen. Und dieses Buch fällt an einer Stelle auf, man kann sagen an einer „Soll-Auffall-Stelle“, wo ein getrocknetes Kastanienblatt seit fast 20 Jahren unberührt auf diesen Tag gewartet hatte. Das Blatt - dies war in meiner Erinnerung sofort präsent - hatte ich aus einer Kastanie gezogen, die ich selbst zum Keimen gebracht hatte. Das größte und ebenmäßigste Blatt habe ich damals getrocknet und gepresst und in dieses Buch eingelegt. In diesem „philosophisch-politischen Lesebuch“, das Schriften und Aufsätze von Karl Jaspers zusammenfasst, hatte ich fast zwanzig Jahr zuvor gelesen und mir einige Textstellen markiert:
„Wir sterben hin zu den geliebten Toten. Sie empfangen uns in ihrem Kreise. Nicht eine Leere des Nichts nimmt uns auf, sondern die Fülle des wahrhaft gelebten Lebens. Wir treten ein in einen von Liebe erfüllten, durch Wahrheit hellen Raum.“ Und dann:
„Die Gewissheit der Ewigkeit spricht Sokrates noch im letzten Augenblick seines Lebens aus. Auf Kritons Frage, wie sie ihn bestatten sollten, lächelte er und antwortete: Kriton will es mir nicht glauben, daß dieser Sokrates hier, der jetzt mit euch spricht, mein wahres Ich ist. Er glaubt vielmehr ich sei jener, den er in kurzem als Leichnam sehen wird. Daher die Frage, wie er mich bestatten soll. Aber, fährt er fort, wenn die Freunde seinen Leib verbrennen oder begraben sehen, sollen sie nicht die Fassung verlieren, als ob Sokrates etwas Schreckliches widerführe, und nicht sagen, dass es Sokrates sei, den sie hinaustragen oder beerdigen. Es ist nur sein Leib, den sie bestatten, so wie es ihnen lieb ist und es am meisten dem Brauch zu entsprechen scheint. Er selbst ist längst davongeeilt.“
Natürlich habe ich diesen Text aus dem Menon-Dialog (Phaidon) mit nach Neuenahr genommen. Und kein Text aus den Schatztruhen der Menschheitskulturen hätte mich und vielleicht auch die anderen besser vorbereiten können auf das, was zwar aus der Tradition christlicher Bestattungsriten eine gute und notwendige Form des Abschiednehmens darstellt, aber eher unter den Bedingungen, die das Sterben noch im familiären Kreis kennt. Von meiner Oma und von meinem Opa haben wir auf diese Weise Abschied genommen, zu Hause. Meine Mutter hat uns vorgeschlagen und uns Geschwister gebeten, mit ihr (und Liesel, ihrer Cousine aus Niederadenau) gemeinsam dies in der Leichenhalle des Friedhofs zu tun. Für mich und die anderen war klar, dass wir ihr diesen Wunsch nicht versagen würden. Ich erinnere mich, dass ein Beutel mit seinen Lieblingsbonbons als „Wegzehrung“ und auch noch ein Kettchen in den Sarg gelegt wurden, und ich bin erstaunt, dass auch bei uns „heidnische“ Riten lebendig waren.
Die Kraft und der Trost der zitierten Textstelle beziehen sich auf die Erschütterung, die ich beim Anblick der „sterblichen Hülle“ meines Vaters erfuhr. Ich wähle bewusst diesen Begriff der „sterblichen Hülle“, weil so sehr offenkundig wurde, wie sehr die lebenserhaltenden Maßnahmen über den eigentlichen Verfallsprozess doch hinweggetäuscht hatten. Und mehr denn je zweifle ich an der Sinnhaftigkeit und auch an der Legitimität manch unmenschlicher Akte der medizinischen „Fürsorge“. Nicht alles, was Menschen unter diesem Signum tun, ist auch human. Im Übrigen gilt dies aus meiner Sicht nicht für die medizinisch angemessene, aber eben nicht über Gebühr ausgedehnte Versorgung meines Vaters im Krankenhaus Maria Hilf in Bad Neuenahr.
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Komm wir machen ein Buch: Adrian im Gespräch mit Josef (Die beiden sitzen in der Biwel – ihr könnt es übrigens auf dem Schutzumschlag des Buches sehen – und unterhalten sich über das neue Buch - Kopfschmerzen und Herzflimmern
Adrian Nemo: Lieber Freund, ich freue mich, dass Sie sich endlich Zeit nehmen für dieses Gespräch. Es wurde ja höchste Zeit, um den Erscheinungstermin des Buches nicht zu gefährden. Lassen Sie mich zunächst fragen, wie ich Sie anreden darf?
Witsch-Rothmund: Ja, mein lieber Adrian, es steckt ja immer eine ganze Geschichte dahinter, wie Menschen zu Namen kommen. Die meine möchte ich an dieser Stelle nicht wiederholen, man kann sie nachlesen in dem 2003 erschienen Gedichtbändchen „Das Leben – Ein Klang“. Obwohl – wie eine gute Freundin einmal bemerkte – alle Namen, die einem zukommen, gute Namen sind, ist es mir recht, wenn Sie mich Josef nennen. Und wenn Sie nichts dagegen haben, biete ich Ihnen als der Ältere von uns beiden an dieser Stelle das „Du“ an.
Adrian: Ja, gerne lieber Josef, einverstanden! Bevor ich Einzelheiten erfahren möchte über deine Motive, Bücher – und auch insbesondere dieses Büchlein hier – zu machen, bitte ich dich zunächst einmal so etwas zu beschreiben wie das Urmotiv, wenn es so etwas überhaupt gibt.
Josef: Oh ja, in der Tat gibt es so etwas, wie ein „Urmotiv“. Es ergibt sich ganz einfach aus dem außerordentlichen Spaß an der Gestaltung von Buchstabenwelten. Susan Sontag hat das einmal so beschrieben, dass selbst beim zaghaftesten Schreiben ein Weg aus Wörtern entsteht, den man weitergehen will. Damit meine ich im Übrigen nicht nur den Prozess des Schreibens selbst, sondern in besonderer Weise auch die handwerkliche Seite, ein Buch zu machen, bis man es schließlich in der Hand hält und darin blättern kann. Es gibt daneben ein zweites, ganz anders geartetes Motiv: Gegen Ende dieses Gesprächs werde ich dir auf eine sehr intime Frage mit den Worten Roland Barthes’ antworten, dass das „Subjekt“, das ich selbst bin, keine Einheit bildet. Diese Erfahrung teile ich mit ihm, insofern ich die damit postulierte Einheit meiner selbst in mir nicht wieder finde. In den hier zusammengestellten Texten begegne ich mir immer wieder auch selbst – und dies zum Teil auf überaus überraschende Weise. Ich bleibe der Frager, der über Antworten stolpert und der sich manchmal wie ein kleines Kind freut, weil es die verloren geglaubte Schaufel in der Buchstabenwelt plötzlich und unvermutet an einer ganz anderen als der erwarteten Stelle wieder findet. Auf diese Weise entstehen immer wieder Suchbewegungen mit neuen Fragen und neuen Antworten.
Adrian: Aha, ein Weg aus Wörtern; die Entstehung einer Buchstabenwelt und damit verbundene Suchbewegungen; ein interessantes Motiv! Aber bei dem, was mir bislang zu Gesicht gekommen ist, muss man doch zunächst einmal feststellen, dass es zum größten Teil gar nicht deine Texte sind, mit denen du dir einen Weg bahnst. Du pflasterst deinen Buchstabenweg – könnte man sagen – mit Textbausteinen, die du offensichtlich aus dem unerschöpflichen Steinbruch vorhandener Texte herausbrichst.
Josef: Ja und nein! Es gibt – darüber werden wir sicher noch ausführlicher reden – meine eigenen Texte, und es gibt die Texte, die ich mir in der Tat aneigne, die ich zu meinen Texten mache, indem ich sie auswähle und zu Collagen zusammenstelle. Dabei spielst du im Übrigen eine ganz entscheidende Rolle.
Adrian: Also bei allem Wohlwollen, so ganz verstehe ich das noch nicht. Kannst du mir das zweite Motiv – das mit den Suchbewegungen – vielleicht etwas einfacher und verständlicher erklären?
Josef: Versuchen wir’s! Von dir habe ich den Hinweis, dieses Buch habe – wie alle meine Bücher – etwas Chaotisches an sich. Was die Suchbewegungen angeht, so kenne ich viele Menschen, die sich in ihrem Leben, vor allem in ihrem Beziehungsleben, in ihrer Partnerschaft, in ihrer Familie, in ihren Alltagsbeziehungen – vorsichtig formuliert – schwer tun, ihr Leben, um es einmal völlig zu überspitzen, irgendwo zwischen Liebe und Wahnsinn organisieren. Die meisten wurschteln sich halt durch, wobei sie nicht selten auch leiden. Die Hintergrundmusik für dieses Durchwurschteln bildet ein radikaler gesellschaftlicher Wandel, der den Menschen eine ungleich größere Vielfalt von Möglichkeiten als früher eröffnet. Was die meisten Menschen dabei im Hinblick auf ihren Lebenstraum miteinander verbindet, scheint allerdings nach wie vor die Sehnsucht nach der einen, der großen, einzigartigen romantischen Liebe zu sein. Davon zeugen viele Umfragen, an dieser Nabelschnur hängen das Kino, die Musik, die Literatur und auf der anderen Seite inzwischen auch immer mehr Therapeuten.
Adrian: Und wenn wir das jetzt einmal auf den ganz normalen Alltag zurückstutzen, an ganz normale Menschen denken, wie du und ich, und wie sie hier im Café Hahn ein- und ausgehen, wenn wir uns also aller Überspitzung enthalten, glaubst du, dass dieses Buch etwas mit dieser ganz alltäglichen Normalität zu tun hat?
Josef: Was ist schon normal? Wir alle haben unsere Macken, in unser aller Leben zeigt sich bei aller Normalität auch das Besondere. Jeder einzelne von uns ist etwas Besonderes und er hat seine besondere Lebensgeschichte. Und mehr Menschen als je zuvor sind inzwischen therapieerfahren. Wenn man nun das Gemeinsame und das Verbindende herausstellen will, kann man zum Beispiel die Statistik bemühen: „Die Hoffnungsträger der Republik sind in Wirklichkeit eine hoffnungslose Brut. Sie sind zwischen 25 und 35 Jahre alt – und sie verweigern sich der Reproduktion. Eine ganze Generation potenzieller Eltern zieht es vor zu surfen, zu feiern…, statt auch nur einmal darüber nachzudenken, wer ihnen in vierzig Jahren die Schnabeltasse ans Pflegebett bringen soll.“ So eröffnet Jochen Bittner die dritte Folge der Zeitserie „Wo sind die Kinder?“ (ZEIT 6/04). Er lässt ein paar nüchterne Zahlen folgen, deren Interpretation in eine paradoxe, gleichwohl wenig überraschende Situationsbeschreibung mündet.
Adrian: Aber mein lieber Josef, das muss ich mir nicht unbedingt anhören, bloß weil du meinst, mit euern beiden Kindern hättet ihr – du und deine Frau – den „generativen Part“ erfüllt und könntet mir und anderen jetzt die rote Karte zeigen!?
Josef: Sei nicht so empfindlich! Ich weiß, dass Aufmerksamkeit ein knappes Gut ist, besonders dann, wenn man sich auch noch angegriffen fühlt. Du musst dich hier nicht wirklich angesprochen fühlen.
Adrian: Es ist immer dasselbe. Hast du mal das Interesse der Menschen geweckt, schon beginnst du zu langweilen.
Josef: Meine Güte, wart’ es doch erst einmal ab. Jochen Bittner gelingt es mit wenigen Zeilen und ein paar statistischen Daten jene Paradoxie herauszuarbeiten, die uns das ganze Leben über begleitet und die auch dieses Buch maßgeblich prägt: Er beschreibt nämlich, dass die Wahrscheinlichkeit für einen jungen Erwachsenen mindestens einmal zu heiraten, in Deutschland mittlerweile auf 60% abgesunken ist. In den sechziger Jahren betrug sie immerhin noch 90%. Die Scheidungshäufigkeit hingegen – so Bittner – habe sich in den vergangenen Jahren verdreifacht: „Die Aussicht, dass eine Ehe zerbricht, liegt heute statistisch bei 40% (in den siebziger Jahren waren es 13%).“ All die Trends, die dahinter stehen, stellt Bittner allerdings auch in den Kontext einer Zunahme von Lebenserfahrung: Individualität siege über alte Konventionen. Moral werde zur Verhandlungssache. Trennung und Scheidung seien keine Schande mehr: Die Deutschen mögen also freier sein als je zuvor. Aber – so Bittners Schlüsselfrage – „sind sie deswegen auch glücklicher“? Die Antwort ist eindeutig: Nein! Die Ergebnisse der zugrunde liegenden empirischen Studie, so die Schlussfolgerung, erscheinen paradox: „Auf der einen Seite gehen Beziehungen immer häufiger in die Brüche, auf der anderen Seite wünschen sich auch die Jüngeren eine lebenslange feste Beziehung – und nicht von vornherein eine auf Zeit. Sie glauben an die große Liebe und träumen davon, dass sie ewig währt.“
Adrian: Ist das etwa des Pudels Kern – die große Liebe? Warum sagst du das denn nicht gleich? Vom Winde verweht! Casablanca! Pretty Woman! Damit kann doch jeder etwas anfangen. Wobei mir das mit der Paradoxie schon einleuchtet. Das Leben der meisten Menschen nimmt sich doch dagegen ziemlich fade aus. Und welche Geschichten willst du uns nun erzählen? Welche Geschichten stecken denn hinter all diesen Statistiken und diesen nüchternen Zahlen?
Josef: Hinter den Zahlen verbergen sich natürlich hunderte, tausende, Millionen von Lebensgeschichten, alle unterschiedlich, alle ein bisschen gleich und alle auch immer ein bisschen paradox und widersprüchlich.
Adrian: Kannst du denn nicht wenigstens mal eine dieser Geschichten erzählen?
Josef: Ja, natürlich könnte ich das. Ich habe in meinem Büro hunderte von so genannten „Lerntagebüchern“, in denen junge Menschen ihre Geschichten erzählen, um ein wenig Klarheit und Unterscheidungsvermögen in ihre Lebensmotive und -visionen zu bringen.
Adrian: Ja und, spiegelt sich denn in diesen Geschichten die „große Zahl“ wider?
Josef: Sicher – mehr oder weniger ausgeprägt; und vor allem sicherlich so, dass man die Unterschiede geradezu schmeckt und spürt, die sich in einem ungeahnt erweiterten „Möglichkeitsraum“ individuell ergeben und darstellen lassen.
Adrian: Dann lass doch mal einen dieser Studenten erzählen!
Josef: Meinetwegen: Erzählt aus der Perspektive einer jungen Frau, mitten im Staatsexamen, nach einem Leben, für das die Achterbahn am ehesten als Sinnbild stehen mag; aber eben auch an einem Haltepunkt, der nach 26 Jahren gleichermaßen die Enttäuschungen und Zumutungen wie das Wachstum und die Ressourcen zur Lebensbewältigung sichtbar werden lässt:
„Als ich sieben war, trennten sich meine Eltern. Meine ganze bisher bekannte Lebenssituation veränderte sich. Wir verkauften unser Haus, meine Schwester zog zu meinem Vater, ich blieb bei meiner Mutter… Meine Eltern sind beide Akademiker und standen damals voll im Beruf. Durch die Trennung wurde ich auch von meiner Schwester getrennt. Ich besuchte meinen Vater jedoch regelmäßig. Meine Mutter arbeitete sehr viel, so dass ich die meiste Zeit allein war. Zu dieser Zeit besuchte ich die Grundschule, danach wechselte ich auf das Gymnasium. Meine Leistungen wurden sehr schnell schlechter, und ich musste die Schule verlassen. Über eine Hauptschule, die Berufsfachschule fand ich wieder den Einstieg ins Gymnasium. Es war schwierig den Anschluss zu finden – sowohl inhaltlich als auch sozial. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon den unbedingten Willen, das Abitur zu machen. Mit neunzehn hatte ich es geschafft.“
Adrian: Ja, ist doch prima. Hut ab! Super – ich finde, das ist doch aller Ehren wert; da geht jemand gestärkt und als Persönlichkeit aus den Feuern seiner Kindheit und Jugend hervor!
Josef: Find’ ich auch! Und das spiegelt sich auch im Selbstbild dieser jungen, starken Frau wider. Willst du noch ein bisschen mehr hören? In meinen Seminaren gibt es immer auch den ein oder anderen Impuls, damit sich die Lebensgeschichten nicht vorschnell lesen, als seien sie mit dem Glättspan gearbeitet.
Adrian (rümpft die Nase und reagiert ärgerlich und gereizt): Glättspan, Glättspan! Was soll das nun schon wieder heißen? Wenn jemand klar kommt, dann macht er sich bei dir gleich verdächtig. Sei doch froh, wenn am Ende eines holprigen Weges eine Erfolgsstory lacht, meinetwegen ein „Happy End“. Na klar will ich mehr desselben hören – ich bin ja froh, wenn du die Menschen einfach einmal erzählen lässt!
Josef: Nun gut, hören wir zu, wie die junge Frau zum Beispiel die Frage beantwortet, wo sie denn als Kind Hilfe benötigt hätte und wie sich das heute darstellt:
„Ich denke, ich hätte als Kind einen Halt gebraucht. Meine Eltern trennten sich, als ich sieben war. Sie waren in dieser Zeit nicht belastbar, sehr mit sich selbst beschäftigt – auf der Suche nach sich selbst. Ich habe gemerkt, dass ich mich nicht auf sie verlassen kann. Es wäre wichtig gewesen, dass sie mir z.B. in der Schule geholfen hätten. Ich habe gelernt, das alles alleine zu machen, und ich bin dadurch sehr früh sehr selbstständig geworden. Meine Mutter hat in der Nacht geweint. Mein Vater war nicht da, er hatte ständig wechselnde Beziehungen. Vielleicht hätte ich meine Bedürfnisse stärker zum Ausdruck bringen müssen – aber mit sieben? Ein einschneidendes Erlebnis war, als ich meine Mutter eines Morgens betrunken antraf. Sie konnte einfache Fragen, die ich ihr stellte, nicht mehr beantworten. Da begriff ich, dass ich stärker sein muss als sie. Sie war total hilflos. Ich kann mich noch genau an meinen Schulweg an diesem Morgen erinnern. Ich kam mir ganz orientierungslos und verloren vor. Die Trennungszeit meiner Eltern und ihr diesbezügliches Verhalten über Jahre prägten meine gesamte Schullaufbahn. Ich habe nicht gelernt zu lernen und zu fragen, wenn ich etwas nicht verstanden habe. Ich hatte nie eine Hausaufgabenbetreuung. Meine Eltern haben meine vorgegebene „Stärke“ dankend angenommen und mich damit etwas überfordert. Ich habe gelernt, mich wirklich nur auf mich selbst zu verlassen. Auch heute habe ich noch manchmal Probleme damit.“
Willst du noch mehr hören?
Adrian: Ja, verdammt noch mal – auch wenn es mehr nach einer Never-ending Story schmeckt als nach einem Happy End!
