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Benedict Wells - Die Geschichten in uns - Vom Schreiben und vom Leben II

(hier geht's zu I und III)

Ich bin am 21. Februar 1952 geboren worden. Meine Mutter war bei meiner Geburt noch keine 28 Jahre alt, so wie sie bei der Geburt meiner Schwester noch keine 18 Jahre alt war. Meine Schwester ist 1942 geboren worden - in einem Entbindungsheim der Nationasozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) in Flammersfeld/Ww. (dies führte zu Hildes Geschichte). Im selben Jahr - 1942 - wird Richard von Schirach geboren. Er studierte Sinologie, Germanistik und Geschichte. Er ist der Vater von Benedict Wells (und seiner Schwester Ariadne von Schirach). 2005 erschien im Carl Hanser Verlag Der Schatten meines Vaters (mir vorliegend in einer ungekürzten Ausgabe des Deutschen Taschenbuch Verlags, München 2011). Es ist mit der Widmung versehen: Für Ariadne und Benedict. Ich habe es vor zwei Jahren entdeckt und mit Akribie (vor-)gelesen. Und es wird in der Auseinandersetzung mit Benedict Wells natürlich eine Rolle spielen.

In Die Geschichten in uns beschränkt sich Benedict Wells auf wenige Anmerkungen zu seiner Entscheidung seine Namensänderung betreffend:

Vorausschickend - im Sinne eines angemesseneren Verständnisses - betont Benedict Wells, dass er jahrelang keine Sprache für seine wirklichen Gefühle gefunden habe: "Wie bei den Bildern, bei denen einer die Beine, eine den Oberkörper und die Dritte den Kopf malt, passte bei mir nichts zusammen." Er fand

  • keine Worte für die Einsamkeit in Gesellschaft anderer;
  • keine Worte für die Kluft zwischen dem begüterten Zuhause, das viele Außenstehende bei ihm aufgrund seiner Herkunft annahmen;
  • keine Worte für die Realität mit Psychiatrien, Drogen, leerem Kühlschrank und Verwahrlosung;
  • keine Worte für die Scham, wenn er mal wieder den Gerichtsvollzieher, den er öfter sah als seine Verwandten, durch die sagenhaft vermüllte Wohnung führte;
  • keine Worte dafür, dass er duch die Augen des Gerichtsvollziehers begriff, dass sie alle - statt in Betten - nur auf versifften Matrazen am Boden schliefen, während er bei all dem Gerümpel nie etwas zum Pfänden fand (seine Sorge galt jedes Mal dem uralten Riesenfernseher).

Vor allem aber:

  • "Keine Sätze für die damals beginnende Auseinandersetzung mit den schrecklichen Taten und Worten meiner deutschen Familie während der NS-Zeit, die später zu meiner Namensänderung von >von Schirach< zu >Wells< führte - und zu einer lebenslangen Abgrenzung. Für die Wut und Scham, die ich angesichts meiner Vorfahren empfand, wie auch für die Trauer und das Mitgefühl mit den Opfern. Und für die Verantwortung und den Willen, mich entschlossen gegen Antisemitismus und Rassismus einzusetzen." (Seite 34)
  • "Keine Begriffe dafür, dass ich meine Mutter über anderthalb Jahre gar nicht gesehen hatte - und für den Wahnsinn, dass sie plötzlich wieder aus der Schweiz zurückkehrte und bei uns einzog. Weil sie sich aufgrund ihrer psychischen Krankheit verfolgt fühlte und zugleich unsere Mietschulden in München begleichen konnte. Sie und mein Vater blieben getrennt, bildeten aber jahrelang eine bizarre Wohngemeinschaft (die Frage, wer exzentrischer war, konnte sich je nach Schulden- und Medikamentenlage ändern." (Seite 35)
  • "Keine Stimme für die Wärme und Geborgenheit, die es zu Hause genauso geben konnte, weshalb ich nie mit jemandem hätte tauschen wollen. Für die Liebe, an der ich mich festhielt, und die Sehnsucht, auszubrechen und mein Leben selbst zu bestimmen." (Seite 35)

Benedict Wells zeigt sich unterdessen gleichermaßen sprachmächtig wie beseelt von Sprache. Er blickt zurück auf eine Chaos, bei dem nach seinen Worten nichts zusammenpasste, von dem er nichts artikulieren konnte - eine auf stumm geschaltete Seele: "Jahrelang trieb ich in meiner eigenen Wortlosigkeit und hatte keine Ahnung, ob ich mich dabei auf das Ufer zubewegte oder mich von ihm entfernte." (Seite 35)

in progress

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund