Tagebucheintrag vom 2. März 2003 - zum familienhistorischen Kontext und besseren Verständnis
Heute ist der 2. März 2003:
Karnevalssonntag. Nach über drei Wochen herrlichstem Winter- bzw. Frühjahrswetter hat die typische Sauerei eingesetzt: Schmuddelwetter. Dennoch habe ich einen Spaziergang mit Biene über den Heyerberg gewagt und bin nun im Weinhaus Schwaab eingekehrt - der einzige Ort, an dem Biene, trotz ihrer Schlammpracht, jederzeit willkommen ist. Claudia und die Kinder sind in Südtirol zum Schilaufen, und ich hatte mich auf ein paar Tage solo gefreut: Das heißt ich spüre immer wieder einmal die Sehnsucht, zu erfahren, wie das denn wäre - alleine zu leben. Die Unruhe, die ich verspüre, ist teils von außen bedingt, teils ist sie hausgemacht. Morgen fahre ich zum dritten Mal nach Bad Neuenahr; meine Mutter hat - wenn es gut läuft - drei Wochen, flach auf dem Rücken liegend, im Krankenhaus zu überstehen (Lendenwirbel-Bruch). Daran soll sich eine Reha-Maßnahme anschließen. Im Gegensatz zu den letzten Besuchen in der Kreuzstraße halte ich es im Krankenhaus nicht lange aus. Die Atmosphäre bedrückt mich. Wenn Mama auf die Pfanne muss, verlasse ich - ganz gegen meine sonstige Erfahrung - freiwillig den Raum; bei der Bettnachbarin ohnehin und selbstverständlich. Der Geruch, der mich früher kalt gelassen hat, irritiert mich. Das, was sich gegenwärtig zuträgt und hoffentlich noch einmal zum Besseren wendet, stand mir immer schon als konkrete Bedrohung vor Augen: Eine zunehmend auf Hilfe angewiesene Mutter, die irgendwann einmal zum Pflegefall wird. Dazu eine Schwester, die nur in Grenzen ein natürliches Engagement entfalten kann, das in anderen Fällen so hervorsticht. Und ich? Ich bin 50km weg, eingebunden in ein System Rothmund, das uns wahrscheinlich in kürzester Zeit über den Kopf wachsen wird. In den wenigen Tagen über Karneval versorge ich Haus und Hund, Muckel (unser Kaninchen) und Leolo (Birgits Katze). Ich fahre mehrfach nach Bad Neuenahr und versuche - nach einer kräftigen Erkältung - selbst wieder auf die Beine zu kommen.
Bei alledem habe ich seit geraumer Zeit das Gefühl, deutlicher in jene depressive Verstimmungen hinein zu rutschen, die für einen kleinen Teil unserer Familie vielleicht typisch ist. Gestern Nachmittag habe ich - weil die anderen, Torben und Gaby mit Sauers, in Heimersheim auf dem Karnevalszug waren, mit meiner Tante Annemie Kaffee getrunken. Natürlich sind wir sehr verschieden. Und dennoch habe ich manchmal den Eindruck (auch) einer (Seelen-)Verwandtschaft. Als die anderen vom Karneval kamen, veränderte sich die Stimmung schlagartig, wobei die Männer schon gut vorgeglüht hatten und insofern nicht mehr bemerken konnten, dass dies der Tante wohl alles zuviel war. Manchmal habe ich Angst, die anderen könnten vielleicht viel deutlicher spüren, wie ich mich manchmal fühle. Es gibt schon auch manchmal die Vorstellung, diese depressiven Verstimmungen könnten eine Dynamik entwickeln, die sich irgendwann nicht mehr beherrschen lässt. Ohne den Heidelberger Werkzeugkasten samt Proviant (dreijährige Ausbildung bei der Internationalen Gesellschaft für Systemische Therapie - IGST) - wei weiß?
Ich fühle mich nicht frei. Ich fühle mich ständig beobachtet, ständig gefordert. Im täglichen Drang der Erwartungen und Forderungen scheint eine Grenze auf, die vielleicht die Qualität von Überforderung hat - die typische Situation der Sandwicher: Unten läuft es nicht rund - die Kinder haben Schulprobleme - und oben kommen die Einschläge näher und werden dichter. Ich bin ein merkwürdiger Beobachter, der auf Situationen selbst schaut, als Bruder eines toten Bruders, als Sohn einer erwartungsoffenen Mutter und Schwiegersohn eines omnipräsenten Schwiegervaters:
- Mutter ruft - selten oder nie! Dennoch ist hier das Schuldgefühl meinerseits am ausgeprägtesten - aber das wird sich ja noch zuspitzen. Hier ist die Stelle, an der man zeigen kann, wie der Daheimgebliebene den in die Welt gegangenen entlastet hat. Der Daheimgebliebene ist nicht mehr da! Wie unendlich ist das Vakuum, das du hinterlassen hast.
- Schwiegervater ruft: "Komm - spiel mit mir!" Die Gesten beschränken sich auf Verwaltung, Garten, Tennisplatz - Wasserträger und gemeinsame Mahlzeiten an den Wochenenden; Beistand im medizinischen Parcour. Ich kann etwas zurück geben von dem, was er mir gegeben hat.
- Die Kinder? Ich rufe die Kinder! Ein Segen, das es Schwimmbäder gibt. Ein Segen, dass es Biene gibt. Ich glaube schon, dass die Kinder unser Tun als Gemeinsames in Erinnerung behalten werden; Urvertrauen in Geborgenheit (mit von mir höchstpersönlich zu verantwortenden Eintrübungen!)!
Bisher ist es mir in meinem Leben gut gegangen, aber ich fühle mich nicht frei. Ich fühle mich häufig wie ein geprügelter Hund - und Biene ist häufig genug ein Spiegelbild meines Seelenlebens; nicht weil ich sie prügele, sondern weil sie einfach weiß, wie man sich als Hund seinem Herrn gegenüber verhält. Und immerhin zeigt sie unbändige Lebensfreude und wird zur Wildsau, wenn man dem Affen Zucker - sprich den Tennisball gibt.
Ich mache nun in der Folge einen Zeitsprung ins Jahr 2007. Meine Mutter ist seit vier Jahren tot, und nun betritt Leo die Bühne für einen finalen Mehrakter! Es wird überdeutlich, wie sehr Familien unter Druck geraten, wenn sie den Spagat wagen, neben der Erwerbstätigkeit Sorge und Fürsorge nicht nur für die eigenen Kinder zu zeigen, sondern auch für die (Schwieger-)Eltern. Es ist im Übrigen bis zum heutigen Tag (8.12.2015) so geblieben. Lisa lebt mit ihren 92 Jahren nach wie vor in ihrem Haus und wird von uns versorgt. Bislang konnten und wollten wir jede Heimlösung vermeiden.
Die Zeit und die mit ihr verbundenen neuen Lebenslagen überrennen uns. Am vergangenen Freitag (11.12.2015) ist eingetreten, was wir immer befürchtet haben; meine Schwiegermutter ist in ihrer Wohnung gestürzt und hat sich den linken Oberschenkelhals gebrochen. Sie ist noch am Abend operiert worden. Heute Morgen war ich im Laubenhof (Altenstift in Güls) und habe mich erkundigt im Hinblick auf Kurzzeitpflege und eine mögliche Dauerlösung. Denn wir geraten nach mehr als 15 Jahren intensiver Begleitung unserer Eltern langsam an Grenzen. Wir sind selbst älter geworden und erleben, das eine steigende Lebenserwartung - meine Schwiegermutter ist im 93sten - häuslicher Pflege engere Grenzen setzt.
Kleine, aber folgenreiche Ergänzung am 15.1.2016: Die Entscheidung ist gefallen. Wir werden Lisa, Claudias Mutter, meine Schwiegermutter und Lauras und Annes Großmutter zu uns ins Pühlchen holen. Gestern haben wir den Treppenlifter bestellt! Lisa hat das einen ordentlichen motivationalen Pusch gegeben. Heute Nachmittag war ich mit Anne im Laubenhof. Der beste Besuch seit dem 11.12.15. Ich denke, wir machen es richtig!
So wird mir unterdessen klar (Weihnachten 2015 ist vorüber - es ist Sonntag und wir schreiben den 27.12.2015), dass das schlichte Vorhaben, ein Demenztagebuch aus den vorliegenden Aufzeichnungen zu filtern, der aktuellen Durchschüsse bedarf. Das Leben ist jetzt!