Josef: Also, wenn ich diesem „Einzelfall“ noch ein wenig Aufmerksamkeit widme, dann nicht, um die Welt als Jammertal zu beschreiben, sondern um das Leben – zwischen Liebe und Wahnsinn – in seinen unterschiedlichsten Facetten und in seinen Wirkungen auch „fallbezogen“ spürbar zu machen: Interessant ist die Antwort der jungen Frau auf den Impuls, sich „die eigene Familie einmal als Haus“ vorzustellen:
„Es ist sehr klein, liegt dunkel im Schatten von großen Bäumen. Von der Grundkonstruktion her wäre es schön, es ist aber sehr wackelig und leider baufällig. Dort, wo Steine runterfallen, wird es notdürftig zusammengeflickt. Die Bewohner leben auf verschiedenen Ebenen – es gibt kein gemeinsames Zimmer. Ich wohne im untersten Stockwerk, mein Vater im Zweiten, meine Schwester im Dritten, meine Mutter wohnt im Vierten. Wenn man sich gemeinsam treffen möchte, trifft man sich auf dem Platz vor dem Haus. Dies geht aber nicht immer, wegen der Wetterverhältnisse. Dann trifft man sich eben nicht. Das Haus ist auf Liebe gebaut, dieser Boden hält jedoch nicht alles aus. Es gab schon ein paar Mal Erdbeben, dabei ist der Grund etwas abgesackt. Aber es hält. Nur das Haus wird dadurch etwas schief und brüchig. Wenn die Bewohner das Haus betreten, müssen sie immer durch meine Etage. Dabei machen sie Unordnung und ich muss immer wieder aufräumen. Dadurch komme ich manchmal nicht dazu, meine Arbeiten zu erledigen. Ich bin gerade dabei, für die anderen Bewohner eigene Zugänge zum Haus zu bauen. Eigentlich finde ich, dies könnten sie auch selbst machen. Sie sind damit nicht ganz einverstanden, da es für sie unbequem ist. Oft ist es so, dass sie bei mir rumsitzen und ständig irgendetwas von mir wollen. Das nervt mich. Sie haben auch ständig Fragen an mich. Ich möchte mich manchmal auch nur auf mich selbst konzentrieren. Aber ich kann immer zu ihnen kommen. Sie denken immer, dass ich stark bin.“
Adrian: Hmh, das beeindruckt mich sehr; ein sehr schönes, pardon – ein treffendes Bild, das mit dem Haus, der Baufälligkeit und den herabfallenden Steinen. Hast du denn wenigstens nach deinen 52 Jahren für dich den Stein der Weisen gefunden?
Josef: Es sind ja schon fast 53 Jahre. Natürlich habe ich den Stein der Weisen genauso wenig gefunden wie du! Ich halt’s da eher mit Bertolt Brecht und seh’ den Vorhang zu und alle Fragen offen. Diese Fragen, die Widersprüche und Paradoxien, die uns umtreiben, und die auch in diesem Fallbeispiel sichtbar werden, möchte ich in diesem Buch gerne irritieren mit den Sichtweisen, die uns Roland Barthes, aber eben auch aktuelle Reflexionen im Wissenschaftsbereich, im therapeutischen oder journalistischen Kontext anbieten. Die junge Frau, die uns etwas verstehen lässt im Hinblick auf prägende Kindheitserlebnisse, lebt möglicherweise in einer festen Beziehung oder ist auf der Suche danach. Sie nimmt diese Erfahrungen mit in ihre Beziehungswelt und der Möglichkeitsraum ihrer Beziehungsgestaltung wird vermutlich immer durch das emotionale Nadelöhr dieser Erfahrungen gepresst werden. In dem, was wir hier zusammengetragen haben und anbieten, stecken für sie und für uns sicher eine Fülle von Anregungen, die auch das Vermögen haben, uns vielleicht in die ein oder andere Antwort hineinlesen und möglicherweise auch hineinwachsen zu lassen.
Adrian: Und warum machst du es so kompliziert? Warum sagst du nicht einfach: Da und da steht es, kauf dir dieses oder jenes Buch, lies und gesunde!?
Josef: Du machst mir Spaß! Ja, wirklich – ich finde diese Idee grandios, und ich bin ein großer Anhänger der „Bibliotherapie“. Sie hat mich überleben lassen. Aber ich will ja vor allem auch noch meinen eigenen Spaß haben. Bei den Recherchen für das Buch stieß ich auf einen Hinweis, mit dem Hans Joachim Störig den „ästhetischen Kunstgriff der Verfremdung“ bei Sören Kierkegaard zu erklären versucht (Kierkegaard hatte alle seine Schriften unter Pseudonymen veröffentlicht): Kierkegaard wählte diese Form offensichtlich sehr bewusst, „weil er diese Form der indirekten Mitteilung für die einzig mögliche hält. Denn für ihn ist, was sich direkt mitteilen lässt, was man als objektive Wahrheit, als Wissenstand besitzen und also auch einem anderen mitteilen; mit anderen teilen kann, nicht eigentlich Wahrheit, es ist vielmehr unerheblich und lenkt vom Eigentlichen nur ab.“
Adrian: Nun gut. Wenn du glaubst, auf eine verfremdende Weise deinen Bazillus eher unter die Menschen zu bringen. Ich hab da eher meine Zweifel. Obwohl – ich vermute fast, dass ich diesen Winkelzügen vielleicht sogar meine eigene Existenz irgendwie verdanke. Sei’s drum: Ein wenig klarer wird mir die Sache schon; trotzdem hab ich noch eine Reihe von Fragen. Ein Buch über die Liebe mit Gedichten, mit Geschichten und einer Reihe von Interviews; was ist das für ein merkwürdiges Konzept – steckt dahinter überhaupt ein Konzept?
Josef: Ja und nein! Ich antworte dir mit Roland Barthes, ohne dessen Verführung dieses Buch so nicht entstanden wäre. In einer Sammlung von Interviews, die mit ihm geführt worden sind, stieß ich auf ein Interview, das er 1977 dem Playboy gegeben hat: „Der größte Mythenentzifferer unserer Zeit erzählt uns von der Liebe“. Barthes hatte zuvor seine „Fragmente einer Sprache der Liebe“ veröffentlicht. 27 Jahre danach war ich sofort von der Idee fasziniert, diese vergessenen Texte auf ihre Frage- und Antwortperspektiven hin zu befragen.
Adrian: Einen Augenblick – wenn ich dich unterbrechen darf – verstehe ich das richtig, Auslöser für dieses Buch war anfänglich ein Interview?
Josef: Ja und nein! In meinem Gedichtband „Das Leben – Ein Klang“ gibt es ein Kapitel, das mit der Überschrift „Gravitationsfelder“ versehen ist. Man kann es mit der sichtbaren Spitze eines Eisberges vergleichen – es enthält nicht eigentlich Liebesgedichte, sondern eher Gedichte über die Liebe. Die Liebesgedichte selbst treiben gewissermaßen im Verborgenen, unter der Wasseroberfläche. Man kommt ihnen – eingedenk des Schicksals der Titanic – besser nicht zu nahe. Warum dies so ist, wurde mir schlagartig bewusst, als ich eine kurze einleitende Bemerkung Roland Barthes’ zu seinen „Fragmenten“ las. Ich möchte sie an dieser Stelle zitieren: „Die Notwendigkeit des vorliegenden Buches (der „Fragmente“) hängt mit der folgenden Überlegung zusammen: dass der Diskurs der Liebe heute von extremer Einsamkeit ist. Dieser Diskurs wird wahrscheinlich (wer weiß?) von Tausenden von Subjekten geführt, aber von niemandem verteidigt; er wird von den angrenzenden Sprachen vollständig im Stich gelassen: entweder ignoriert oder entwertet oder gar verspottet, abgeschnitten nicht nur von der Macht, sondern auch von ihren Mechanismen (Techniken, Wissenschaften, Künsten). Wenn ein Diskurs, durch seine eigene Kraft, derart in die Abdrift des Unzeitgemäßen gerät und über jede Herdengeselligkeit hinausgetrieben wird, bleibt ihm nichts anderes mehr, als der wenn auch winzige Raum einer Bejahung zu sein. Diese Bejahung ist im Grunde das Thema des vorliegenden Buches.“
Adrian: Auch dieses Buches?
Josef: Ja! Aber auf andere Weise. Zweifellos kann hier zunächst nur die Ermunterung stehen, sich Roland Barthes’ grandiose „Bejahung“ zu erlauben, um sich – wie er sagt – von den Abwertungen des Liebesgefühls nicht beeindrucken zu lassen. Fast dreißig Jahre nach Roland Barthes möchte ich zeigen, dass sich die „theoretischen Sprachen“ – und damit der Diskurs über die Liebe – sehr viel differenzierter darstellen. Deshalb bette ich das Playboy-Interview, das Roger Philippe mit Roland Barthes führt, in den Zusammenhang unterschiedlicher theoretischer Sichtweisen ein und habe dich – lieber Adrian – gebeten, eine Reihe von Interviews zu führen. Die dabei auch hervortretenden theoretischen Ambitionen verraten einen ungleich differenzierteren Diskurs über die Liebe, als Roland Barthes ihn in den siebziger Jahren offensichtlich beobachten konnte.
Adrian: Aber die Abwertung des verliebten Menschen hat sich auch aus deiner Sicht damit nicht wesentlich relativiert?
Josef: Nein, aber ich glaube einfach, dass die in den letzten dreißig Jahren zu beobachtende „Reflexion über Intimsysteme“ uns heute – natürlich eingedenk der damit prinzipiell verbundenen blinden Flecken – anderes sehen lässt und neue Perspektiven eröffnet. Deshalb sind Niklas Luhmann, Peter Fuchs, Susanne Gaschke, Peter Sloterdijk, Arnold Retzer und einige andere eingeladen, um mit ihnen zu schauen, inwieweit der Diskurs über die Liebe neue Sichtweisen hervorgebracht hat.
Adrian: Der „Diskurs über die Liebe“ – das theoretische Reflektieren – ist die eine Sache. Aber was ist mit dem individuellen Sprechen, was ist mit der Sprache der Liebe?
Josef: Wenn ich mich recht erinnere – ich habe mir die Aufzeichnungen über das von dir moderierte öffentliche Räsonnieren im Café Hahn mehrfach angesehen – dann wird selbst im Verlauf dieses theoriegeschwängerten Gespräches etwas von dem Fluidum zumindest der Verliebtheit spürbar. Der ganze Rest – die Welt der Liebe – bleibt die Welt der Poesie. Darum will ich mich bemühen. Ich möchte versuchen, all das, was ihr da so abgehoben und theoretisch erörtert, durch eine Art „Parallelpoesie“ zum Flimmern zu bringen.
Adrian: Das kann ja dann nur bedeuten, dass dieses Buch hier – zumindest in diesen Teilen – das Buch eines Verliebten ist.
Josef: Diese Frage hat Roger Philippe schon Roland Barthes im besagten Interview gestellt. Jeder von uns war doch schon einmal verliebt!? Und eines zumindest dürfte ziemlich klar sein: Verliebte schreiben keine Bücher. Ich neige dazu, mich Roland Barthes anzuschließen, wenn er sagt: „Gleichwohl – warum sollte ich es nicht sagen? – gab es kristallisierend wirkende Episoden. Man könnte sagen, dass ich das Buch (die „Fragmente“) als eine Möglichkeit verstanden habe, mich nicht zu verlieren, nicht der Verzweiflung anheimzufallen. Ich habe es geschrieben, wodurch sich die Dinge selbst dialektisiert haben.“
Adrian: Das ist eine recht undurchsichtige Antwort, und es scheint mir vor allem nicht deine eigene zu sein.
Josef: Nun schau her, was mit „kristallisierend wirkenden Episoden“ gemeint ist, zeigt sich beispielsweise an der einzigen in diesem Buch enthaltenen Prosa (S. 191-201). Es gibt Seelen und Körper, die sich im Feuer dieser Kristallisation gehäutet und geformt haben. Ich habe selbst eine große Distanz zu Liebesgeschichten und bevorzuge knappe, pointierte lyrische Formen. Aber diese Formen lassen sich nicht gewinnen, wenn die „Dinge sich nicht selbst dialektisieren“.
Adrian: Demnach sind es wohl immer Anfang und Ende von Liebesgeschichten, die zum Schreiben bewegen?
Josef: Schreiben besitzt eine wunderbar besänftigende Kraft. Auch da folge ich Roland Barthes. Ich schreibe erst seit fünf oder sechs Jahren. Und jeder kann ermessen, dass die Distanz schaffende Kraft des Schreibaktes kaum einen Unterschied macht hinsichtlich der zeitlichen Dimension der Anlässe und Kristallisationen. „Eine einzige Geste eines anderen, in seinem Gemüt gespeichert, kann ihn ein Leben lang mit Eifersucht oder Hass oder Hypochondrie erfüllen, ein einziges Wort ihn mit Sehnsucht oder Heilsgewissheit oder Verblendung schlagen. Der Mensch hat aus diesem Grund als einziges Lebewesen Geschichte. Anders als die übrige Kreatur ist er fast unbegrenzt auf Formung angelegt. Ist diese gewollt, nennt man sie Bildung.“ Vollkommen einverstanden mit Hartmut von Hentigs Bildungsverständnis (1996, 15f.) betrachte ich meine Erfahrungen mit Liebe und Tod als einen einzigen unabgeschlossenen Prozess der Selbstbildung, von dem ich hoffe, dass er bis zu meinem eigenen Ende andauert.
Adrian: Hmh, warum immer gleich so pathetisch und philosophisch, gib doch einfach einmal Butter bei die Fische. Schließlich bist du es doch selbst, der da – als Verliebter – immer wieder spricht?!
Josef: Auch hier antworte ich dir mit Roland Barthes, der im Übrigen zugibt, dass seine Antwort wie ein „Ausweichen“ erscheinen mag. Doch für meine Begriffe legt er auf überzeugende Weise dar, dass dem nicht so ist: „Das Subjekt, das ich selber bin, bildet keine Einheit. Dies empfinde ich zutiefst. Die Aussage ‚Das bin ich!’ hieße somit, eine Einheit seiner selbst zu postulieren, die ich in mir nicht wieder finde.“
Adrian: Das ist eine unmögliche Antwort! Du bist ein Hinkebein und ein Chamäleon!
Josef: Ja, das habe ich in einem meiner Gedichte – Hirnflimmern – genau so beschrieben.
Adrian: Lass uns das Thema wechseln. Kehren wir noch einmal zurück zur Konstruktion dieses Büchleins. Warum diese „Interviews“ – warum nicht nur Lyrik oder Geschichten?
Josef: Es ist genau die schon angesprochene Differenz zwischen den Möglichkeiten einer theoretischen Sprache und einem damit verbundenen Diskurs auf der einen Seite und den damit nie einholbaren Möglichkeiten einer poetischen Sprache auf der anderen Seite. Mit letzterer spricht man nicht über die Liebe, sondern in denen manifestiert sich im Wesentlichen eine Sprache der Liebe. Natürlich werden auch Interferenzen, Grenzbereiche sichtbar, sozusagen ein Oszillieren zwischen diesen beiden Sprachwelten.
Adrian: Wozu aber hast du mich erfunden? Bist du dir selbst nicht genug?
Josef: Ich schätze dich, lieber Adrian, als ein Alter Ego, als eine Distanz schaffende Persönlichkeit, in der ich nie ganz aufgehen würde und die selbstverständlich in mir auch nur sehr bedingt aufginge.
Adrian: Aber warum diese Interviews? Ich gebe zu, es hat mir eine Menge Spaß gemacht zu lauschen, zu fragen, zu intervenieren, zu irritieren. Aber so ganz habe ich das Prinzip und die Absicht noch nicht verstanden, die hinter alledem stehen.
Josef: Roger Philippe und Roland Barthes haben mich auf die faszinierende Idee gebracht, Zugänge zu eher sperrigen, teils langatmigen Texten auf eine ungewöhnliche Weise zu eröffnen.
Adrian: Kannst du das noch etwas genauer erklären?
Josef: Ja, es ist genau dieses Prinzip, das du hier zur Anwendung bringst: Einen sich linear, monologisch entwickelnden Text zum Schwingen und Flimmern zu bringen; aus dem langen Atem die kurze Weile zu schöpfen; zu unterbrechen, nachzufragen, eben nicht dem Monolog zu folgen, sondern in der Fragehaltung immer auch inkongruente Perspektiven ins Spiel zu bringen.
Adrian: Und wie bist du zu den Texten gekommen?
Josef: Darauf kann ich nur bedingt eine Antwort geben. Ich bin ganz überzeugt davon, dass die Texte im Wesentlichen zu mir gekommen sind – und dies auf unterschiedliche, immer wieder faszinierende Weise. Ich bin ja kein Spezialist für die Semantiken der Liebe – vielleicht ein ganz klein wenig für ihre poesiegeschwängerten Auswüchse. Das Faszinierendste ist einfach die Erfahrung, aus einem nahezu unendlichen Ozean von Texten die herauszufischen, die in dir selbst etwas zum Schwingen bringen.
Adrian: Und dazu gehört zum Beispiel auch dieses unverdauliche systemtheoretische Sprachspiel?
Josef: Ja, der Mensch lebt ja nicht von Luft und Liebe allein; zumindest die filigranen Luftgebilde stillen nur eine Sehnsucht, tief in den Gedärmen und ihren kognitiven Sinnderivaten. Für den Kopf gönne ich mir – auch wenn es manchmal Kopfschmerzen macht – Niklas Luhmann, Peter Fuchs und Peter Sloterdijk. Und am besten, dafür steht der Sloterdijk ja nun zur Gänze, ist es halt, wenn’s auch schon einmal mit der Sprachachterbahn quer durch Kopf, Beine und Gedärme geht, wenn die Birne flimmert und die Knie zittern.
Adrian: Du hast also Originaltexte genommen und komponierst dir eine dialogische oder auch multilogische Partitur?
Josef: Mit dem größten Vergnügen. Nehmen wir z.B. den Aufsatz von David Schnarch „Der Weg zur Intimität“. Er ist in einem Periodikum erschienen, das sich als „Interdisziplinäre Zeitschrift für systemorientierte Praxis und Forschung“ versteht („Familiendynamik 2/2004), also eher an „Spezialisten“ adressiert ist. Auf der anderen Seite entwickelt Schnarch – der Name ist hier nicht Programm – eine hochinteressante, anregende Betrachtungsweise, die beispielsweise davon ausgeht, dass sexuelle Intimität und intensive Erotik in der Ehe vom Grad der individuellen Differenzierung der beiden Partner abhängen; und noch etwas spezifischer, dass der Schlüssel zu (sexuellem) Wachstum in der Fähigkeit liege, Angst aushalten zu können. Das sind doch höchst irritierende Sichtweisen, die ein breiteres Publikum verdient haben.
Adrian: Soll ich jetzt lachen, oder meinst du das ernst mit einer Auflage von gerade einmal 50 Exemplaren? Und würdest du vielleicht noch ein anderes Beispiel beschreiben!
Josef: Volltreffer! Aber es ist ja auch ein Akt der Wertschätzung mir selbst gegenüber. Ich verstehe mich selbst als den ersten Adressaten dieses Büchleins. Ja, ein weiteres Beispiel ist das grandiose Buch von Arnold Retzer „Systemische Paartherapie“. Die ersten 55 Seiten des ersten Kapitels „Paare, Ehen und Familien: Sinn und Kommunikation“ entwerfe ich mit deiner Hilfe zu einem anregenden, dialogisch montierten „Interview“, das über ein Frage- Antwort-Spiel der linear aufgebauten Textstruktur eine gewisse Lebendigkeit einhaucht. Die „Liebesbeziehung“ und der „Kommunikationscode der Liebe“ werden auf diese Weise bis zu einer Grenze durchdekliniert, jenseits derer – wie Arnold Retzer sagt – die „Partnerschaft“ einen radikal anderen Kommunikationscode bereitstellt. Es dürfte doch spannend sein zu ergründen, inwieweit sich z.B. mit der „Partnerschaft“ ein sozialer Systemtyp anbietet, der für Paare eine größere soziale Verträglichkeit verspricht. Um über diese Möglichkeiten mehr zu erfahren, müssen unsere Leser allerdings dann auch Arnold Retzers Buch erwerben und lesen. Unser Büchlein enthält da zweifellos eine Reihe von Leseempfehlungen bzw. -anregungen, von deren Ertrag ich überzeugt bin.
Adrian: Und was ist mit dem Prolog, mit dieser Szene im Café Hahn? Du hast mich teils in unmögliche Situationen hineinmanövriert. Willst du das etwa zur Aufführung bringen – kurzum: Bist du jetzt auch noch unter die Dramatiker gegangen?
Josef: Nein, mir reicht das Kopfkino. Mit diesen Dialogen lässt sich kein Theater inszenieren. Aber auf der Ebene des Kopfkinos wäre ich schon manchmal ganz gern an deiner Stelle gewesen. Wer weiß, wenn mir die Welt der Textcollage und des Kopfkinos zu eng wird, dann werde ich dich zum Leben erwecken – und gleichermaßen Fleisch und Blut geworden – auf der Bühne des Lebens agieren lassen.
Adrian: Also gegenwärtig reicht mir das, was ich tue. Du solltest noch etwas sagen zu den anderen „stilbildenden“ Mitteln. Warum gehst du ins Café Hahn mit dieser ganzen Geschichte und bleibst nicht in deinem dir vertrauten universitären Kontext mit seinen Sprachspielen. Der Hahn ist doch kein Ort für solch abgefahrene intellektuelle Hirnwichsereien. Da geht’s doch um Musik und Comedy, um Varieté und Kleinkunst, da wird getrunken, gegessen und gelabert!
Josef: Genau, ganz genau! Ich brauche eine Bühne, eine Theke, ich brauch Personal! Ich brauch prickelnde Lebendigkeit, ich brauch Kontraste – und ich will Musik. Die Musik ist und bleibt eines der eindrücklichsten und mächtigsten Fragmente einer Sprache der Liebe; es ist die Sprache der Klang(in)fusionen, die unseren unmöblierten, hohlen Köpfen und Seelen (wieder) Leben einhaucht, wie eine Sinndroge, die uns in Gegenwelten entführt. Und genau deshalb ist das Café Hahn in der Anthroposphäre (ein Begriff, den der etymologische Tiefseetaucher Peter Sloterdijk verwendet, ebenso wie den folgenden unterstrichenen) ein Ort der Orte; mit Verlaub gesagt geradezu ein Erototopos, an dem man im Übrigen nicht nur trefflich Gedichte schreiben kann.
Adrian: Und dennoch ist doch gerade deine Hochschule, diese niedliche, kleine Campus-Uni ein prickelnder Ort, vielleicht auch ein Erototop, der ungeahnte Möglichkeiten der Inszenierung bietet?!
Josef: Siehst du, ich schätze dich gerade wegen deiner brillanten Ideen. Aber ich habe keine Lust einen weiteren „Campus“ zu stilisieren, obwohl die Uni eine nie versiegende Quelle ist, mit der sich „die Gruppe als ein Ort der primären erotischen Übertragungsenergien organisieren und als Eifersuchtsfeld unter Stress setzen lässt“ (Sloterdijk). Und zweifellos hätten wir auch die tragenden Figuren.
Adrian: Was zahlst du denn eigentlich dem Sloterdijk für seine Sprachphantasien – die sind ja maßgeschneidert!?
Josef: Für „Sphären III – Schäume“ (Suhrkamp 2004) musst du bei Reuffel (natürlich auch anderswo) € 29,90 auf den Tisch des Hauses legen. Aber jetzt lass den Quatsch! Es liegt mir einfach am Herzen, meine lieben Leser aus dem universitären Milieu – wie im Übrigen alle Leser – vor einem „Terrorismus der Transparenz“ zu schützen. Dass wir offensichtlich so schon gebeutelt genug sind, zeigt doch ein Zitat von Stefan Breuer aus der FAZ vom 18.6.99, in dem er – in einer kritischen Würdigung von Jürgen Habermas – universitäres Kleinklima im Kontext einer diskursethischen Verortung beschreibt: „Umso rätselhafter, woher Habermas eigentlich sein Vertrauen in radikaldemokratische Öffentlichkeiten, gar den Glauben an die Möglichkeit eines vernünftigen Gemeinbewußtseins nimmt, aus dem sich seine Diskursethik speist. Wenn schon die Universität ein solcher Ort des Mißverständnisses, der theatralischen Inszenierungen und Selbsthysterisierungen ist, als den Habermas ihn decouvriert hat, wie soll es dann erst die Gesellschaft, die hierfür weit weniger Zeit hat, zur Verschmelzung der Verständnishorizonte bringen? Und ist dieses Ziel überhaupt erstrebenswert? Führt es nicht in einen Terrorismus der Transparenz?“
Adrian: Bei aller Wertschätzung, mein lieber Josef, jetzt bist du völlig übergeschnappt. Aber sei’s drum – wenn du dich jetzt nach der Verschwendung von elf kostbaren Textzeilen besser fühlst!? Ein lieber Freund – Reinhard – eröffnet frohe Runden und Trinkgelage häufig mit dem unvergleichlichen Trinkspruch: „Auf das Leben, die Liebe und den Wahnsinn!“ Ich hab jetzt einfach die Schnauze voll und würde gerne ganz schlicht ein Bier trinken – wenn’s nicht anders geht, auch mit dir gemeinsam.
Josef: Oh ja – das gefällt mir: „Auf das Leben, die Liebe und den Wahnsinn – Talk im Hahn zwischen (system)theoretischen Irritationen und lyrischen Impressionen“! Das wäre auch ein schöner Titel für dieses Buch gewesen. Komm, Adrian, lass uns rüber in den Bühnenraum gehen, ich höre, der Herbert probt schon, heute gibt’s einen Leckerbissen unplugged. Wir gönnen uns jetzt erst einmal ein frisch gezapftes Kölsch und lassen es ordentlich krachen. Aber vorher gibt’s noch was zu essen, eben live und lecker, wie es hier üblich ist. (Adrian und Josef betreten den Bühnenraum. Herbert Grönemeyer steht auf der Bühne, ganz alleine mit einer Gitarre und singt: „Ich bin dein siebter Sinn, dein doppelter Boden, dein zweites Gesicht…“)
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Freundschaft (II)
Ohne Praxis ist alles Nichts! Und wie ist das mit der Theorie? - Hier gehts zur "Theorie" - Freundschaft (I)
Vermutlich haben wir alle eine Vorstellung von Freundschaft, die sich deutlich jenseits dessen bewegt, was wir unter Intimverhältnissen verstehen. Insbesondere Julia Onken regt mit ihren Unterscheidungen von Eros, Philia und Agape dazu an, hier klare Trennlinien zu ziehen. Mit Arnold Retzer werden wir hingegen andere Akzentuierunge erwägen, allein schon aus der Einsicht heraus, dass weder die (romantische) Liebe noch nüchterne (vertragsgeleitete) Partnerschaft alleine für sich auf Dauer mit dem Leben bzw. mit einem zufrieden stellenden Paarleben vereinbar sind.
Aber im Rückblick auf ein langes Leben erinnert man sich ja zunächst einmal an die Freundschaften, die - wenn auch heute eher in seltenen Fällen - ein ganzes Leben lang halten. Bereits im Vorschulalter werden die Weichen gestellt für "Blutsbrüderschaften", die nichts wissen von "freundschaftlicher Gleichheit, Ebenbürtigkeit und auch Eigenständigkeit", die diese Prinzipien aber verkörpern und für die wechselseitige Inanspruchnahme, ja Einstehen füreinander in allen Lebenslagen habituell sind, als vorreflexives Wissen selbstverständliche und alltägliche Praxis.
Wenn die runden Geburtstage anstehen, dann lässt sich an den Einladungslisten, den Zu- und Absagen ablesen, ob es in einem langen Leben gereicht hat zu einem vertrauensvollen und kraftvollen, Gemeinsamkeit begründenden Einvernehmen in grundsätzlichen Fragen der Lebensgestaltung. Und wir sollten uns an der Stelle nichts in die Tasche lügen. Die Messlatte für eine solche Freundschaftskultur liegt hoch. Eine "moralische Institution" kann Freundschaft nur sein, wenn sie eine Praxis begründet, die über das wechselseitige Wohlwollen deutlich hinaus geht. Das Wohlwollen einem Freund gegenüber sieht Retzer als notwendig an, aber es reiche nicht, wenn es sich nicht mit der vollzogenen Wohltat verbinde: "Mit jemandem in Freundschaft leben, heißt also eigentlich: Leben zu teilen und das Teilen zu leben. Wohlwollen kann allenfalls zu untätiger Freundschaft führen. Freunde müssen sich verhalten und Tat-Sachen schaffen (Arnold Retzer)."
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Liebe, Partnerschaft und Freundschaft
Es mag ein wenig verrückt anmuten, in der Einleitung zu einem zweigeteilten Untermenü einen Vorgriff auf den zweiten Teil anzubieten: Aber in diesem zweiten, eher praxisorientierten Teil, soll es ja um die Erörterung eines "dritten Weges" zwischen Liebe und Partnerschaft gehen. Dieser "dritte Weg" soll und kann erwogen werden sowohl mit Blick auf eine schon beträchtliche Vergangenheit, zu der es eine Menge Geschichten gibt (viele und immer mehr dieser Geschichten sind über diesen BLOG zugänglich). Der Blick gilt allerdings auch einer Zukunft, deren Möglichkeitsraum - wie auch immer - natürlich sehr viel begrenzter ist; aber gleichwohl weniger bescheiden. Dafür wiederum spricht eine Gegenwart, die auf der einen Seite in der theoriegeleiteten Reflexion sensibilisiert für ungeahnte Möglichkeiten; und die auf der anderen Seite in einer tätigen Praxis immer wieder und unmittelbar auf die Gnade und die Grenzen freundschaftlicher Beziehungen stößt. Bezogen auf die Ausgangsfrage wird der zweite Teil im Sinne einer bereits kultivierten "resignativen Reife" (Arnold Retzer) und auf der Grundlage einer langen Ehe (mit Arnold Retzer) der Frage nachgehen, ob sich sogar das Paradoxon einer Liebesehe durch eine Freundschaftsehe oder eine Liebesfreundschaft ersetzen und lebbar machen ließe.
Selbstverständlich bleibt mehr als erklärungsbedürftig, warum ich beide Teile - Freundschaft I und II - unter dem Hauptmenü "Liebe, Sex und solche Sachen" platziert habe. Es ist ja mehr als offensichtlich, dass hier zentrale Fragen von Familie und Partnerschaft thematisiert werden. Aber wie Arnold Retzer selbst untertitelt, geht es um einen "dritten Weg" zwischen Liebe und Partnerschaft. So hat sich die Waagschale ein wenig mehr zum letztendlich gewählten Hauptmenüpunkt geneigt - hier ist die mächtige Urkraft des Eros noch ein wenig mehr zu Hause. Aber selbstverständlich räume ich ein, dass hier eine Trennschärfe nicht mehr wirklich gegeben ist. Und alle an Familie und Partnerschaft Interessierten werden eingeladen einfach quer zu gehen und im Übrigen auch die 2006 im Café Hahn veranstaltete Vortragsreihe zu nutzen.
- Details
Erziehung als Formung des Lebenslaufs
Gedanken zur biographischen Selbstkonstruktion in Anlehnung an Niklas Luhmann (siehe dazu auch den entsprechenden Foliensatz)
(Einleitung II zu: Ich sehe was, was du nicht siehst - komm in den totgesagten Park und schau)
Vorsicht – Theorie! Theorie kann spannend und anregend sein; Theorie vermag das Nachdenken über und das Ordnen von Erfahrungen zu erleichtern und im besten Fall auf den Begriff zu bringen – vielleicht lässt sich der Zusammenhang am besten mit einem – Immanuel Kant zugeschriebenen – Aphorismus verdeutlichen, wenn er sagt: Ohne Anschauung sind unsere Begriffe blind und ohne Begriffe bleibt alle Anschauung leer (im Sinne erzählten Lebens eben stumm).
Um Spaß und Vergnügen an diesem Buch zu haben, zumindest Interessantes, Amüsantes, Tragisches, Komisches oder alles miteinander vermischt vorzufinden, kann man diese Einleitung II getrost überspringen und da ansetzen, wo ich mit meinen Erzählungen und Aufzeichnungen beginne. Mich selbst interessieren aber auch theoretische Aspekte dieser Selbstbeschreibung. Daher gibt es in diesem Buch immer wieder „Theorieschübe“, die allein schon an ihrer äußeren Erscheinungsform erkennbar sind.
Weiterlesen: Niklas Luhmann: "Erziehung als Formung des Lebenslaufs"