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Nachwort zu "Papa Anna Bleiben" im Dezember 2010 bzw. im November 2011

                                                                                                              

Das Nachwort in der aktuellen Ausgabe war eigentlich als Vorwort für die Ausgabe des Buches gedacht, die schon Weihnachten 2010 erscheinen sollte. Aber erst – mit einigem zeitlichen Abstand – bieten sich die Lösungen zur endgültigen Fassung und zur Gestaltung an. Dem Wolfgang (Niedecken) geht es Gottseidank auch wieder besser. Zu seiner gesundheitlichen Krise im zeitlichen Kontext des Erscheinens dieses Buches passt die Mahnung von Günter Franzen (siehe weiter unten) an uns alle:

„Es ist später, als ihr denkt!“

Seit Jahren gestatte und vergönne ich meinen Studenten und mir ein Seminar zur „Kommunikation in Grenzsituationen“: „Was passiert, wenn das Unfassbare passiert?“ Sich eine Wachheit für letzte Fragen zu erlauben, gehört heute im B/M-geprägten Hochschulbetrieb zu den Privilegien, die von der Freiheit von Forschung und Lehre (noch) gedeckt werden. Noch kann man sich die Freiheit nehmen, mit Hilfe einer abstrakten Wissenschaft wie der Soziologie systemtheoretischer Prägung, die Grenzen und die Begrenztheit unseres alltäglichen Handelns in der Welt – auch im Sinne unseres alltäglichen Scheiterns – besser zu verstehen und zu begreifen. Seit mehr als 40 Jahren begleitet mich die erste Strophe eines Gedichts von Gottfried Benn

 

Kommt

Kommt, reden wir zusammen
Wer redet ist nicht tot,
es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not.

 

Miteinander reden im Sinne eines Gesprächs erscheint mir seither als eine der Ur-Formen des Sich-Bildens, auch des Bildens von Gemeinschaft, auf die wir als soziale Wesen doch so existentiell angewiesen sind. Wie begrenzt und gefährdet die Möglichkeiten des Gesprächs allerdings erscheinen, das ist mir erst über Niklas Luhmanns Versuch deutlich geworden, die Frage zu beantworten, was denn Kommunikation sei (Opladen 1995). Und das Gespräch bedient sich zweifelsfrei jener Basisoperation, auf die soziale Systeme unabdingbar angewiesen sind (Niklas Luhmann würde sagen, sie bestehen aus nichts anderem als): Kommunikation!

Er weist in seiner soziologischen Theoriebildung darauf hin, dass es von großer Bedeutung sei, an der Unterscheidung von Wahrnehmung und Kommunikation festzuhalten. Seine Begründung ist simpel und recht einfach nachzuvollziehen. Er geht davon aus, dass die Wahrnehmung zunächst ein psychisches Ereignis ohne kommunikative Existenz bleibe:

„Sie (die Wahrnehmung von etwas) ist innerhalb des kommunikativen Geschehens nicht ohne weiteres anschlussfähig. Man kann das, was ein anderer wahrgenommen hat, nicht bestätigen und nicht widerlegen, nicht befragen und nicht beantworten. Es bleibt im Bewusstsein verschlossen und für das Kommunikationssystem ebenso wie für jedes andere Bewusstsein intransparent.“

Niklas Luhmann beschreibt also im Sinne von Innen (=Bewusstsein) und Außen (=Kommunikation) mit „Bewusstsein“ die „innere“ Seite. Zur „äußeren“ Seite gelangt Niklas Luhmann, indem er deutlich macht, dass eine „interne“ Wahrnehmung natürlich „externer“ Anlass werden kann für eine folgende Kommunikation:

„Beteiligte können ihre eigenen Wahrnehmungen und die damit verbundenen Situationsdeutungen in die Kommunikation einbringen; aber dies nur nach den Eigengesetzlichkeiten des Kommunikationssystems, z.B. nur in Sprachform, nur durch Inanspruchnahme von Redezeit, nur durch ein Sichaufdrängen, Sichsichtbarmachen, Sichexponieren – also nur unter entmutigend schweren Bedingungen.“

 

Das Sichtaufdrängen, Sichsichtbarmachen, Sichexponieren kommt im Alltag dem gleich, was Peter Sloterdijk im Hinblick auf die Poesie mit Paul Celan feststellt, nämlich, dass sich die Poesie nicht aufzwinge, sondern sich aussetze. Aber weit über die poetische Selbstaussetzung hinaus meint Peter Sloterdijk, dass das Sichaussetzen und Sichhinaushalten in einem ganz allgemeinen Sinne „konstitutive Bewegungen des Menschen sind (Sloterdijk 1988)“. Da im Sinne Niklas Luhmanns „nur die Kommunikation die Kommunikation erreichen und beeinflussen kann“, erweisen sich die gruppeninternen Prozesse als außerordentlich diffizil und störanfällig.

Peter Sloterdijk weist in Band 3 seiner Sphären (2004, S. 404-411) darauf hin, dass insbesondere die erotischen Prozesse in der Gruppe die Grundform des Wettbewerbs vorgeben – „ausgelöst durch die Beobachtung des Strebens anderer nach der Beschaffung von Seins-, Besitz- und Geltungsvorteilen“. Um den Gruppenzusammenhalt nicht permanent zu gefährden, gehört seiner Auffassung nach zur Gruppenweisheit ein Eifersuchtsmanagement, das dreidimensional ansetzt:

„Sollen die Selbstirritationen der Gruppe in einem lebbaren Tonus gehalten werden, braucht das Kollektiv ausreichende Diskretionen für die Seinsdifferenzen, die Besitzdifferenzen und die Statusdifferenzen in seinem Inneren. Diskret ist, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll.“

 

Nach der Lektüre von Tinas Bericht aus dem Liebesalltag dürfte relativ schnell klar werden, warum ich meiner Einführung nun noch ein theorieschwangeres Nachwort zur Seite stelle. Neben dem Dank für eine äußerst instruktive Auseinandersetzung mit den liebesgeschuldeten Wendepunkten im Leben, hilft mir Tinas Erzählung den eigenen Mythen und Begrenztheiten noch einmal auf die Spur zu kommen und sie im Sinne Niklas Luhmanns besser einordnen zu können: „Der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen.“

Lange habe ich darüber gerätselt, welche Motive mich umtreiben, dieses Buch mit zu gestalten und ihm zu einer Existenz im sozialen Raum zu verhelfen. Zweifellos ist da einerseits eine Faszination und eine Verblüffung von Anfang an darüber, wie es einer jungen Frau gelingen kann – tief verstrickt in eine romantische Liebesgeschichte, sozusagen just in time – nicht nur amüsant und sprachmächtig, sondern gleichermaßen distanziert bis selbstironisch und mit viel Humor gewürzt ein außerordentliches Lesevergnügen zu kreieren.

Mit fremdem Blick, mit dem distanzierten Blick jemandes, der die romantische Liebe ebenso wie das verstrickende Dreieck kennen gelernt und der Liebesglück und Liebesnot erlebt hat, wendet sich die Perspektive und findet Anschluss an die Mohnfrau (Koblenz 2010), die mit einem Zuruf von Karl Otto Hondrich und seiner gleichzeitigen (selbst)kritischen Relativierung beginnt:

„Wenigstens den nachfolgenden Generationen und eigenen Kindern möchte ich manchmal zurufen: Ihr habt doch eure Entscheidungsfreiheit als Individuen. Also nützt sie auch. Macht endlich Schluß mit der unglücklichen Weitergabe von Trennung und Verlassenwerden an eure Kinder, macht es besser als eure Eltern, rauft euch zusammen, arrangiert euch, lasst ab von eurem Paar-Perfektionismus (2004, 166)!“

 

Und:   

„Kaum ist der Aufruf, in Gedanken, heraus, bleibt er mir schon im Halse stecken. Nicht nur, daß jeder Rat von Alten an Junge für diese zu früh kommt. Nicht nur, daß ich selbst, wäre ich jünger, ihm vielleicht nicht folgen könnte. Nicht, daß ich mich der Hau-Ruck-Pädagogik schämen würde; sie hat dem verständnisvollen Nicken und Bedauern wenigstens die wütende Klarheit voraus. Aber der Appell selbst beruht auf einer Unklarheit: Es liegt nicht allein in der Macht und Schuld des einzelnen, und auch nicht der beiden, wenn sie die auseinanderstrebenden Kräfte der modernen Gesellschaft in ihrer Liebe nicht bändigen können. Neben der Devise ‚Ihr schafft es!’ darf deshalb die andere ‚Manchmal klappt es nicht. Es ist trotzdem den Versuch wert. Auch im Scheitern liegen Chancen!’ nicht fehlen (2004, 166f.).“

 

Tendenziell, aber nicht zur Gänze löst sich die trianguläre Spannung in „Papa Anna Bleiben!“, indem Papa wohl bei Anna (und der Familie) bleibt!? Und vielleicht integriert Tina ja – mit wachsender Distanz zu den Geschehnissen die ganze Geschichte in ihre dann reichere und differenzierte Erfahrungswelt. Schon die mit heißer Nadel aufgezeichneten Erlebnisse offenbaren eine eher verblüffende Reife und Abgeklärtheit, mit der hier auf überaus eindrucksvolle Weise die Wirkungen und Dynamiken beschrieben werden, die beispielsweise mit Dreiecksbeziehungen einhergehen.

Wenn ich aber Tinas Geschichte in einen Zusammenhang rücke mit dem hier angebotenen Hinweis: „Es ist später, als ihr denkt!“ – dann rücke ich selbstverständlich meine eigenen Erfahrungen und Präferenzen als Beobachter in den Mittelpunkt. Und die decken sich unterdessen zweifellos mit dem, was Karl Otto Hondrich in seinem letzten Buch „Weniger sind mehr – Warum der Geburtenrückgang ein Glücksfall für unsere Gesellschaft ist“ (Frankfurt 2007) auf der Seite 119 vermerkt:

„Da wir die Ehe heute auf erotischer Liebe bauen, die Liebe aber eine tragische Bindung ist, ist Tragik in Ehe und Familie eingeschlossen. Je mehr wir nach lebenslanger – also immer längerer – Liebe und Leidenschaft verlangen, je mehr wir unsere Ansprüche an Harmonie steigern, desto sicherer sind Scheitern und Scheidung vorprogrammiert.“

Mit diesem Hinweis nimmt nur einer von vielen argumentativen Mosaiksteinen Gestalt an, die Karl Otto Hondrich zur Relativierung des oben erwähnten Zurufs an die nachfolgenden Generationen und die eigenen Kinder veranlassen. Was uns möglicherweise dennoch im besten Sinne des Wortes zur Besinnung bringt, sind zwei weitere Aspekte, die er anspricht: Einerseits regt Hondrich trennungswillige Paare an, darüber nachzudenken, ob sie die bestehende Bindung „auf dem Altar einer kollektiven Vorstellung von Harmonie und Liebe“ zu opfern bereit sind und ein „kollektives Liebesideal“ über die „individuelle Liebesbindung“ obsiegen lassen. Dies gilt es seiner Auffassung nach erst recht zu bedenken, wenn aus einer Liebesbeziehung Kinder hervorgegangen sind. Es stimmt zwar:

„So vergänglich die Liebe des Paares, so unvergänglich die zwischen Eltern und Kind. Dies ist keine Bindung der freien Wahl, sondern, wenn die Zeugung erst erfolgt ist, eine Schicksalsbindung für beide Generationen (Hondrich 2007, S. 120).“

 

Die fundamentale Bedeutung dieser Zusammenhänge, ihre unabsehbare Wirkung wird deutlich, wenn Karl Otto Hondrich eine feinsinnige Unterscheidung trifft, die uns vor der Hand zunächst irritiert, wenn nicht gar provoziert. Kaum jemand mag ihm widersprechen, wenn er davon ausgeht, dass der frühe Tod von Eltern für die betroffenen Kinder einen unwiederbringlichen Verlust an Geborgenheit bedeutet: „Ein größeres Unglück läßt sich kaum denken. Aber es bleibt ein Unglück (Hondrich 2004, S. 164).“ Es sei aber gerade diese existentielle Dimension des Unglücks, die es zulasse, dass sich die Überlebenden mit dem Verstorbenen bruchlos in eins setzten, ihn in die Identität der Familie, diese sogar bestärkend, mit einbezögen. Bei einer Scheidung sei genau dies aber kaum möglich:

 

„Nicht durch ein Unglück, Naturkräfte, höhere Mächte oder Gottes Willen wird den Kindern Geborgenheit genommen, sondern durch den Willensakt von Menschen, und zwar von denjenigen, die sie am meisten lieben (Hondrich 2004, S. 164).“

 

Genau in diesem Sinne wird „Papa Anna Bleiben“zu einem grandiosen Lehrstück – ja man darf und man soll angesichts der formprägenden und sprachgewaltigen Verarbeitung von Liebe, Angst oder Trauer – finaler Strömungen, wie Gottfried Benn meint, etwas erwägen können, was unseren Erkenntnis-, Erlebens- und Tätigkeitshorizont erweitert. So sehr auch Streit und Konflikt den Normalfall in Paar- und Familienbeziehungen prägen, so sehr erinnern sich die meisten Menschen an die in der Einführung wachgerufenen Zeiten in ihrem Leben, in denen eine leuchtende und glänzende Erotik die ganze Welt zu durchfluten schien (siehe Einführung).

Das von David Schnarch (siehe Einführung) in den Vordergrund gerückte Vergnügen spiegelt aber häufig nur die eine Seite der Medaille. Vor allem verstrickende Dreiecksbeziehungen werfen sehr schnell ein gleichermaßen grelles wie schmerzendes Licht auf Beziehungsdynamiken, in denen die freie Wahl und die Schicksalsbindungen, von denen Karl Otto Hondrich spricht, einander ins Gehege kommen. Zeiten des Höhenflugs und der Schmetterlinge im Bauch wechseln häufig mit Abstürzen und zwingen zur Besinnung und zur Klärung.

Den größeren Kontext, in den ich nun ich nun Tinas grandiosen Liebesbericht stellen kann und darf, verdanke ich einem Hinweis, den mir ein guter Freund, Rudi Krawitz, vor einem Jahr zukommen ließ: „Es ist später, als ihr denkt – Ein Gespräch an Allerseelen über den Tod. Mit Dörthe Kaiser, Buchautorin und Witwe des Soziologen Karl-Otto Hondrich, sowie Günter Franzen, Autor, Psychotherapeut und ebenfalls Witwer, sprachen Christiane Hoffmann und Volker Zastrow“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, vom 7.11.2010, Nr. 44, S.2).

Besinnung ist nur in einem größeren Kontext von Wahrnehmung und Reflexion möglich; ein Zustand akuter Verliebtheit, der bio-psycho-soziale Overkill verunmöglicht solches zur Gänze; in diesem Zustand findet das ganze Leben auf einer galaktischen Einbahnstraße in Lichtgeschwindigkeit und ohne Rückspiegel statt. Tina Schneider schreibt mit heißer eigenblutgetränkter Nadel und dennoch – manche mögen dies allein schon für verwerflich und für einen Authentizitätsbruch halten – gelingt es ihr mit Humor, (Selbst)Ironie und analytischer Schärfe immer wieder kühle Umschläge auf fiebernde Stirnen zu legen, emotionale Herzblutattacken werden anschließend mit dem Skalpell der Vernunft gnadenlos und perspektivenreich seziert. Dass beide zur Besinnung kommen und dass Tina ihrem abgestürzten Helden – im Grunde genommen wider Willen und ganz gegen ihre Interessen – diese Besinnung im Angesicht der Mahnung „Es ist später, als ihr denkt“ ermöglicht, dass macht sie gleichermaßen wider Willen zur eigentlichen Heldin der Geschichte.

„Es ist später, als ihr denkt“. In der „Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte“ (NG/FH, 1/2/2010, S. 101-104) könnt ihr Günter Franzens „Kurze Geschichte ihres Todes“ lesen. Günter Franzen lässt im Verlauf des „Gesprächs an Allerseelen über den Tod“ die Schwierigkeiten verlauten, die er nach dem Tod seiner Frau vor allem in seiner paartherapeutischen Arbeit empfindet:

„Ich habe ja Jahrzehnte als analytischer Paartherapeut gearbeitet, nun kann ich die Paare nicht mehr hören. Ich würde sie am liebsten ohrfeigen, wenn sie ihre schmutzige Wäsche waschen, oder wenigstens sagen: Es ist später, als ihr denkt.“

 

Selten, eigentlich nie, hat mich ein vierseitiger Bericht so sehr fasziniert, so sehr erschüttert, so lange – stundenlang – frösteln lassen, wie die „Kurze Geschichte ihres Todes“: Wie der „Talmipanzer des narzisstischen Blenders in das Kleid eines Narren“ verwandelt wird; wie der 50jährige doch noch der Gnade „des herbeigesehnten, sehenden Gesichts; offener Augen, die dich umfangen halten mit Wissen und Güte, Verlangen und Hingabe, Wärme und Vertrauen“ teilhaftig wird; wie „unter dem Müll vermeintlicher Auswegsfülle, aus den verleugneten und verschütteten Quellen zweier katholischer Kindheiten jenseits verschlissener Liebesschwüre ein Gefühl unauflöslicher Verbundenheit aufsprang, ein ernster Glaube, der dem romantischen Furor und der wechselseitigen physischen Anziehung keinen Abbruch tat“, dies markiert mit den nachfolgenden Auslassungen die Grenzen menschlicher Erfüllung:

 

„Ich, Treue um Treue bis in alle Ewigkeit. Credo quia absurdum, das heißt, es ist gewiss, weil es unmöglich scheint, und nach 20-monatiger Adventszeit bestaunten eine nicht mehr ganz junge Frau und ein Mann in fortgeschrittenem Alter das atmende Wunder, das sie selbst hervorbringen durften: Ein Kindelein so zart und fein, das soll euer Freud und Wonne sein. Ein dankbares Paar, eine Handbreit über den Niederungen des Alltags, zitternd vor Glück, das, gleichermaßen unverdient wie uneinklagbar, zweifellos von oben kommt. Und Gott war mit den Liebenden, zehn Jahre oder dreitausendsechshundertfünfzig Tage und Nächte lang. Bis zum Morgen des 15. Juni 2008.“

 

Was nun kommt – lest selbst! Das „Es ist später, als ihr denkt“ hat natürlich bei Günter Franzen den realen, brutalen Verlust zur erbarmungswürdigen Grundlage: „Der Engel, der im Auftrag des Herren die Vertreibung verkündet, ist kein mit dem Flammenschwert drohender Cherubim, sondern der stets freundliche lächelnde Leiter der onkologischen Abteilung.“ Am Ende, ganz am Ende, wo die Verlorenheit allumfassend und unausweichlich ist, wo der Verlust übergroß ist, findet Günter Franzen noch einmal den Weg zu einer Sprache, mit der nicht nur allein der Schmerz Gestalt annimmt, sondern wo um die „Versuchung des Kitsches und der Versöhnung“ ein Blick nach vorne gelingt:

„Ich weiß nicht, ob ich diesen Gefahren entgehe, wenn ich behaupte, dass es nicht der Bindungslose, sondern der Liebende ist, der mit einem Schmerz belohnt wird, der ihn gleichzeitig zu zerbrechen droht. Demnach ist die Trauer der Preis, der dafür zu entrichten ist, Liebe empfinden zu dürfen. Es ist kein Trost, aber ich bin bereit, den Preis für diese einmalige Liebe zu zahlen: Gestern, heute, morgen.“

 

Mag sein, dass ich Tinas Bericht damit zu einseitig vereinnahme, dass ich mit dem mors certa, hora incerta im wahrsten Sinne des Wortes ein Totschlagargument bemühe. Deshalb mach ich es zum Schluss noch einmal etwas versöhnlicher, trotz oder gerade wegen der Tatsache, dass wir alle sterbliche Wesen sind. Aber auch wenn ich Rosemarie Welter-Enderlin das Schlusswort überlasse – auch dieser lange, gediegene Hinweis soll unter dem Gesamtmotto stehen: Es ist später, als ihr denkt! Und er mahnt uns, er ermöglicht uns, die Wendepunkte in unsrem Leben noch einmal (oder unter Umständen) erstmals zu sehen und zu würdigen:

„Die Angst vor dem Neuen bewirkt oft starres Festhalten an bisherigen Vorstellungen, an den sich selber und dem Partner zugeschriebenen Bildern. Selten verändern sich Partner gleichzeitig. Meist wird vorerst nur der eine durch innere und äußere Ereignisse herausgefordert, mit dem Bisherigen unzufrieden zu sein, ohne dass er oder sie genau weiß, was diese Ereignisse bedeuten; Schlafstörungen, die Sucht zuviel zu essen, zu trinken, zu rauchen oder zu arbeiten, die Flucht in Phantasien, Depression oder plötzliche romantische Verliebtheit können solche Zeichen sein. Wenn sie nicht entziffert werden, weil der oder die Betroffene Angst hat vor ihrer Bedeutung, oder wenn der Partner/die Partnerin voll Schreck und Panik festhält am Bisherigen, entstehen oft entsetzliche Polarisierungen: Je mehr sie z.B. versucht, Flügel auszubreiten, eigene Bereiche zu entwickeln, desto mehr verfolgt und bedrängt er sie, desto mehr grenzt sie sich ab…Je mehr er z.B. flieht in Arbeit oder Sucht, desto mehr rackert sie sich damit ab, die ganze Verantwortung für die Familie zu übernehmen, desto abhängiger wird er von der Sucht und sie von der Überverantwortlichkeit. Nicht die Krisen, die in solchen Übergangssituationen auftreten, sind gefährlich. Gefährlich wird es dort, wo einer an den alten Vorstellungen festhält und der andere nicht fähig ist, mit ihm neue auszuhandeln oder einen eigenen Weg zu suchen. Ich meine, dass der Mythos der romantischen Liebe, wonach ein Paar zusammenkommt und fortan glücklich ineinander verschmolzen lebt, eine entsetzliche Form von Zwang darstellt. Er bewirkt, dass normale Übergangskrisen nicht bewältigt werden und dass eine Beziehung einfriert. Wir reden oft vom frohen Ereignis, wenn wir vom kritischen Ereignis reden müssten und signalisieren damit, dass Krisen nicht zu solchen Übergängen gehören dürfen. Heirat, die Geburt eines Kindes, Schuleintritt, Wiederaufnahme der Arbeit durch eine Frau, berufliche Stagnation des Mannes in der Lebensmitte, Tod der Eltern und Ablösung der Kinder, sie alle sind kritische Ereignisse, welche den Entwurf neuer Szenarien nötig machen (Welter-Enderlin 1998, S. 177ff.).“

 

Ich wünsche uns allen, die wir vor solchen Übergängen und Wendepunkten stehen – vor dem Eintritt in den Beruf oder in den Ruhestand, in der Konfrontation mit schmerzlichen Verlusten und in der Beglückung durch freudige Ereignisse, uns allen, die wir vor dem Spiegel unserer Wünsche, Visionen und Obsessionen stehen – die Kraft und den Mut das Leben zu nehmen und es nicht, wie Max Frisch so häufig mit Blick auf sein eigenes Leben meinte, zu verfehlen.

Josef/Justus

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich habe Tina Schneider zu "Papa Anna Bleiben" ermuntert. Es ist ein ergreifendes, packendes, spannendes Buch geworden. Hier könnt ihr das Vor- und Nachwort lesen.

Vorwort zu "Papa Anna Bleiben"

 

Fährmann hol mich über! Oder: Der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen (Niklas Luhmann)

Vor ein paar Jahren ritt Jochen Bittner in der Folge 3 der Artikelserie „Wo sind die Kinder?“ in der ZEIT eine heftige Attacke gegen die „Hoffnungsträger der Republik“ (ZEIT 6/04). In Wirklichkeit seien sie eine hoffnungslose Brut, zwischen 25 und 35 Jahre alt, die sich der Reproduktion verweigerten: Eine ganze Generation potenzieller Eltern ziehe es vor zu surfen, zu feiern…, statt auch nur einmal darüber nachzudenken, wer ihnen in vierzig Jahren die Schnabeltasse ans Bett bringen soll. Ein paar Abschnitte weiter wandeln sich die aggressiven Untertöne in ein eher sanftmütiges, von Mitleid getragenes Bedauern. Er beschreibt nämlich, dass die Wahrscheinlichkeit für einen jungen Erwachsenen mindestens einmal zu heiraten, in Deutschland mittlerweile auf 60% abgesunken ist. In den sechziger Jahren betrug sie immerhin noch 90%. Die Scheidungshäufigkeit hingegen – so Bittner - habe sich in den vergangenen Jahren hingegen verdreifacht: „Die Aussicht, dass eine Ehe zerbricht, liegt heute bei 40% (inzwischen sind es nahezu 50%, WR) – in den siebziger Jahren waren es 13%.“ All die Trends, die dahinter stehen, stellt Bittner allerdings auch in den Kontext einer Zunahme von Freiheit. Dabei siege Individualität über alte Konventionen und Moral werde zur Verhandlungssache. Trennung und Scheidung seien keine Schande mehr. Man gewinne den Eindruck, die Deutschen seien freier als je zuvor. Aber – so Bittners Schlüsselfrage: „Sind sie deswegen auch glücklicher?“ Die Antwort ist eindeutig: Nein! Die Ergebnisse vieler empirischer Studien muteten eher paradox an: „Auf der einen Seite gehen Beziehungen immer häufiger in die Brüche, auf der anderen Seite wünschen sich auch die Jüngeren eine lebenslange feste Beziehung, und nicht von vornherein eine auf Zeit: Sie glauben an die große Liebe und träumen davon, dass sie ewig währt.“

 

Vielleicht liegt in diesem Wunsch das universale und Generationen übergreifende Motiv, dass Tina Schneider und mich, eine junge Frau und einen älteren Herrn, die mehr als 30 Lebensjahre trennen, dazu veranlasst, ein gemeinsames Buch zu machen. Ein „gemeinsames Buch“? Es ist Tinas Buch, dem ich lediglich eine Einführung voran schicke und ein Nachwort hintanstelle, um meinerseits zu danken und zu fragen, ob es dieses oben erwähnte Motiv tatsächlich gibt. Daneben muss man sich natürlich fragen, ob es einen halbwegs überzeugenden Grund gibt, der nicht mehr überschaubaren Flut an Büchern über die Liebe ein weiteres hinzuzufügen? Die Begründung ist so schillernd, wie Tinas Geschichte; die Geschichte einer ver-rückten und ent-rückten Tina, die im Prozess des Schreibens langsam wieder Wasser unter den Kiel bekommt, die aus einer Rosamunde-Pilcher-Schmonzette eine Sach- und Lachgeschichte bastelt, an der wir Alte uns gleichermaßen erbauen wie bilden können.

