<<Zurück

 
 
 
 

Benedict Wells - Die Geschichten in uns - Vom Schreiben und vom Lesen IV

hier geht es zu I und II und III

Benedict Wells ist erst vierzig (40) Jahre alt. In Die Geschichten in uns sind Sätze zu lesen wie: "Nur bei Themen, die uns im Innersten berühren, können wir selbst in die Tiefe kommen." (Seite 336) "Manche fangen mit der eigenen Geschichte an, ehe sie sich zunehmend anderen Themen zuwenden. Andere landen zu Beginn weit draußen im Fiktiven und müssen sich dem eigenen Leben erst annähern; das Schreiben als Rückkehr zu sich selbst." (Seite 337f.) "Nur habe ich - beim Schreiben - etwas nicht kommen sehen: Die Bücher fingen irgendwann an, auch über mich zu sprechen. Denn je mehr Geschichten man in die Öffentlichkeit bringt, desto mehr wird man von einem am Rande fläzenden Beobachter zu einem im Mittelpunkt stehenden Beobachteten." (Seite 338f.)

In der Tat beruht die galaktische Differenz zwischen einem von Millionen Lesern Beobachteten und jemanden, der das Privileg des am Rande fläzenden Beobachters für sich beanspruchen kann, nicht nur in den 32 Lebensjahren, die uns trennen. Benedict Wells ist es gelungen durch die frühe Namensänderung - wie man lesen kann - die eigene familiäre Herkunft bis nach dem Erfolg seines dritten Romans zu verbergen. Im Wikipedia-Eintrag ist zu lesen:

"Wie erst nach dem Erfolg seines dritten Romans und gegen seinen Willen bekannt wurde, ist Wells der Enkel Baldur von Schirachs, der Sohn des Schriftstellers Richard von Schirach und der Bruder von Ariadne von Schirach. Der Strafverteidiger und Schriftsteller Ferdinand von Schirach ist sein Cousin, ebenso dessen Bruder Norris von Schirach.[11][12] Um sich von der Vergangenheit seiner Familie zu distanzieren und eigenständig aufzutreten, ließ Wells seinen bürgerlichen Namen nach seiner Schulzeit amtlich ändern.[1] Der Nachname Wells ist dabei als Hommage an die Romanfigur Homer Wells aus John Irvings Buch Gottes Werk und Teufels Beitrag anzusehen.[13] Irvings Romane waren auch der Grund, weshalb Wells mit dem Schreiben begann.[14]"

Sein fast zwanzig Jahre älterer Cousin Norris von Schirach ging bei seinem Romandebüt ähnlich vor und bemerkte andererseits:

Familie ist immer Schicksal, und so ein Schicksal muss man annehmen, es gibt natürlich eine lebenslange Auseinandersetzung mit dieser Person [gemeint ist sein Großvater Baldur von Schirach].“

Der Vater Benedicts, Richard von Schirach, vertritt als Sohn Baldur von Schirachs eine gleichermaßen konsequente Haltung :

"Der Entschluß, mich wegen meines Vaters von so vielen Generationen meiner Vorfahren loszusagen, war mir nie gekommen. Ich empfand meinen Namen als Schicksal, das man ertragen und meistern muß. Ohne ihn wäre ich ein anderer geworden." (in: Der Schatten meines Vaters, München 2005, Seite 362)

Richard von Schirach gibt Zeugnis von einer Vaterfigur, die uns zutiefst befremdet, die andererseits in ihrer kontinuitätsverbürgenden Stimmigkeit kaum Anlass zur Verwunderung gibt. Da ist zu lesen:

"Wie meine Geschwister und ich, die ihm alle beigestanden hatten, gelebt hatten und leben mußten, hat er nie erfahren und auch nicht danach gefragt, als nach seiner Entlassung die Zeit dazu gekommen war." (Ebd., Seite 363) Was heißt das - wir alle hatten ihm beigestanden? Ein Beispiel: Richard von Schirach meint, sie - die Kinder - hätten bei der Entlassung des Vaters aus der Haft so etwas gebraucht wie "ein Nachschlageheft oder eine Bedienungsanleitung für spätheimkehrende Kriegsgefangene, Sonderabteilung >Kriegsverbrecher nach 21 1/2 Jahren Einzelhaft< [...] Das Schlafzimmer, das wir ihm liebevoll mit vertrauten Gegenständen eingerichtet hatten, war relativ klein und von daher gut gewählt." (Seite 295 bzw. 297) Richard von Schirach sinniert angesichts der Umstände und der Konsequenz, mit der Magda Goebbels ihre sechs Kinder Helga, Hilde, Helmut, Holde, Hedda und Heide Ende April 1945 vergiftet, darüber nach, welche Gedanken sich wohl der Vater gemacht hat: "Sollte ich dankbar dafür sein, daß ich miterleben durfte, wie mein Vater >durch die internationalen Gazetten gezerrt wurde< und im Gefängnis saß? Hatte er uns Kinder nicht preisgegeben angesichts des Infernos, das hereinbrach? Hatte er sich je Gedanken über das Schicksal gemacht, das uns Kindern bevorstand, die aus dem Faltenwurf dieses unheilvollen Geschichtsmantels buchstäblich auf die Straße ins Nichts purzelten?" (Seite 299) Im Kennenlernen - so beschreibt es Richard von Schirach - beginnt der Vater sich gleichermaßen aufzulösen und aufzuspalten. Eindringlicher und verstörender kann man sich dies kaum vorstellen. "Hitlers Rassenpolitik aber war ein Verbrechen, diese Politik die über fünf MillionenJuden und allen Deutschen zum Verhängnis geworden ist." Der Vater versucht sich Richard gegenüber zu rechtfertigen, und der deutet dies auf seine Weise: "Er versuchte, mir die uralte Tradition der Eide nahezubringen. Der Eid wurde zum mythischen Schutzwall, den er um sich legte, und wieder wußte ich nicht, wer da zu mir sprach >Vergiß nicht, ich habe einen Eid geleistet!< [...] Die Gestalt des geliebten Vaters, der eben noch in seinem Flanellanzug mit dem Löffel die Treppe heruntergekommen war, schien sich aufzulösen und aufzuspalten." (Seite 339)

Richard von Schirach bekennt: "Für meine Auseinandersetzungen konnte mir kein Vater dienen. Der Prozess (der Nürnberger Prozess, Anm.), dessen Akten dreiundvierzig Bänden protokolliert sind, war öffentlich, die Strafe auch, selbst die Entlassung. Es gab nichts zu verheimlichen, die Verantwortung, die ich empfand, bestand im Verstehenwollen, zumindest im Versuch, selbst das Böse und Grauenvolle zu verstehen, ja es für mich gewissemaßen durch Verstehen zu bändigen und das Faszinosum des Irrationalen nichtnoch durch seine Unbegreiflichkeit zu steigern. Ich konnte mich dabei nur im Denken und Argumentieren gegen meine Eltern behaupten oder meinen eigenen Weg finden. Und Stauffenberg... der 20. Juli, die Goerdelers, die Tresckows, Obrichts. Witzlebens - hatten die etwa Unrecht, als sie den Eid brachen?" (Seite 340)

Sein Sohn Benedict Wells tut das eine, ohne das andere zu lassen. Er ändert seinen Namen - früh nach dem Abitur - und bekennt, "lange keine Sätze gehabt zu haben für die damals beginnende Auseinandersetzung mit den schrecklichen Taten und Worten meiner deutschen Familie während der NS-Zeit, die später zu meiner Namensänderung von >von Schirach< zu >Wells< führte - und zu einer lebenslangen Abgrenzung." Auch für die Wut und Scham findet er lange keine Sätze, "die Wut und Scham, die ich angesichts meiner Vorfahren empfand,wie auch für die Trauer und das Mitgefühl mit den Opfern. Und für die Verantwortung und den Willen, mich entschlossen gegen Antisemitismus uns Rassismus einzusetzen." (Die Geschichten in uns, Seite 34f.)

In Gunthard Webers Zweierlei Glück ist auf Seite 59 zu lesen: "Ein Kind kann seinen Vater als Vater anerkennen, ohne daß es für seine Handlungen verantwortlich ist und deren Folgen tragen muß." Vielleicht sind Richard von Schirach und sein Sohn Bendict Wells Beispiele für den schwierigen Balanceakt mit innerfamiliären Bürden. Trotz einer chaotischen, grenzgängerischen Kindheit, die Benedict Wells seinen Eltern verdankt, schreibt er in seiner Danksagung auf Seite 381:

"Meine Mutter konnte sich mit ihrem psychologischen Blick in alle Figuren hineindenken; dann diskutierten wir [...] Diese liebevollen Momente und Besuche bei ihr nach schwierigen Jahren sind unendlich kostbar für mich; ein kleines Wunder und der Beweis, dass man nie aufhören sollte zu hoffen." Und sein Vater, Richard von Schirach? "Mein Vater freute sich über alles, was ich machte und schrieb. Ein Jahr vor seinem Tod ließ er sich auch dieses Buch von mir vorlesen und kommentierte gut gelaunt die Stellen über sich selbst, besonders die kritischeren. Wenn er Geschichen erzählte, wurde es selbst in der größten Unordnung gemütlich. Seine Zuneigung und die inspirierenden, oft sehr lustigen Gespräche mit ihm gehören zum Schönsten in meinem Leben."

 

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund