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Am Ende braucht man eine Geschichte darüber, dass das Leben nicht vergeudet war!

Am Ende braucht man eine Geschichte darüber, dass das Leben nicht vergeudet war. Zumindest meint dies Eva von Redecker, die mich mit Bleibefreiheit endlich eingeholt hat in meinem Denken und Fühlen.

Dass man eine Geschichte darüber benötige, dass das Leben nicht vergeudet war, hat mein persönliches Gravitationszentrum so eingenordet, dass seit mehr als 25 Jahren Geschichten, Gedichte und Reflexionen entstehen, die sich an dieser Mammutaufgabe abarbeiten.

Am Anfang dieser Bemühungen steht ein gnadenloser Lehrmeister mit scharfrichterlicher Strenge, der sich in seinem letzten zu Lebzeiten veröffentlichen Aufsatz mit Erziehung auf der einen Seite und der Formung des Lebenslaufs auf der anderen Seite auseinandergesetzt hat (siehe: hier); ein Vermächtnis mit durchgreifenden Folgen für den Versuch, sich selbst auf die Spur zu kommen. Niemand wird seiner Einsicht nach einen solchen Versuch unternehmen können, ohne dafür Inkonsistenzbereinigungsprogramme zu bemühen; Inkonsistenzbereinigungs-programme, die eine Sinnstiftung ermöglichen, mit der man leben und sterben kann. Niklas Luhmann schreibt dazu:

„Ein Lebenslauf ist, um einen hochabstrakten Einstiegsbegriff zu wählen, eine Beschreibung, die während des Lebens angefertigt und bei Bedarf revidiert wird. Der Lebenslauf schließt die vergangenheitsabhängige, aber noch unbestimmte Zukunft ein […] Die Einheit des Lebenslaufs muss also Vergangenheit und Zukunft umgreifen, ohne doch eine teleologische Struktur aufzuweisen. Sie liegt in einer Integrationsleistung von Nichtselbstverständlichkeiten. Sie ist eine rhetorische Leistung, eine Erzählung. Die Komponenten eines Lebenslaufs bestehen aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen (Frankfurt 1997, Seite 18f.).“

2017 – Kurz vor Schluss (I) – war noch die Rede von hundert Nebelkerzen, deren Nebel vergehe, wenn man nur lange genug warte und mit Abstand lese. Das habe ich getan - immer wieder einmal. So ist es dann 2022 zu Kurz vor Schluss (II) gekommen. In Kurz vor Schluss II habe ich mich nicht nur zu den Nebelkerzen bekannt, sondern habe versucht meinen Frieden zu machen mit der Herde weißer Elefanten, die mich Zeit meines Lebens begleiten, und die ich teils mit großgezogen und gepeppelt habe. Inkonsistenzbereinigungsprogramme, Nebelkerzen und weiße Elefanten stehen für die blinden Flecke, die wir unausweichlich mit uns tragen, die unseren Blick auf unaufhebbare Weise beschränken, so dass das Ganze nie in den Blick gerät. Meine Lieblingstiere sind – wie gesagt – die weißen Elefanten, die mit uns zeitlebens in unserem Haus wohnen, die aber niemand sehen und berühren darf:

„Verständlich ist der Respekt und mehr noch die Angst davor mit dem identitätsstiftenden Schreiben etwas preiszugeben, von dem zwar alle in diffuser Weise wissen, von dem aber das Tabuverdikt Tag für Tag ablenkt und wegführt. Manche erfahren diese Mangelsituation in Form von Depression und Niedergeschlagenheit; andere haben zumindest die Kraft, dem eigenen Weg noch einmal eine zukunftsfähige Richtung zu geben. Alles in allem leiden aber viele Familien (auch Netzwerke wahlverwandtschaftlicher Bindungen, möchte ich ergänzen) an jenem Phänomen einer tief verankerten Sprachlosigkeit.“

Auf der Rückseite von Kurz vor Schluss II habe ich eine Einladung ausgesprochen, sich im erzählten Leben zu begegnen. Dort ist zu lesen:

„Lasst uns miteinander reden! Lasst uns – solange wir wach und lebendig sind – das gemeinsame Miteinander im Gespräch suchen. Dass dieses Buch ganz gewiss Anlässe schafft, dürfte auf der Hand liegen… Nur das besonnene Zurücktreten hilft uns jene Schätze zu bergen, die ansonsten im Ozean des Vergessens untergehen. In der Zugehörigkeit, Geborgenheit und in der Entschiedenheit manifestieren sich jene Kostbarkeiten, deren Urvertrauen und Bindung spendende Kraft auch durch Sprachlosigkeit bedroht wird. Wir sollten wissen, wie dünn das Eis ist, das uns als Familie(n) trägt, wie farblos und dunkel die Welt ist, wie dumpf die Welt ist ohne den Klang und die Strahlkraft gemeinsamer Geschichte(n).“

Eva von Redecker hat dazu eine philosophische Begründung von Bleibefreiheit geliefert, die dazu ermuntert, die Zeit, die wir haben, in der wir leben und handeln, danach zu befragen, inwieweit sie uns als erfüllte Zeit erscheint: Am Ende braucht man eine Geschichte darüber, dass das Leben nicht vergeudet war.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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