Wir jungen Alten könnten eigentlich ja schon wissen, dass die Liebe möglicherweise erst da beginnt, wo das Verliebtsein endet. Mit solchen Spitzfindigkeiten werden wir uns in Tinas Geschichte zwangläufig beschäftigen müssen, denn die meisten Liebenden waren ja irgendwann auch einmal verliebt; und selbst diejenigen, die irgendwann der Auffassung sind, sich nicht mehr zu lieben, werden im Erinnern ihrer geschwundenen Liebe häufig jenen „Ursprungsmythos“ entdecken, der mit der Erfahrung eines heftigen Verliebtseins verbunden war.

Arnold Retzer (2004) empfiehlt, sich an den Wendepunkten oder gar am vermeintlichen Ende der Liebe dieser Ursprungsmythen zu erinnern. Taub, blind und stumm gegenüber dem verblassten Zauber des Anfangs (re)agieren wir allerdings häufig so, dass wir – vom Eros machtvoll getrieben – einen neuen Mythos begründen (wollen). Wir „fallen in die Liebe“, geraten in orkanartige Turbulenzen und betreten ein Land, in dem – so beschreibt es Arnold Retzer in seiner systemischen Paartherapie – die aktuellen Mythen des Fortschritts, die Autonomie und die vernünftige Beherrschung der eigenen Lebensbedingungen radikal und folgenreich in Frage gestellt werden. Insofern bleibt die Liebe natürlich ein Skandal. Sie ist alles andere als vernünftige Beherrschung, gar Selbstbeherrschung. Was kann die Liebe denn in einer funktional differenzierten Gesellschaft, die den Logiken und Zwängen des Funktionierens unterworfen ist, anderes sein als ein Skandal? Roland Barthes beobachtet 1977 im Kontext seiner „Fragmente einer Sprache der Liebe“ gar, dass wir von einer generellen Abwertung der Liebe ausgehen müssen, von einer Krankheit, von der man geheilt werden müsse. Man schreibe ihr keine bereichernde Kraft mehr zu wie früher. Allerdings hat natürlich eine solche Betrachtungsweise ihren Preis. Arnold Retzer meint, bei dieser Ausgrenzung der „unvernünftigen“ Liebe bestehe natürlich die Gefahr, dass nur noch ein vernünftiger, in keiner Weise mehr liebender Mensch zurückbleibe, für den umgekehrt aber auch die Gefahr nicht allzu groß sei, geliebt zu werden.

Von daher mag es nicht verwundern, dass ich mit David Schnarch (2004) darauf aufmerksam machen möchte, dass die meisten Menschen sich natürlich an Zeiten erinnern – meist eher die jungen Jahre – in ihrem Leben, in denen eine leuchtende und glänzende Erotik die ganze Welt zu durchfluten schien: „Sie erinnern sich an das herrliche Prickeln beim Anblick eines bestimmten Menschen und an ihren sehnlichen Wunsch, dieser möge lächelnd auf sie zukommen; sie erinnern sich an die heftige Gefühlswallung, als eine bestimmte Person ihren Arm berührte; sie erinnern sich an die unerträgliche Freude, dem geliebten Menschen unerschrocken in die Augen zu schauen. Selbst wenn die Menschen älter werden, heiraten, Kinder haben und in verantwortungsvoller Position sind, durchzuckt diese sexuelle Elektrizität sie immer wieder… Das kribbelnde Versprechen des Erotischen rüttelt einen immer noch auf, schenkt immer noch Lebenskraft und das innere freudige Erwachen, das nicht unerheblich zu dem Vergnügen und der Lust beiträgt, die man im Leben empfindet.“

Da strahlt es uns also mit der Leuchtkraft von tausend Sonnen an; das Urmotiv sich zu Erinnern, zu Erzählen, Mythen zu begründen, den eigenen VER-RÜCKTHEITEN auf der Spur zu bleiben, sich nicht gänzlich zu verlieren; die Fähre zwischen Skylla und Charybdis hindurchzusteuern, ohne dass sie zerschellt. Also schreib dein Buch, Tina! Du hast es schon geschrieben. Wie ich meine, auf eine eher ungewöhnliche Weise. Denn du lässt selbst Roland Barthes alt aussehen, der meint, dass es nicht unbedingt das Ende einer erlebten Liebesgeschichte ist, das zum Schreiben bewege. Seiner Erfahrung nach tritt der Wunsch, ein solches Buch zu schreiben, in zwei Momenten auf: „Entweder am Ende, weil das Schreiben eine wunderbare, besänftigende Kraft besitzt. Oder aber am Anfang, in einem Moment des Überschwangs, weil man glaubt, man werden einen Liebesroman schreiben – um ihn dann dem geliebten Wesen zu schenken und zu widmen.“ All diese Motive machen Tinas Geschichte zu einer schillernden Melange.

Aber dir ist noch etwas sehr viel Ungewöhnlicheres gelungen. Der „Mythos“, der in deinem Schreiben Gestalt annimmt, resultiert aus einer Unmittelbarkeit, wie sie vielleicht nur im Zusammenhang mit seismografischen Aufzeichnungen eines Erdbebens entsteht. Und dennoch wächst da Sprache, die immer in der Lage ist, diese Unmittelbarkeit zu brechen. Folgt sie einerseits den gewaltigen Ausbrüchen eines Seelenbebens, so löst sie die Bedrängnisse immer wieder auf in überraschenden und verblüffenden, selbstironischen und humorvollen Passagen, die gleichzeitig eine Metaebene des Erlebten begründen; eine Metaebene wohlgemerkt, die diesen Bericht für die Väter- und Müttergeneration von Tina zu einem beeindruckenden und lehrreichen Erlebnis werden lassen.

So sehr dieser funkelnde Diamant auch für sich selbst steht, so sehr lädt er uns Alte zu der Frage ein, wodurch und auf welche Weise sich denn hier eine Horizonterweiterung ereignet? Und mag es in der Tat für die Jungen und die ganz Jungen nichts zu lernen geben, weil sie viel zu sehr im Sturm der Liebe stehen und vor lauter Wald keine Bäume mehr sehen, so werden uns Alten Fenster und Türen geöffnet, durch die wir schauen und gehen können. Und vielleicht werden wir danach mehr verstanden haben, als wir vorher je verstehen konnten. Möglicherweise werden wir mit Tinas Hilfe zu Sehern (im Sinne Karl Otto Hondrichs, siehe Nachwort), die einen Lichtstrahl in das Dunkel ihrer eigenen verstrickten und verstrickenden Beziehungsnöte und die damit häufig verbundenen Wendepunkte in ihrem Leben werfen können.

Die verrückteste Idee ergibt sich dabei vielleicht aus der paradoxen Vorstellung, neben dem Verlieben könnte es so etwas geben wie ein Entlieben: Es lässt sich eine Theorie des Entliebens vorstellen und es könnte daraus folgend oder eher sie begründend eine Praxis des Entliebens Gestalt annehmen. Aber warum sollte es so etwas geben, warum sollte man sich darum bemühen? Nun, nicht jeder, der in die Liebe fällt, fällt damit in ein Rosenbett, in ein Blütenmeer, schwebend und bebend zugleich. Häufig bleiben von den Rosen nur verwelkende, fahle Nachwehen des tobenden und tosenden Lebens. Und in der härtesten Variante besteht das Rosenbett nur noch aus dürrem Gezweig und nadelspitzen Dornen. Dies setzt häufig umso rascher ein, je eindeutiger die Verstrickungen sichtbar werden, in denen man sich nolens volens wieder findet, wenn Adam Philipps´ so sehr zutreffender Aphorismus „Monogamie – aber drei sind ein Paar“ die Hintergrundmusik spielt. Dann beginnt häufig das Spiel zwischen Lust und Schuld, zwischen Begierde und Bindung, der manchmal einem Kampf zwischen Eros und Thanatos gleicht. Häufig beginnt dann das Taktieren und Winden, das Wimmern und Klagen; dann kämpfen Apoll und Dyonisos mit harten Bandagen, wie weiland zwei Highlander gegeneinander („Es kann nur einen geben!“). Wir verlieren die Kontrolle und unserer Fähre droht ständig zwischen der Skylla lustvollen Begehrens und der Charybdis vernunftgeleiteten Verzichts zu zerschellen. Am Ende sitzen alle vor den Aschehäufchen eines mächtigen Feuersturms, der sie hinweg gefegt hat und eine neue Ordnung nimmt langsam Gestalt an.

Dass du den damit verbundenen Wendepunkt in deinem Leben erreicht, kultiviert und genutzt hast – genau das wünsche ich Dir, liebe Tina.

Der Tag, an dem (m)ein Leben aufhörte, der Tag an dem mein Leben begann - Ende und Anfang – „Du bist tot, ich lebe noch ein bisschen, dann komm ich auch“

Abschied von Willi

Es gibt Tage, an denen man schon früh spürt, dass sie sich schon im Beginnen erschöpfen, Tage, an denen die Nacht nicht die Frische bringt, aus der man die Kraft und die Zuversicht für den neuen Tag schöpfen kann. Und es gibt Tage, an denen einem die Umstände in die Hände spielen, um früh schon der Erschöpfung nachzugehen, sie umzudeuten zu einer Entdeckung der Langsamkeit. Es gibt Tage, an denen man sich anpasst an die träge, schwüle Stimmung; und wenn einem die Umstände in die Hände spielen, lässt man sich vielleicht umfangen vom Unabwendbaren, man ergibt sich schon früh und wehrt nichts ab. Man lässt sich treiben.

Der 21. Juni 1994 war so ein Tag, ein Tag, an dem die Sonne frühmorgens für kurze Zeit dem beginnenden Tag noch verheißt, eine Perle in der Kette jener Sommertage zu werden, die mit einer trockenen Hitze den Sommer erträglich machen und zu einer stillen Sehnsucht werden, wenn er vorüber ist. Dieser Morgen aber war keine Zäsur. Fast übergangslos war der Abend mit seiner lastenden Schwüle in die Nacht übergegangen und übergab das Staffelholz atemlos dem folgenden Tag. Aber mit Vorsorge und Fürsorglichkeit sollte dies sicher ein schöner Tag werden, für mich. Mit meinen Kindern verheißt mir der Nachmittag Entspannung im kühlen Nass des nahen Schwimmbads. Für meine Schulkinder wird dieser Vormittag schon einige Qualen bedeuten; auf der Laufbahn, bei den Wettkämpfen im Stadion Oberwerth. Diese weihe- und ruhmvolle Stätte zeigt sich am Morgen des 21. Juni von ihrer feinen Seite, eingebettet in den zarten Hauch der mittlerweile voll ergrünten Akazien und in die satteren Grüns an den Ufern des Rheins. Die aufgeregten Kinder mit ihren T-Shirts erscheinen während der Riegen-Einteilung wie ein bunter, tanzender Flohzirkus auf dem fetten Grün des Fußballrasens.

Die Umstände meinen es gut mit mir. Die Riegenführer rekrutieren sich ebenso wie die Wettkampfrichter aus dem Kollegenkreis; hier versehen meist die berufeneren Kolleginnen und Kollegen mit Vereinshintergrund oder Fakultas in Sport die Ämter. Bis zur Siegerehrung bin ich also freigestellt, kann schauen, unterstützen, ermuntern; ich kann mir aber auch eine kleine Zeitnische gönnen und meinen Fantasien nachhängen, ein wenig ruhen, dösen bis uns der Bus mittags wieder zur Schule zurückbringt.

Ich finde ein diskretes Plätzchen abseits der Wettkampfstätten im Schatten einer mächtigen Baumkrone. Inmitten einer grünen Hölle überlasse ich mich dem Farbenspiel eines prächtigen Frühsommertags. Selbst die geschlossenen Augenlider bilden nur eine zarte Membrane, die jene Sonnenstrahlen, die mich durch das Blattwerk erreichen, nur abschwächen. Reibt man sich die geschlossenen Augen, regen die Eindrücke der frischen und kräftigen Sommerfarben, alle Schattierungen von Grün und das intensive Azurblau des Himmels, durchflutet von der grellen Strahlung der Sonne, die verrücktesten Farbkonvulsionen an. Mit geschlossenen Augen tauche ich ein in die lebendige Welt der Farben. Von Ferne nehme ich das sonore Geräusch von Flugmotoren wahr. Es erscheint mir - unter dem Eindruck des Kaiserwetters - unfassbar, dass ich im Alter von 42 Jahren noch niemals geflogen bin. Ich verspüre einen Hauch von Neugier; das wäre ein Tag, um die Welt aus der Vogelperspektive zu genießen. Der Schwüle tief im Rheintal entgehen, schweben wie ein Vogel und ein sattes und fettes Land unter sich:

Aufsteigen vielleicht in der Frühe des Morgens in der Nähe von Koblenz, auf einem kleinen Flugplatz; langsam an Höhe gewinnen, die Landskrone voraus, Ort früher Kindheitserinnerungen, unkalkulierbarer Kletterwagnisse; an diesem beeindruckenden Kegelberg, hinter dem sich das Ahrtal hin zum Rhein öffnet. Jetzt lassen wir ihn mühelos hinter uns und ein einzigartiges Panorama öffnet sich vor unseren Augen. Die Sonne steht noch tief im Osten. Bereits auf einer Höhe von drei- bis vierhundert Metern zieht die Maschine in einer weiten Schleife nach rechts. Der Rhein und jenseits die dicht bewaldeten Höhen des Westerwaldes kommen in den Blick. In die Höhenzüge des rheinischen Schiefergebirges hat der Rhein sein Bett gegraben. Das schon gleißende Silberband wird uns die ersten 150 km Orientierung geben. Jetzt im Juni wirkt dieser Graben irgendwie unwirklich. Das kräftige Grün der Plateaus zu beiden Seiten, hoch über dem Rhein geht auf der rechten Rheinseite in ein zartes Grün über, mit dem die gerade den Knospen entwachsenen Weinblätter das Rheinufer malen. Die „Höhenzüge“ von Eifel und Westerwald erscheinen uns von hier oben wie ein lebendiges Legoland. Vertrautes Terrain aus einer fremden, für drei der „Flieger“ ebenso angsteinflößenden wie faszinierenden Perspektive. Gen Süden geht es, zuerst Andernach - zur Rechten - dann Neuwied - zur Linken - ziehen vorbei. Jetzt öffnet sich das Neuwieder Becken und Koblenz, der Knotenpunkt, an dem der Rhein, Mosel und Lahn aufnimmt, lässt sich erahnen. Monoton und sonor brummt der Motor und in Vertrauen erweckender Weise zeichnet der Propeller einen präzisen Kreis in die klare Morgenluft. Die Anspannung ist gewichen und langsam gewinnt eine gleichermaßen angeregte wie euphorische Gemütsverfassung die Oberhand; Vorfreude auf vier schöne Tage in Österreich. Voraus, im enger werdenden Rheintal, regt das hochaufragende Brauhaus der Königsbacher Brauerei zu mancherlei Sehnsüchten und Scherzen an. Vorgelagert das über die Region hinweg bekannte Stadion Oberwerth, Kampfstätte der legendären TUS-Mannschaft der frühen 50er Jahre. Die Sonne steht jetzt schon höher. Im Westen bleibt der Sendeturm auf dem Kühkopf zurück, Hunsrück zur Rechten und Taunus zur Linken. Der Pilot weist auf den Loreley-Felsen hin und verströmt gleichermaßen gute Laune wie unbegrenzte Vertrauenswürdigkeit. 30 Jahre Erfahrung als Pilot, Fluglehrer und zuletzt Bordoffizier auf der Maschine der Bundesluftwaffe, die alle wichtigen Auslandsflüge des Auswärtigen Amts realisiert. Wer Genscher und Kinkel über die Ozeane trägt, dem muss der Flug nach Zell am See in Österreich vorkommen, wie der Ausflug eines Grashüpfers von einer Wiesenscholle zur nächsten. So wirkt die Stimmung gleichermaßen gelassen wie ausgelassen; vier Urlaubstage bei Kaiserwetter, optimale Flugbedingungen, Mainz und Wiesbaden voraus.

Der Pilot erklärt eine Kursänderung, Süd-Südost. Im Norden lassen sich die Bankentürme von Frankfurt erahnen, während jetzt der Main ein Stück weit die Richtung weist. Zwischen Odenwald und Spessart hindurch schlüpft die einmotorige Jodel DR-400 und nimmt Kurs auf Würzburg, das man nordöstlich liegen lässt, immer noch Kurs Süd-Südost. Im gleißenden Sonnenlicht verändert sich die Landschaft; nein nicht so sehr die Landschaft, sondern das, was die Menschen hinzugefügt haben. Die Dörfer haben jetzt rote Mützen und es überwiegen weite, ausgedehnte Getreidefelder. Erst südwestlich von Nürnberg werden die Felder wieder von ausgedehnten Wäldern unterbrochen. Hier wird Hopfen angebaut und weite Kartoffelfelder reichen bis zum Altmühltal. Schon kündigt sich das Donaumoos an. Jetzt sind es vielleicht noch ein bis 1 1/2 Stunden Flug. Dieser Morgen mit einer vielversprechenden Großwetterlage löst ungeahnte Glücksgefühle aus.

Vom Rheinischen Schiefergebirge bis zur Fränkischen Alb eine Tour d’Horizon über deutsche Landschaften. Deutschland ist schön, Bayern ist schön. Es ist, als entdecke man die Welt neu, als bringe man Sonne übers Land. Alle Sorgen und Nöte verblassen. Dies ist ein unglaublich kraftvolles Motiv. Mit den sphärischen Klängen von V’Angelis’ „1492" entschwebt man in eine andere Welt. Im Dahingleiten des leichten Viersitzers verliert sich das monotone Geräusch des Motors zu einem elementaren Daseinsmoment, nur entfernt, eher körperlich in leichten Vibrationen wahrnehmbar. Der Schwebezustand der Jodel (ver)führt bei den Sphärenklängen der Musik fast zu einem Verschmelzen von Körper, Geist und Maschine. Die Landschaft des Voralpenlandes wirkt wie eine riesige Puppenstube. Dies scheint nahezu das Erhabenste, zu dem sich Menschen mit Maschinenkraft aufschwingen können; einem Vogel gleich - und doch so verschieden - als Wesen, das seine Erlebnisfähigkeit zu orgiastischen Gefühls-Konvulsionen zu steigern vermag, in denen sich Fühlen und Denken undifferenziert zu endlosen Implosionen verströmen. Die Ruhe des Schwebens im hellen, unbegrenzten Raum, das Zittern und Beben in einem anderen Daseinszustand geben eine Ahnung davon, wie leicht und unbeschwert, wie losgelöst das Leben sein könnte; die Ungebundenheit bald hier, bald dort zu sein, über sich und die Umstände machtvoll und spielerisch verfügen zu können, hebt einen hinaus aus der Routine und den Beschwernissen des Alltags.

 

Was ich zuerst erinnere war eine Ungläubigkeit, bei aller Realitätsmacht; die deutliche Haltung, dies alles sei ein Irrtum, die Tatbestände, das Geschehen, die darin verwickelten Personen unklar - alles klärt sich auf im Sinne eines tragischen Irrtums. Es sind die Umstände der ersten Berührung mit einer Tatsache, die man nicht zulassen kann, die Traumata bestätigen und mobilisieren, atavistische, ahnungsvolle Motive, die sich im neuzeitlichen Lebensalltag erhalten: Dies kann das nächtliche Telefonklingeln sein, zu einer Zeit, wo nur „Ungewöhnliches“ und Tragisches, Schlimmes mitteilungswürdig sind. Alles andere kann warten. Es waren der weiße Passat und Claudias Gegenwart an einem ungewohnten Ort zu einer ungewohnten Zeit: „Was willst du hier und jetzt, was kannst du mir mitteilen wollen, was nicht per Telefon mitteilungsfähig wäre? Ich habe mein eigenes Auto hier, hier an meinem Arbeitsplatz, und ich wäre eine halbe Stunde später zu Hause gewesen, an einem normalen, nein, an einem ungewöhnlich schönen, heißen Frühsommertag, an einem 21. Juni des Jahres 1994. Also sag, was willst du? Ich bin noch nicht dem Bus entstiegen, ich muss noch meine Kinder abliefern, 200 Meter weiter, in der Willi-Graf-Schule!“

Auch schon hier, wo mit mir noch nichts geschieht, was Irritation schon bestätigen würde, zeigt sich, wie Vorstellungskosmen sich impulsiv ergießen, auch Drüsentätigkeit in Gang setzen, Adrenalin ausschütten, schon aversive, abwehrende körpersprachliche Signale mobilisieren, Gedankenströme in einer synchronen Vielfalt freisetzen: „Ist etwas geschehen? Mit unseren Kindern, mit meiner Mutter, mit anderen mir nahestehenden Menschen?“

Deine Sensoren, deine Schemata deuten Haltung, Mimik, Gestik - und dann ---- stilles Entsetzen, kontrollierte Hilflosigkeit, ängstliches Bemühen, zweihundert Meter Zeit gewinnen - andere Menschen, Kolleginnen einbeziehen in diese Abartigkeit, in dieses sich auftuende Höllental menschlicher Nöte. Wenigstens für eine halbe Stunde in der Gegenwart schockierter, betroffener, vielleicht auch peinlich berührter, überforderter Menschen Haltung und „contenence“ bewahren können. Langsames Eintrimmen der Denk-Fühlwelt auf etwas Unfassbares, suchende, unsichere, panische, flackernde Augenkontakte, geschäftiges Regeln von Belanglosem, vorbereiten auf den Gang nach Nirwana, Luftholen für einen langen, endlosen Tauchgang. Seit dem 21.6.1994 lief der Zeitzünder einer Bombe; der Säurezünder ungeklärter Beziehungen frisst sich in den Schutzmantel. Die Karten werden neu gemischt.

Ich sitze im Passat, werde die B9 entlang gefahren und höre im Radio die Meldung über den Absturz einer viersitzigen Sportmaschine in der Nähe von Landshut. Alle vier Insassen sind tot, tot, tot... Was nun geschieht ist die Zuspitzung und Beschleunigung, aber auch die neu konditionierte Atomisierung eines Familienkomplexes: Elementarteilchen - drohendes, sich erfüllendes Menetekel und Aufbruch zur Menschwerdung zugleich. Im Familienkeller stehen viele Fässer: Guter, alter Wein, in Gärung befindlicher Federweißer, Essig, Verdorbenes. Die Erschütterung lässt viele Fässer zerbersten, manche bekommen Risse, laufen langsam aus - alles vermischt sich zu einer undefinierbaren Brühe. Ein mühsamer, aber auch klärender Prozess kündigt sich an, dies auseinander zu destillieren und den eigenen, unverwechselbaren Charakter zu (re)konstruieren: Und immer auch ein Prozess der Dekonstruktion: Viele Mythen werden von nun an in ihrer Brüchigkeit deutlich, die alten Erzählungen tragen nicht mehr.

Im Gedenken an meinen Bruder Willi

(12.11.1955-21.6.1994)

Als mir einmal in einem Gedicht Jakob van Hoddis begegnete

(übrigens geboren 1887 als Hans Davidsohn, früh sich schizophren zeigend, und am 30. April 1942 aus der Heilanstalt Bendorf-Sayn, abtransportiert, um, man weiß nicht wo, wann und wie, vernichtet zu werden – biographische Angaben aus der „menschheitsdämmerung“, ein dokument es expressionismus, berlin 1920, von kurt pinthus 1959 neu herausgegeben – an Jakob van Hoddis ist just an diesem Ort, der ehemaligen Heilanstalt Bendorf-Sayn, auf der Koblenz-Olper-Straße – unweit des Ortes, an dem unserer Wohngemeinschaft in den siebziger Jahren gelebt hat - im September 2001 mit einer beeindruckenden Ausstellung erinnert worden)

 

Ich bin träge,
Schatten-Schwüle.
Und ich wäge
Die Gedanken-Mühle

Welt verglimmt,
ein endlos Flimmern,
Blut gerinnt,
Konturen schimmern.

Welten-Rauschen
Kinderstimmen.
Hilflos lauschen,
Sinne trimmen.

Sinne schwinden,
schwerer Schlaf.
Ruhe finden –
Schlafes-Schlaf.

Fernes Dröhnen,
Flug-Motoren,
Sinne stöhnen,
Seins-Verloren.

Bin ich wach,
in welchem Raum?
Ist das Krach
In meinem Traum?

Kommt Wirklichkeit
mir wirklich nah?
Vergangenheit,
was auch geschah?

Am Amazonas
Fällt ein Baum!
Ach was!? Und was
ist Deutungsraum?!

Dem Bürger fliegt
Vom spitzen Kopf der Hut.
In allen Lüften hallt es
Wie Geschrei.
Ein Flug-Gerät stürzt ab
und geht entzwei,
und in den Köpfen
- spürt man -
steigt die Flut.
Und die Gezeiten wechseln
Wut-Mut-Wut.
Der Sturm ist da,
die wilden Meere hupfen.
Und die Seele schwillt,
um Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen weinen,
wie bei Schnupfen
und stehn am Abgrund;
suchen Brücken.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund