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Einleitung zum Demenztagebuch oder: Butter bei die Fische

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Zum Einstieg oder zum besseren Verständnis sollte man mit dem ältesten Beitrag beginnen.

Mit den folgenden Bemerkungen habe ich in der Kopfzeile meines mäandernden BLOGS einen weiteren komplexen Menüpunkt eröffnet. Es wird nicht bei theoeretischen Reflexionen zum Sinn und den Grenzen eines Tagebuchs bleiben. Ein alter Fluss mäandert gern und lässt sich ungern in ein (betoniertes) Bett zwängen. Gleichwohl stößt er auf Barrieren, und Jahrmillionen wird keiner von uns fließen. Man wird die wenigsten Barrieren und Hindernisse erodieren können, so dass Letztgültiges und Finales nicht zu erwarten ist. Vielleicht wird es dennoch spannend und unterhaltsam:

Denkt man darüber nach, welche Absichten und Zwecke man mit dem Verfassen eines Tagebuches verfolgt, bewegt man sich auf einer Metaebene. Ich fasse solche Bemühungen deshalb unter dem Begriff des Metatagebuchs zusammen. Nehme ich die Zwecke selbst in Augenschein, bleiben neben dem Tagebuch selbst, das vermutlich die eindrücklichste und nachvollziehbarste Form der Selbstvergewisserung darstellt, spezifische Unternehmungen, wie beispielsweise das Lerntagebuch oder ein Sterbetagebuch. Dies kann gewissermaßen auch in einem Gesamtunterfangen kumulieren, wie es z.B. Wolfgang Herrndorf in seinem Online-Tagebuch Arbeit und Struktur öffentlich in Form eines BLOGS bis zu seinem Suizid im August 2013 versucht hat. Der Leser kann bis zum Ende jene (sicht- und nachvollziehbaren) Spuren verfolgen, die jemand im Angesicht einer finalen Diagnose hinterlässt. Das Tagebuch wird auf diese Weise zu einer prozeduralen Hinterlassenschaft, die Einsichten erlaubt – eben in die Arbeit (Prozess), die jemand absondert und in die Gerinnung dieser Absonderungen (Struktur). Irgendwann – spätestens post mortem – bleiben nur noch die Einkerbungen in eine Welt, die das eigentlich nicht nötig hätte (Derrida).

Aber vielleicht hat es der Tagebuchschreiber nötig. Die spannendste Frage ist und bleibt für Beobachter (fürs Publikum) die, wie weit jemand dabei bereit ist zu gehen. Soweit ein Tagebuch ausschließlich der Selbstvergewisserung dienen soll, wird es in der Regel im Selbstpol verschlossen bleiben – ein autistisches Unterfangen, bei dem man sich rückhaltlos mit sich selbst und der Welt auseinander setzt, ohne sich einer Öffentlichkeit auszuliefern. Davon wird es vermutlich Millionnen und Abermillionen an Zeugnissen geben, die in Schulbladen – heute in virtuellen Ordnern – geheim gehalten werden oder auch vor sich hinwarten, bis sie sich irgendwann unbeobachtet – auch physisch entmaterialisieren. Im Übrigen kann man die von Henning Mankell vertretene Haltung, man solle sich im Leben nicht zu viele Sorgen machen, man komme da sowieso nicht lebend raus, so oder so deuten: Lebt einfacht und hört auf ständig zu reflektieren oder gar zu lamentieren - oder: Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden (Psalm 90). Henning Mankell hat offensichtlich beide Haltungen auf ungewöhnliche Weise zu einer Symbiose verschmolzen.

Soll das Tagebuch hingegen eine Außenwirkung haben – zwischen Selbst- und Fremdpol oszillieren –, dann muss es adressiert sein; an die Hinterbliebenen oder im Falle ausgewiesener Prominenz an die (Welt-)Öffentlichkeit. Dazu hat nicht jeder den Mut bzw. manche neigen dazu, ihr Mütchen erst posthum zu kühlen. Dann kann man nicht (mehr) gefragt werden, und man muss/kann sich auch nicht mehr rechtfertigen. Dass dies eine sinnvolle, ja not-wendige Voraussetzung für ein erträgliches soziales Miteinander sein kann, hat Peter Sloterdijk (kommt im sechsten Absatz des sich öffnenden Beitrags zu Wort!) in der lapidaren Sentenz zusammengefasst, diskret sei derjenige, der wisse, was er nicht bemerkt haben solle! Selbstdiskretion – und Diskretion überhaupt – sind nicht selten notwendige Voraussetzungen für ein Überleben in Gemeinschaft (ein Fallbeispiel). Schließlich erklärt sich aus den zivilisatorischen Errungenschaften der Selbstdesinteresserierung, des Taktes und der Diskretion, warum das Tagebuch nach wie vor in seiner überwiegenden Existenz im Selbstpol verschlossen bleibt und das nicht autorisierte Lesen eines Tagebuchs einen gravierenden, in der Regel folgenreichen Tabubruch darstellt. Denn der ernsthafte Versuch eines Tagebuches entgeht in der Regel nicht der nachhaltigen und radikalen – oder wie sagt man so treffend: der schonungslosen Auseinandersetzung mit den eigenen Schamgrenzen und den eigenen schuldhaften Verstrickungen im Leben.

Daher grundsätzlich die Empfehlung an die zarten Seelen lieber zu leben als (nach-) zu denken oder gar mit der unvermeidbaren Sichtbarkeit von (Schrift-)Zeichen Spuren zu produzieren und möglicherweise zu hinterlassen. Wer hingegen das Risiko der Aussetzung bereit ist in Kauf zu nehmen oder zu kalkulieren, der ist mit einem Online-Tagebuch gut beraten (aber das machen die Schnapsnasen in unreflektierter bis peinlicher Weise - völlig unambitioniert - ja ohnehin in den sogenannten sozialen Netzwerken, ohne auch nur annähernd respektables Tagebuch-Niveau zu erreichen).

Die Frage ist nun, wie kommt Butter bei die Fische? Ob nun Geistesriese à la Immanuel Kant oder delikate Nichtigkeit im Sinne Adrian Nemos (der mich als mein alter ego zweifellos überleben wird) - um die Beantwortung der Kantischen Fragen kann man sich nicht wirklich herummogeln:

  • Was kann ich wissen?
  • Was soll ich tun?
  • Was darf ich hoffen?
  • Was ist der Mensch?

Um Missverständnissen vorzubeugen; ich will und kann diese Fragen nicht beantworten - zumindest nicht unter der Maßgabe eines "kategorischen Imperativs" ("Handle so, dass die Maxime  deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte!"). Ich mogle mich an dieser Stelle mit meinem ironietechnischen Werkzeugkasten heraus und empfehle, sich des Imperativs zu enthalten. Gleichwohl taste ich mich selbst für mich selbst durchaus an eine Beantwortung dieser Fragen heran. Und so theorieüberfrachtet mein Gesamtkunstwerk: www.fj-witsch-rothmund.de auch daher kommen mag, die Antworten, die sich mir anbieten, resultieren aus einer Praxis, die am dichtesten und am authentischsten aus den von mir zu bewältigenden finalen Wendepunkten aufscheint. Besondere und markante Grenzsituationen markieren im Luhmannschen Sinne Wendepunkte in einem Lebenslauf, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Dies mag uneingeschränkt zutreffen auf die absolute Zufallsabhängkeit der Liebe (falling in love). Die Frage, ob und wie wir die Liebe unseres Lebens finden, lässt sich ohne die Macht und Gnade des Zufalls sicherlich nicht beantworten. Ein wenig anders stellen sich finale Wendepunkte in einem Lebenslauf dar: der Tod und das Sterben von Vater und Mutter, des Bruders, des Schwiegervaters, guter Freunde - hier ist es noch die Frage, wie wir damit im Einzelnen umgehen und wie wir finale Prozesse (mit-)gestalten und beeinflussen. Bezogen auf den finalen Wendepunkt des eigenen Lebenslaufs stößt man an die Grenze des: mors certa - hora incerta! Aber Vieles mag da schon entschieden sein durch die Praxis eines aktiven Lebens, das sich von einer Pädagogik der Bewahrung abwendet und sich einer Pädagogik der Bewährung aussetzt: Wie kann ein Muttersohn das Sterben der Mutter begleiten? Wie hält er dieser Bewährungssituation stand? Und wie stellt sich ein ganzes Leben dar - zwischen dem unerhörten Glück vorbehaltloser Zugehörigkeit und den Verlusten, die das Leben unwiederbringlich mit sich bringt?

Das Tagebuch ist hier im besten Falle ein Instrument, das dem Sog des Vergessens Inseln der Erinnerung abringt. Als verschriftlichtes Gedächtnis bringt es Struktur in den unaufhaltsamen Prozess eines selektiven Erinnerns und Vergessens. Was mich dazu veranlasst, nun auch dazu überzugehen, die eigenen Erinnerungen mit einem soliden Gerüst auszustatten, ist zwei zentralen Motiven geschuldet:

  • Ich werde alt - ich bin alt, kein Methusalem, aber ein Mensch mit einem Gedächtnis, das seine Spannkraft verlieren wird, das möglicherweise leer und leerer wird - je älter ich selbst werde.
  • Ich habe genau dies erlebt! Die Beantwortung der Frage, wie ein Muttersohn das Sterben der eigenen Mutter begleiten kann, wurde 2003 bereits begleitet vom unaufhaltsamen Weg meines Schwiegervaters in die Demenz; ein langer Prozess, der erst mit seinem Tod im März 2010 endete.

Bei der Lektüre der jeweiligen Tagebücher, die ich seinerzeit akribisch geführt habe, wurde mir wiederum zweierlei umfassend klar:

  • Die Sorge und die Fürsorge, die liebevolle Zuwendung und die Begleitung hinein in diesen finalen Prozess hinein machte mich auch zum Beobachter. Und ich wollte wissen, wie sich solche Prozesse des (Selbst-)Vergessens vollziehen, wie man sie gestalten, mildern und begleiten kann. Ich wollte wissen, auf welche Weise und wie sehr sie das soziale System der eigenen Familie und der Herkunftsfamilienund auch des sozialen Netzwerks insgesamt, in dem man sich bewegt, beeinflussen und verändern. Ich sollte mir die Frage beantworten müssen, wie ich selbst - nach dem Sterben und dem Tod der Mutter - dieser Herausforderung würde standhalten können.
  • Die erneute Lektüre meiner Tagebücher erweist sich dabei als ungewöhnliche Kraftquelle einerseits. Andererseits zeigt sich eben auch, wie sehr solche Prozesse die systemische Entwicklungsdynamik in der eigenen Familie und selbstverständlich auch auf die Paarbeziehung und Freundschaften befeuern. Hier nun - an dieser Stelle, mit Blick auf die intime Paarbeziehung, in der ich mich aufgehoben fühle - installiere ich ein Klärwerk, das Mitteilungsfähiges und Nicht-Mitteilungsfähiges zu scheiden weiß. Diese Grenzen muss ich ausloten. Wollen wir alle aber gemeinsam verstehen und auch lernen, wie Familie funktioniert, dann muss die Soziologie der Familie mit Geschichten zum Leben erweckt werden; denn die Menschen sind doch ihre Geschichten. So kann man an dieser Stelle zumindest sagen, dass z.B. "Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete..." nicht zu verstehen ist und so gar nicht erst entstanden wäre, hätte es den langen Weg Leos in die Demenz mit seinen systemischen Wirkungen und Nebenwirkungen nicht gegeben.

Wenn ich nun mit einem Eintrag aus dem Frühjahr 2003 beginne und dann einen großen Zeitsprung vollziehe, dann geht es einerseits darum, einen Eindruck von den Rhythmen und dem basso continuo zu vermitteln. Zum anderen wird der Zeitsprung eine größere Dichte offenbaren, was den Weg in und durch die Demenz von Leo, meinem Schwiegervater angeht. Die Lücken werde ich nach und nach füllen. Und wie schon gesagt: Hygienewasch und Inkonsistenzbereinigungsprogramme sorgen dafür, dass niemand Ängste haben muss, es ginge ihm hier ans Leder.

Inzwischen, nach den ersten Eintragungen ist mir die Klemme allerdings mächtig bewusst, in die ich mich - insbesondere auch bei dem auf Leo, meinen Schwiegervater - bezogenen Demenztagebuch hineinbegebe. Naturgemäß - da es ein finales Tagebuch ist - verschiebt sich der Fokus gewissermaßen hin zu einem Pol, den ich Thanatos-Pol nennen möchte. Es endet mit dem Tod Leos, aber nicht mit meinem! Auszuhalten, zu gestalten war dieser gesamte Prozess im Rückblick durch den Spannungsraum, der auf der anderen Seite durch einen Pol aufgespannt wurde, den ich Eros-Pol nennen möchte. Parellel zur finalen Begleitung meines Schwiegervaters vollzogen sich im komplexen System so viele Prozesse, ohne die ein Zusammenbruch, eine Resignation angesichts des finalen Charakters der liebevollen Fürsorge und Pflege vermutlich unabwendbar gewesen wäre. Bios wird durch Eros erst zu jener Qualität, die der anderen durch Thanotos repräsentierten Seite einen vitalen Egoismus - möglicherweise bis hin zur Egomanie entgegenhalten kann. Ich werde dies wohl nur in einer verfremdenden literarischen Aufarbeitung angehen können, denn es gibt ja den Diskretionsvorbehalt à la Sloterdijk: Diskret ist wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll! Sanfte Andeutungen hingegen gestatte ich mir.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund