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Ohne festen Boden - oder: In Sprache mutiert Gesellschaft

Die Erfindung der fünften Gewalt

"Ohne festen Boden" - so lautet der Leitartikel von Dirk Kurbjuweit im SPIEGEL 14/15 (S. 14). Dirk Kurbjuweits Leitartikel endet mit einem bemerkenswerten Schlusssatz: "Nach der Katastrophe kommt zuerst das Innehalten im Schock, dann die Trauer, und dann leben die nicht unmittelbar Betroffenen weiter wie bisher. Anders geht es nicht."

Auf die exklusive Rolle von 150 Familien- und Freundeskreisen im Zusammenhang mit der Unglücksmaschine 4U9525 habe ich in: "Eine ZEIT-Reise" hingewiesen. Aus der gleichermaßen ernüchternden wie heilsamen Vorstellung, dass der Mensch außerhalb der Gesellschaft zu positionieren sei, dass Gesellschaft im Sinne von Niklas Luhmann "bewusstseinfrei" im Modus von Kommunikation operiert, resultiert ein weiterer entscheidender Hinweis mit Blick auf den massenmedialen "Extremismus der Erregung" (Bernhard Pörksen). Hier lassen sich fast ausnahmslos die Auslassungen selbsternannter und berufener Experten einordnen; vom SPIEGEL (Dirk Kurbjuweit) über die ZEIT (Bernhard Pörksen) bis zur Rhein-Zeitung. Letztere räumt dem Experten Werner Dinkelbach (Psychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker) eine Dreiviertelseite im Rahmen eines Interviews ein, der immerhin auf die Frage, ob das Rätsel ungelöst bleiben könnte, festzustellt:

"Das ist schwer auszuhalten. Das widerspricht unseren kognitiven Vorgängen im Kopf. Wir versuchen für jedes Ereignis eine Ursache zu definieren, um etwaige Folgen einschätzen oder uns gegen etwas wappnen zu können. Dahinter steckt unser grundlegendes Sicherheitsgefühl. Diese unfassbare Tat untergräbt den Wunsch, die Welt erklären zu wollen."

Und Hans Werner Dinkelbach bekennt auf den Hinweis, dass es ihn als Psychologen doch grämen müsse, die Seele eines Menschen nicht ergründen zu können:

"Ich mache oft genug die Erfahrung von Überraschungen, und weiß das Verstehen seine Grenzen hat. Deshalb grämt es mich nicht. Es verschreckt mich zutiefst, es ängstigt mich auch. Aber ich werde damit leben müssen."

Damit markiert Hans Werner Dinkelbach eine Grenze, die im journalistischen Alltagsgeschäft - im konkreten Fall häufig auf unerträgliche Weise - überschritten worden ist. Journalisten, aber auch die Ko-Experten sollten Hans Werner Dinkelbachs Festellung respektieren:

"Wir wissen nicht, was in seinem Kopf vorgegangen ist, ob er die Tat geplant hat. Es gibt einen Moment, in dem auch die Psychologie aufhören muss zu denken."

Manch einer wird es als Erbsenzählerei oder als Haarspalterei auffassen, wenn hier nachdrücklich der Hinweis erfolgt, dass die Psychologie nicht denken kann. Psychologen denken wohl, und wenn sie ihr Denken mitteilen wollen, dann tun sie dies im Modus der Kommunikation und im Medium der Sprache. Und natürlich beginnen genau hier die Probleme, die Hans Werner Dinkelbach möglicherweise im Blick hat: Die Kommunikation über das Denken irgendjemandes kann immer nur spekulativ sein. Wir können nicht in den Kopf, in die gedanklichen Prozesse eines anderen hinein schauen. Sie bleiben für uns alle wechselseitig intransparent. Dies ist der Grund, warum Norbert Bolz (siehe die "Luhmannsche Lektion") im Anschluss an Niklas Luhmann vor allem vor einer Überschätzung der Sprache warnt:

"Im Grunde weiß jeder, dass die Umgangssprache unfähig ist, komplexe Konflikte zu lösen. Man denke nur an den Ehestreit. Sprache ist zu beliebig, um das Soziale zu strukturieren. Auch reicht der Bezug auf Sprache nicht aus, um die Stiftung von Sinn zu begreifen. Luhmann versteht Sprache deshalb 'nur' als Variationsmechanismus, also in Sprache mutiert Gesellschaft."

Im massenmedialen Zeitalter geht die Frage dann vermutlich nur noch darum, wer in diesem komplexen, dynamischen "Extremismus der Erregung" Deutungsvorteile oder gar die Deutungshoheit gewinnt. Allein dies wäre trivial. Scharf gestellt werden die Grenzen des Verstehens, wenn wir mit Peter Sloterdijk - ebenfalls im Anschluss an Niklas Luhmann - die Einsicht zulassen, dass wir als Menschen grundsätzlich nicht darauf ausgelegt sind, die Wahrheit über uns selbst schon in uns selbst zu haben:

"Dieser Sachverhalt lässt sich im Blick auf das anspruchsvollste Beispiel am populärsten erklären: Es gibt kein menschliches Gehirn, und es kann aus prinzipiellen Gründen keines geben, das bis ins einzelne wüsste, wie es selbst funktioniert, geschweige denn eines, das sich bei laufendem Betrieb, eine komplette Repräsentation seiner historischen und strukturellen Betriebsbedingungen - im Sinne eines hierjetzt aktuellen, in Totaltransparenz zu sich gekommenen Geistes - gegenwärtig halten könnte [...] Es existiert in dieser Hinsicht weder ein sich selbst bis auf den Grund durchsichtiges Subjekt noch ein freies, zur Revolte und zum bösen Selbstgenuss prädisponiertes Ego, das als Zentrale einer schuldhaften Verweigerung der Kommunion mit allen anderen Organismen oder Ko-Subjekten fungieren könnte. Aber es existieren ohne Zweifel fehlgesteuerte oder misslungene Autopoiesen, die wenn man ihnen abhelfen will - in therapeutischer Einstellung studiert werden müssen. Das Gehirnbeispiel ist hierfür zwingend gültig; es müsste, solange Argumente zählen, auch jene beeindrucken, die nicht so leicht loskommen vom Phantasma der sprachvermittelten integralen Selbstreflexion der Gesellschaft in der Gesellschaft oder von höherstufigen Subjektivitäten in der Geschichte."

Daraus resultieren Konfliktlinien, die Norbert Bolz mit einer Demutsgeste auf der einen und fortgesetzter Hybris auf der anderen Seite markiert: "Sprache als wahrheitsindifferenter Variationsmechanismus oder als Vehikel der Wahrheit, darum geht der Streit."

Bernhard Pörksen fordert "Regeln zur Wahrung der Besonnenheit in besinnungslosen Zeiten" (ZEIT 14/15). Ein (Tages-)Journalismus, der unter dem Druck steht, pausenlos berichten zu müssen, produziert aus seiner Sicht zwangsläufig "Pseudo-News" und verkauft sie als "Wahrheiten". Auch wenn kaum anzunehmen ist, dass die weiter oben angedeuteten Konfliktlinien einen Ort im Professionswissen der meisten (Tages-)Journalisten beanspruchen können oder dass sie gar die ethischen Grenzen in der Berichterstattung zu beeinflussen vermögen, unterliegen Journalisten - anders als diejenigen, über die sie berichten - keiner "Unschuldsvermutung". Man kann nicht einen ganzen Berufsstand exkulpieren, bloß weil die Gesetze des Raubtierjournalismus gnadenlos und das erkenntnistheoretische Selbstvergewisserungsniveau (im Sinne einer kritischen Selbst-Reflexion) defizitär sind :

"Aber was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass auf die Katastrophe des Flugzeugabsturzes, online wie offline, ein Ausbruch medialer Hysterie folgte, ein allgemeines Ad-hoc-Reagieren und permanentes Sofort-Kommentieren, das niemanden sonderlich gut aussehen ließ. Die Journalisten nicht, die trauernde Angehörige und geschockte Schüler fotografierten und filmten. Die Experten und Pseudo-Experten nicht, die wild über technische Ursachen, ein vermeintliches Gewitter in den französischen Alpen oder die Seelenlage des Piloten spekulierten. Aber auch die Medienkritiker und die professionellen Apokalyptiker der Branche nicht, weil auch ihre Reaktionen im Angesicht der Katastrophe etwas seltsam Maßloses bekamen - ganz so, als ginge es darum, das Extreme des Ereignisses noch mit einer möglichst extremen Deutung zu überbieten und im Moment der Empörung irgendeine seltsame Form der Ekstase zu erleben."

 Statt "elementarer Ungewissheit bei gleichzeitig gefordertem Sofort-Sendezwang" Zurückhaltung und seriöse, sachlich vertretbare Berichterstattung? Bernhard Pörksen erhofft sich entsprechende Korrektive von der fünften Gewalt: "Noch watschte man die Einsprüche (den Unmut im Netz) selbstbewusst als das Gerede von 'Moralaposteln' ohne fundierte Medienkenntnisse ab, aber schon allein der Zwang zur Auseinandersetzung macht deutlich, dass neben die vierte Gewalt des Journalismus heute die fünfte Gewalt der vernetzten vieln getreten ist, die Medien beobachten und kritisieren." Aber die fünfte Gewalt allein wird es nicht richten können. Zur Ausbildung und zur (Selbst-)Bildung in allen funktional relevanten Subsystemen unserer Gesellschaft (Recht, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Kunst, Medien, ja selbst und insbesondere in Intimsystemen) ist die Luhmannsche Lektion unentbehrlich. Peter Sloterdijk erachtet sie als elementare Übung in Bescheidenheit, als ein „Theorietreiben auf der Stufe der dritten Ironie“. Sie fördere eine Neigung zum Desengagement von fixen Meinungspositionen, weil das Luhmannsche Denken von sich her eine Komparatistik der Illusionen nahelege:

Sloterdijk konstatiert zu Recht, dass die Intellektuellen, die für sich einen höheren Ernst reklamierten, weil sie als Fürsprecher einer Realität ersten Grades, einer unmittelbaren Not oder einer unabgekühlten Wut aufträten, genau diese Einsicht verweigerten. Die Entbindung der ungeheuerlichen Gewaltexzesse im 20. Jahrhundert und ihre Fortsetzung bis in die Gegenwart hinein schreibt Sloterdijk in Anlehnung an die Luhmannsche Haltung der „Selbstdesinteressierung“ dem allen Weltbeschreibungen erster Ordnung inhärenten Paranoia-Potential und dem von ihm gebundenen und entbundenen Gewaltpotential zu:

„Wo immer Menschen anfangen, ihre Weltbilder distanzlos zu bewohnen und ihre Einteilungen des Seienden im ganzen als eine Arena realer Kämpfe zu erleben, dort sind sie der Versuchung ausgesetzt, für ihre Identitätskonstrukte bis zum bitteren Ende zu kämpfen und für ihre Fiktionen zu töten.“

Als professioneller Beobachter attestiert Bernhard Pörksen dem Mediensystem aus gegebenem Anlass den bereits erwähnten "Extremismus der Erregung", eine vollkommene Distanzlosigkeit gegenüber Prinzipien der Sachgemäßheit und Sachlichkeit ebenso wie gegenüber möglichen Prinzipien einer ethischen Selbstverpflichtung:

"Es gilt in einer Zeit, in der uns aus einem globalen Pool der Daten und Dokumente täglich aufwühlende Bilder erreichen, auch auf Extremereignisse gleichermaßen besonnen und mitfühlend zu reagieren - sonst entsteht ein Stichflammen-Journalismus und eine gesellschaftliche Stimmung des letztlich folgenlosen Dauerentsetzens. Das heißt: Die Mediengesellschaft der digitalen Moderne braucht, paradox genug, Regeln zur Sicherung der Besonnenheit in besinnungslosen Zeiten. Sie muss dem emotionalen Extrem - sei es eine Flugzeugkatastrophe, ein Amoklauf, ein Enthauptungsvideo, ein Attentat - auf eine Weise begegnen, die nicht selbst in einem Extremismus der Erregung versinkt und sich in eine Art mentale Geiselhaft des Schreckens begibt."

Aber worauf soll sich ein unter permanentem Erwartungs- und Nachrichtendruck stehender Journalismus besinnen? Besinnung auf die Grenzen der Erkenntnis, der seriös vertretbaren Nachricht? Das würde zwangsläufig eine radikale Entschleunigung voraussetzen, eine andere Arbeitsweise, das Ertragen eines Nachrichtenvakuums zur Vermeidung eines Faktizitätsvakuums! Helfen würde allerdings nur ein radikaler Vorbehalt gegenüber dem, was über Menschen, ihre Motive und ihre Eigenart zu sagen ist. Aber (Tages-)Journalismus ist keine akademische Veranstaltung - jedoch eine Veranstaltung, die in der Regel von akademisch gebildeten Menschen vertreten und verantwortet wird. Aber was bedeutet dies schon, wenn die Grenzen des Wissens in der journalistischen Praxis keine Rolle spielen:

"Es gibt für eine Wissenschaft vom Menschen genug Wissen und zwar, wenn man von der Psychologie absieht, allgemeines Wissen, das nicht im Verdacht steht, Vorurteile über 'den Menschen' zu transportieren. Alles, angefangen von der Chemie der DNA Moleküle, basiert auf evolutionärer Unwahrscheinlichkeit und Instabilität. Das, was wir äußerlich als einen selbstbeweglichen, ausdrucksstarken, sprechenden Menschen wahrnehmen, beruht auf einer festen Kopplung von Unwahrscheinlichkeiten, wie ja auch die sichtbare Welt nach den Erkenntnissen der Atomphysik. Das Problem liegt also nicht im Mangel an wissenschaftlich gesichertem Wissen. Es liegt eher in zwei miteinander zusammenhängenden Defiziten, nämlich (1) im Fehlen interdisziplinär tragfähiger Theorievorstellungen und (2) darin, dass all dies Wissen nicht zur Vorhersage menschlichen Verhaltens taugt, sondern im Gegenteil: die prinzipielle Unvorhersagbarkeit zu begründen scheint" (Niklas Luhmann, in: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, Frankfurt 2002, S. 22)

Wie lautet die Selbstbescheidung des Psychoanalytikers Hans Werner Dinkelbach: "Das ist schwer auszuhalten" oder: "Ja. Letztlich dürfte es (das Handeln des Co-Piloten) nach der jetzigen Sachlage unerklärbar bleiben. Und wir müssen damit leben lernen, dass es Unerklärbares im menschlichen Sein geben kann."

Diese Einsichten sollten richtungsweisend werden! Die fünfte Gewalt sollte darauf zunehmenden Einfluss ausüben.

Die auf Norbert Bolz und Peter Sloterdijk zurückgehenden Zitate sind belegt in: Luhmann Lektüren, herausgegeben von Wolfram Burckhardt im Kulturverlag Kadmos Berlin (2010)

 

 

 

 

   
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