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Die Vernunft ist immer nur die eine Vernunft!

Ist der Vernunftglaube naiv?

Die Ideengeschichte der Moderne dreht sich unter anderem um die zentrale Frage einer gerechten Gesellschaft. Sie steht im Mittelpunkt des Werks von John Rawls.

Otfried Höffe hat zuletzt (in der FAZ vom 3.10.14: John Rawls Der Philosoph des Fairplay) darauf hingewiesen, dass Rawls anschließend an Immanuel Kant den Sinn eines Gemeinwesens nicht im gelingenden Leben selbst sehe, nicht darin seine Mitglieder glücklich zu machen. Der Staat habe sich auf Freiheitssicherung durch Gesetze zu beschränken. Höffe zitiert die wesentlichen Grundsätze Rawls: „Erster Grundsatz: Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist. Zweiter Grundsatz: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein: (a) Sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und (b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen.“ 

Damit - so Höffe - werde die klassische Vertragstheorie eines John Locke, Rousseau und vor allem Kant weit gründlicher durchkonstruiert. Gerechtigkeitsgrundsätze  würden aus einem aufgeklärten Selbstinteresse abgeleitet. Rawls wolle moralische Urteile durch rationale Klugheitsurteile ersetzen. Der entscheidende Hinweis Höffes bezieht sich darauf, dass eine solche Substitution bereits selbst angewiesen sei auf eine ideale, selber schon gerechtigkeitsbestimmte Basis: Das Selbstinteresse agiere unter dem von Justitia-Darstellungen bekannten „Schleier des Nichtwissens“ („veil of ignorance“):

Ohne diesen "Schleier des Nichtwissens" (veil of ignorance) lässt sich die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls nicht angemessen verstehen. Es geht dabei, um Entscheidungen, die eine künftige Gesellschaftsordnung gewissermaßen präformieren, ohne dass damit die Stellung des Einzelnen in dieser Gesellschaft bereits bestimmt wäre. Die normativen Grundlagen für einen daraus resultierenden "gerechten Gesellschaftsvertrag" entsprechen weitgehend den im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland formulierten Grundrechten, insbesondere der in Artikel 3 postulierten "Gleichheit vor dem Gesetz" - "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich (1); Männer und Frauen sind gleichberechtigt... (2); Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden (3)."

Auch in Rawls Vorstellungen zu einem "Urzustand" erscheinen alle Menschen als völlig gleich, wobei vor dem starting point für eine Ausdifferenzierung von Gesellschaft darüber hinaus angenommen wird, dass die Menschen auch keine gegeneinander gerichteten Interessen haben. In diesem Urzustand würden sich Menschen dann nach Rawls für einen gerechten Gesellschaftsvertrag entscheiden.

 Rawls geht davon aus, dass:

  • die Gesellschaft im Urzustand aus freien und vernünftigen Personen besteht, die sich um die Grundlagen ihrer Gesellschaft und ihre Gerechtigkeitsprinzipien gemeinsam bemühen;
  • Kooperation nicht nur wünschenswert und möglich sei, sondern auf gemeinsamen Interessen beruhe;
  • dass mögliche und unvermeidbare Interessenkonflikte durch demokratische Verfahren gelöst würden (einschließlich zentraler Verteilungsfragen);
  • Interessen- und Verteilungsfragen auf rationaler Basis - frei von egoistischen Partikularinteressen - gelöst werden können.

Beschränken wir uns auf die Bundesrepublik Deutschland mit der Feststellung, dass wir lange Wege gehen müssen - ohne möglicherweise an ein Ziel zu kommen, wenn wir ein Gemeinwesen suchen, dass - gemessen an demokratierelevanten Kriterien sowie rechts- und sozialstaatlichen Prinzipien - eine "bessere", möglicherweise gar "die beste aller Welten" repräsentiert. "Die Weltverbesserer" nennt sich die Serie in der FAZ, in deren Rahmen Otfried Höffe John Rawls "monumentale Theorie der Gerechtigkeit" würdigt. Die Nähe von John Rawls und Jürgen Habermas ist sicherlich nicht zu übersehen; und die Attitüde des ambitionierten "Weltverbesserers" bietet sich bei beiden an.

Interessant sind letztlich die Prämissen und die Vorstellung eine auf "Gerechtigkeit und Fairness" basierende Gesellschaft erreichen/errichten zu können. Hat man absolute Vorstellungen von einer "gerechten Gesellschaft", kann man auch in einer demokratischen, auf rechts- und sozialstaatliche Prinzipien verpflichteten Gesellschaft, wie der bundesdeutschen, nur zur Diagnose einer permanenten "Legitimationskrise" der Gesellschaft gelangen. Andererseits kann man davon ausgehen, dass - solange demokratische Verfahrensregeln gelten und gegen rechts- sowie sozialstaatliche Prinzipien nicht fortgesetzt und grundlegend verstoßen wird - die Entwicklungsperspektiven einer Gesellschaft als permanenter Prozess gewährleistet sind. Die Frage geht dann eher darum, ob man im Zuge einer Gerechtigkeitstheorie Gesellschaft belehren will, oder ob man die Frage ins Zentrum rückt, wie sich Gesellschaft unter funktionsrelevanten Gesichtspunkten entwickelt. Die eine Seite ist markiert durch eine normative Gerechtigkeitstheorie (John Rawls) bzw. eine kritische Theorie der Gesellschaft (Jürgen Habermas) - die andere Seite lässt sich markieren durch Niklas Luhmanns systemtheoretischen Ansatz (siehe dazu auch "Die Luhmannsche Lektion").

Theorieoptionen zur Beschreibung moderner Gesellschaften

Ich vollziehe in der folgenden Gegenüberstellung eine Argumentationslinie nach, die Norbert Bolz am 15.5.1999 anlässlich (s)einer Würdigung des 1998 verstorbenen Soziologen Niklas Luhmann entworfen hat (Niklas Luhmann und Jürgen Habermas, Eine Phantomdebatte, in: Luhmann Lektüren - Kulturverlag Kadmos, Berlin 2010, S. 15-33). Wenn ich dabei nicht weiter auf John Rawls eingehe, bedeutet dies, dass es mir hier in erster Linie um die theoretischen Prämissen geht, die Rawls und Habermas auf der einen und Niklas Luhmann auf der anderen Seite trennen und unterscheidbar machen. Alle folgenden Zitate geben die Interpretationen von Norbert Bolz wieder:

Sowohl John Rawls als auch Jürgen Habermas - so Norbert Bolz - gründeten ihre Theorieansätze auf dem, was Max Weber "Charisma der Vernunft" genannt habe. Norbert Bolz konterkariert diese Auffassung, indem er davon ausgeht, dass "Vernunft immer nur die eine Vernunft ist". Er zitiert Hegel mit den berühmten Worten: "Das Wahre ist das Ganze". Er unterstellt dann, dass dies auch Habermas und Luhmann so sehen - allerdings mit diametral entgegengesetzten Konsequenzen: Während "das Ganze" für Luhmann eine Paradoxie darstelle, sehe Habermas darin eine wesentliche Prämisse seiner Argumentation. Während Luhmann davon ausgehe, dass man die moderne Gesellschaft "nicht mehr in ihr selbst repräsentieren kann", bestehe Habermas "auf der Möglichkeit einer Selbstrepräsentation der Gesellschaft". Während Luhmann bestreite, dass man das Ganze der Gesellschaft noch in den Blick bekommen könne, weil sie sich im Ganzen funktional differenziert habe, gehe Habermas nach wie vor davon aus, dass die Gesellschaft sich als Ganze in sich selbst darstelle - "ermöglicht durch die Öffentlichkeit als einer Art höherstufiger Intersubjektivität". In dieser Öffentlichkeit gebe es dann so etwas wie gesamtgesellschaftliches Bewusstsein und kollektive Identitätsbildung. Nach Luhmann hingegen werde die Vernunft in der modernen Gesellschaft "ortlos". Die Gesellschaft differenziere sich in Teil- oder Subsysteme aus: "Und jedes Teilsystem hält sich für das Wichtigste. Jedes Teilsystem beschreibt also die Einheit der Gesellschaft anders." Dann - so die Interpretation von Norbert Bolz - mache es aber keinen Sinn, über eine vernünftige Identität der Gesellschaft zu diskutieren.

"Um an Vernunft und vernünftiger Gesellschaftsidentität festhalten zu können, muss man unterstellen, das sich die Gesellschaft ein richtiges Bild von sich als Ganzer machen kann. Deshalb sträubt sich Jürgen Habermas gegen die Grundkonzeption einer funktional differenzierten Gesellschaft, in der es nur noch autonome, gegeneinander abgeschlossene Teilsysteme gibt, die füreinander Umwelten sind, also nicht miteinander kommunizieren können, geschweige denn sich instruieren können."

Norbert Bolz arbeitet im Folgenden die vollkommene Unvereinbarkeit der fraglichen Theorieansätze heraus, indem er zunächst Habermasens radikale Zurückweisung der systemtheoretischen Grundprämisse betont, wonach Gesellschaft und Bewusstsein durch eine System-Umwelt-Zäsur voneinander getrennt sind: "Monadisch eingekapselt sei das Bewusstsein, das Luhmann mit dem Begriff des 'psychischen Systems' vorstellt, so wie Robinson Crusoe." Natürlich stellt sich damit die Frage, wie man das Verhältnis von Gesellschaft und Bewusstsein anders sehen kann. Für Habermas - so Bolz - sei das nach dem "linguistic turn" der Philosophie ganz selbstverständlich: "Sprache ist das Haus der Vernunft, das Gesellschaft und Bewusstsein gemeinsam bewohnen." Aus der Sicht von Jürgen Habermas fehle es Luhmann offenbar am nötigen Respekt vor der Sprache, die den Subjekten vorausgehe, also Psychisches und Soziales immer schon übergreife. Luhmann verstelle sich durch seine Unterscheidung von psychischen und sozialen Systemen jeden Zugang zu den sprachlich verfassten Lebensformen: "Die 'gute Vergesellschaftung' erfolgt im Medium sprachlicher Verständigung auf dem Schauplatz der 'Lebenswelt'." Darin manifestiert sich die theoretische Fundamentalprämisse für des Gesellschaftsverständnis von Jürgen Habermas (und gewiss auch von John Rawls): "Auch die moderne Gesellschaft hat in lebensweltlicher Kommunikation ein virtuelles Zentrum der Selbstverständigung. So kann sie im verständigungsorientierten Diskurs eine vernünftige Identität ausbilden."

Norbert Bolz ist Partei und kommentiert diese Prämisse ironisch - "zu schön, um wahr zu sein"-, und versucht in der Folge ihre Unhaltbarkeit zu belegen:

  • Bolz stellt zunächst die These auf, dass eine "Privilegierung 'vernünftiger', weil verständigungsorientierter Kommunikation Habermas dazu zwingt, alle anderen Kommunikationsformen zu entwerten."
  • Darüber hinaus muss seiner (Bolz') Auffassung nach eine Soziologie, die Gesellschaft als Inbegriff aller Kommunikationen verstehe, vor einer Überschätzung der Sprache warnen: "Im Grunde weiß jeder, dass die Umgangssprache unfähig ist, komplexe Problme zu lösen."

Luhmann hingegen verstehe Sprache deshalb "nur" als Variationsmechanismus - also in Sprache mutiere die Gesellschaft: "Sprache als wahrheitsindifferenter Variationsmechanismus oder als Vehikel der Wahrheit, darum geht der Streit." Dieser Streit spitzt sich zu in der jeweils diametral entgegen gesetzten Bedeutung, die den Begriffen "Konsens" und "Dissens" zugebilligt werden:

  • Habermas rückt "Konsens" in den Mittelpunkt seines Kommunikationsverständnisses. Bolz unterstellt ihm, dass er unterstellt, dass der Konsens der Vernünftigen ein vernünftiger Konsens sei. Mit anderen Worten: "Habermas kann sich nur unvernünftige Herrschaft, aber offenbar keinen unvernünftigen Konsens vorstellen."
  • Bolz stellt die Konsequenzen unter Ironieverdacht: "Normalerweise hat man keine Zeit für den Habermas'schen Diskurs. Man muss entscheiden. Um ein erstes Zwischenergebnis prägnant als Paradoxie zu formulieren: Konsens kann man nur erreichen, wenn man auf Konsens verzichtet... Weil Konsens unmöglich ist, müssen wir uns mit Akzeptanz begnügen." Und schließlich, wen das nicht überzeuge, der werde vielleicht den Einwand akzeptieren, dass es Konsens schon rein empirisch nicht geben könne, denn das wäre ja nur denkbar als Identität von Bewusstseinszuständen (in Deutschland ca. 80 Millionen). Stattdessen gebe es Verstehen.
  • Und was man - nach Luhmann - beim Verstehen verstehe, seien Kommunikationen und nicht Menschen. Es genüge, dass an Kommunikationen angeschlossen werde: "Wenn Kommunikation auf Konsens angelegt werde, könnte sie ja nur durch ihr eigenes Scheitern am Leben erhalten werden. Denn - so lautete schon Helmut Schelskys Frage - 'Was käme nach dem Konsens'?" Bolz interveniert, gerade ein Soziologe, der nach den Quellen gesellschaftlicher Integration suche, müsse sich für Widerstreit und Konflikt interessieren: "Ich meine: Konsens ist Nonsens." (Wir werden an anderer Stelle auf Beispiel zurückkommen)

Die moderne Gesellschaft überlebt nicht durch Vernunft, sondern durch Evolution!

Machen wir an dieser Stelle einen gewaltigen Sprung. Die neue - mit Luhmann markierte - Beschreibung von Gesellschaft legt die soeben formulierte Einsicht nahe: "Je differenzierter und komplexer soziale Systeme nun aber werden, um so unwahrscheinlicher wird es, dass die in jedem System erreichbaren Rationalitäten sich zu so etwas wie Weltrationalität, also Vernunft addieren. Und das legt den Gedanken nahe, die moderne Gesellschaft überlebt nicht durch Vernunft, sondern durch Evolution." Eine solche Position könnte - so Bolz - an Thomas Hobbes anschließen: "'auctoritas non veritas', zu Deutsch: Das Gesetz gründet nicht in Wahrheit, sondern in Autorität." Die andere, die Habermas gemäße Lösung sei im Gegensatz dazu die Aufklärung, "nämlich 'Vernunft'". Hier öffnet sich ein weiteres Feld der unvereinbaren Gegensätze:

  • Niklas Luhmann - so Bolz - vertritt einen nichtnormativen Begriff von Geltung: Gemeint ist einfach, dass das, was gilt, nicht deshalb gilt, weil es gelten soll, sondern weil es irgendwie als geltend bezeichnet wird... Geltung ist das Symbol für Akzeptanz. Sie ist keine Norm, sondern eine Form... So reduziert Luhmann Geltung auf ihre Funktion, nämlich auf die Funktion, Kontingenz auszuschalten.
  • Habermas gelte es - so Bolz - als Zynismus, Vernunft als Form zu behandeln. Luhmann habe "den Himmel von kulturellen Werden leergefegt. An die Stelle der kulturellen Werte träten die Eigenwerte des Systems: "Was Max Weber als stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit ankündigte, was von Orwell zur Negativutopie verdichtet wurde und was von Adorno auf den Begriff der verwalteten Welt gebracht wurde, das scheint von Luhman als Ausgangsbeobachtung akzeptiert zu sein." So sehe Habermas Luhmann als einen "Vernunftkritiker in der Nachfolge Nietzsches. Er ersetze das selbstbezügliche Subjekt des Idealismus durch das selbstbezügliche System. Oder noch spitzer formuliert: Luhmann ersetzt Metaphysik durch Metabiologie."

Norbert Bolz bestreitet diese "Logik", nach der eine auf Systemerhaltung eingestellte Systemrationalität bei Luhmann den Vernunftbegriff ersetze: "Denn Rationalität kann für Systeme nur heißen: Schonung der Differenzen. Kein System kann sich selbst durchsichtig werden. Weder Sozial-Apriori noch Genealogie helfen hier weiter. Wenn man es nämlich mit Rekursivität, das heißt mit kreisläufigen Prozessen zu tun hat, dann spielen Ausgangsbedingungen überhaupt keine Rolle mehr. Das System setzt sich selbst voraus bzw., es nimmt sich hin." So kommt schließlich die Auffassung zustande, dass die moderne Gesellschaft nicht durch Vernunft, sondern durch Evolution überlebt.

Überaus paradox mutet es nun nach Norbert Bolz an, dass Jürgen Habermas gegenüber Niklas Luhmann leichtes Spiel habe eine "Humanitätsaura der Lebenswelt" zu verströmen. Seine Theorie erscheine dem interessierten Laien viel realitätsnäher und politikfähiger als die seines Konkurrenten, "obwohl sie in allen entscheidenden Arrangements utopisch, kontrafaktisch und fiktional" sei. Was nun folgt, muss auch bei (ehemaligen) Habermas-Epigonen nachhaltige Skepsis auslösen: Bolz spricht von der "Technik der Paradoxierung", die Luhmann habe zum "Kultuautor" avancieren lassen. Auf unvermeidbare Paradoxierung stoße man, sobald man nach der Einheit der Unterscheidung frage, mit der man gerade beobachte. Jede Differenz sei eine sich oktroyierende Differenz. Man lege sich also probeweise auf Begriffe und Unterscheidungen fest, um dann die Folgen zu beobachten:

"Doch keine Einsicht ohne Blindheit. Die sogenannte Kybernetik zweiter Ordnung lehrt uns zu sehen, dass man nicht sehen kann, was man nicht sehen kann. Dass man nicht sehen kann, dass man nicht sehen kann, was man nicht sehen kann, ist aber die Definition des blinden Flecks. Das ist aus dem geworden, was Philosophen früher einmal 'transzendental' genannt haben. Der blinde Fleck einer Beobachtung ist die Bedingung ihrer Möglichkeit, und daran zerschellt Vernunft. Man kann blinde Flecke nicht vermeiden. Aber man kann versuchen, sie deutlich zu machen, indem man Begriffsunterscheidungen und Theorieunterscheidungen der eigenen Analyse klar zu erkennen gibt, sie also gewissermaßen ausstellt. Und die Frage lautet dann: Welches Theoriedesign macht die Einsicht in die eigene Blindheit erträglich? Wie muss eine Theorie beschaffen sein, die durch ihr Wissen um ihren blinden Fleck nicht blockiert ist?"

Weiter oben in seinen Ausführungen zeigt Norbert Bolz, dass das mit den Namen Jürgen Habermas (und ich erlaube mir hier auch John Rawls einzubeziehen) verbundene "humanistische Angebot" ein "großes 'Als-Ob'" bedeutet: "Und man muss Habermas bescheinigen, dass er das immer klar betont hat: "Die Humanität des Umgangs unter Menschen, die noch Menschen sind, beruht auf einer unvermeidlichen Fiktion (Habermas zitiert nach Bolz, a.a.O., S. 45). Zumindest deutet sich hier an, dass auch von Habermas die "blinden Flecke" der eigenen Theorievoraussetzungen gesehen werden.

Ein Gedankenexperiment:

Nun stelle man sich einfach einmal vor, eine kleine Gruppe von aufrechten Demokraten versuche auf der Grundlage der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls eine eigene politische Bewegung zu initiieren: Als Leitmotiv wählte sie unter dem Etikett "Fairness" folgende Vorstellung:

"Zur Gerechtigkeit als Fairness gehört die Vorstellung, dass die Menschen im Urzustand vernünftig sind ... Ich behaupte, dass die Menschen ... zwei ... Grundsätze wählen würden: einmal die Gleichheit der Grundrechte und -pflichten; zum anderen den Grundsatz, dass soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, etwa verschiedener Reichtum oder verschiedene Macht, nur dann gerecht sind, wenn sich aus ihnen Vorteile für jedermann ergeben, insbesondere für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft." (John Rawls)

Zu den politische Grundsätzen gehörten u.a.:

  • - logischer Weise - die im GG garantierte Geltung der allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte;
  • im Sinne der besonderen historischen Verantwortung für eine friedliche Weltgemeinschaft die Beschränkung auf ziviles Engagement, vor allem durch technische und humantiäre Hilfe;
  • eine konsequente Trennung von Staat und Privatwirtschaft, Bürokratieabbau auf allen staatlichen Ebenen;
  • eine Distanzierung von Wachstumsideologien, wonach "stetiges Wachstum kein vernünftiges politisches Ziel" darstelle. Dementsprechend werde z.B. die Anhäufung von immer mehr materiellen Gütern oder die Schaffung von Arbeit nicht als politisches Ziel definiert, sondern hohe Lebensqualität in einem solidarischen Gemeinwesen bekomme Priorität;
  • Daseinsvorsorge habe sich am Gemeinwohl zu orientieren, wobei eher marktwirtschaftlichen als planwirtschaftlichen Prinzipien Vorrang eingeräumt werde. Dies erfordere die volle Verantwortlichkeit der Akteure - wettbewerbsverzerrende Subventionen seien ebenso abzulehnen wie die Rettung einzelner Unternehmen wegen ihrer behaupteten systemischen Wichtigkeit;
  • die Betonung des Sozialstaates als gegen alle Anfechtungen zu verteidigende historische Errungenschaft;
  • eine Befürwortung der "Schuldenbremsen" in öffentlichen Haushalten und die Rückführung der aufgelaufenen Staatschulden. Zur gerechten Finanzierung der Aufgaben des Gemeinwohls seien alle Mitglieder der Gesellschaft nach Leistungsfähigkeit heranzuziehen (incl. einer Vereinfachung eines verworrenen Steuerrechts).

Der Begriff der Vernunft würde im Sinne von John Rawls als Schlüsselkategorie vorausgesetzt. Innerhalb der bislang formulierten politischen Grundsätze würde er einmal explizit vewandt, indem man sich abzugrenzen gedenkt von "Wachstumsideologien" und dagegen einen Begriff setzt wie "hohe Lebensqualität in einem solidarischen Gemeinwesen".

"Vernunft ist immer nur die eine Vernunft"! Da wir nicht einem "Urzustand" leben und auch nicht wissen können, wie es jemals war oder gewesen sein könnte, in einem solchen "Urzustand" zu leben, kann man natürlich auch nicht davon ausgehen, dass man für die gewählten politischen Grundsätze einen (mehrheitsfähigen) Konsens unter Demokraten einewerben kann (vielleicht mit Ausnahme der Grundrechte). Wir leben in einer funktional differenzierten Gesellschaft, in der es kaum vorstellbar ist, dass sich real lebende Menschen mit ihren Interessen, Ängsten, Obsessionen, faktischen Privilegien allein auf das Gedankenspiel einließen, sich einen "Urzustand" mit den Implikationen der Rawlschen Theorie vorzustellen. Es lassen sich Menschen finden, die eine Legitimationskrise der Gesellschaft nachvollziehen mit Blick auf die normativen Grundlagen ihres Gemeinwesens und eine davon abweichende Praxis. Die normativen Grundlagen (siehe die im GG verankerten Grundrechte) entsprechen weitgehend einer "urzuständlich" gedachten Ausgangslage. Über ihre Achtung bzw. Verletzung befinden im Zweifels- bzw. im Klagefall Gerichte. Deshalb stellt natürlich nicht nur der Sozialstaat, sondern auch der Rechtsstaat eine "historische Errungenschaft" dar. In einer von mehr als 80 Millionen Menschen bevölkerten Gesellschaft ist - wie wir aus Erfahrung wissen - das "Funktionieren" von Rechts- und Sozialstaat immer wieder Gegenstand rechtlicher Klärung. Und wir müssen mit Argusaugen darauf achten, dass die normativen Grundlagen rechts- und sozialstaatlicher Selbstvergewisserung lebendig bleiben. Insofern ist die Verteidigung des sozialstaatlichen Prinzips ein ehrenwertes Ziel.

Ich gehe noch einmal auf die Argumentation von Norbert Bolz ein, der den "Lebensweltbegriff" Habermasens genauer unter die Lupe nimmt:

"Man könnte sagen, Lebenswelt ist ein Titel für die Naivität, die sich Habermas erlaubt. Besonders attraktiv an lebensweltlicher Kommunikation ist die Tatsache, dass sie keinem Funktionssystem eindeutig zugeordnet ist. Man kann schlecht bestreiten, dass es das gibt, das Gespräch in der Straßenbahn zum Beispiel. Doch solche lebensweltliche Kommunikation ist entweder belanglos oder sie markiert bewusst Distanz zu den Funktionssystemen, indem sie moralisiert oder protestiert. Und das ist natürlich für Habermas von allerhöchstem Interesse. Wo moralisiert und protestiert wird, sieht er die lebensweltlichen Keimzellen von Gesellschaftskritik. Deshalb charakterisiert er die Lebenswelt als Schauplatz von Krisenerfahrungen. Während der Systemtheoretiker immer nur beobachten kann, das funktioniert, was funktioniert und damit vergleicht, was ähnlich funktioniert, hört der Gesellschaftkritiker die Signale der Lebenswelt: 'Ich habe Angst!' - 'Wir sind wütend und betroffen'... Für Habermas bietet Soziologie also Artikulationshilfe für lebensweltliche Krisenerfahrungen, damit man sagen kann, was man leidet. Dabei spielen Perfektionsvorstellungen wie Gerechtigkeit, Vernunft, Demokratie und Solidarität eine Schlüsselrolle."

Aus entsprechend markierten "Legitimationsdefiziten" kann man natürlich ein politisches Programm ableiten - immer ausgerichtet auf die "Perfektionierung" von "Halbgutem" oder "Fragwürdigem". Man darf sich allerdings dabei nicht der Illusion aussetzen, dass man - in einer eben nicht "urzuständlichen" -, sondern extrem funktional differenzierten Gesellschaft "Mehrheiten" rekrutieren könnte. Nennen wir einmal fiktive Beispiele, die - immer unter dem Vorbehalt des Verbesserungswürdigen - von einer respektablen Praxis zeugen:

Aus (eben nicht wirklich nachvollziehbaren) wie immer auch gearteten Gründen entschließt sich ein wohlhabendes Ehepaar fortgeschrittenen Alters Teile seines Vermögens in einer komplizierten juristischen Konstruktion auf nähere und weitere Verwandte zu übertragen. In oligarchischen Systemen östlicher Provinienz würde dies möglicherweise vollkommen jenseits der Rawlschen Idee geschehen, wonach soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, etwa verschiedener Reichtum oder verschiedene Macht, nur dann auch als gerecht empfunden werden, wenn sich aus ihnen Vorteile für jedermann ergeben, insbesondere für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft. Nach den erbschaftssteuerlichen Regelungen in unserem rechts- und sozialstaatlich ausgerichteten System würden - bei allen Verbesserungswürdigkeiten - von einem solchen Erbgang mittelbar auch noch die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft profitieren, insofern - je nach Verwandschaftsgrad - Erbschaftssteuer in erheblichem Umfang anfallen würde.

Ein weiteres Beispiel: Mit Blick auf intergenerative, systemische Wirkungen elterlicher und Eltern-Kind-bezogener Beziehungskulturen und -muster würde sich aus "Vernunftgründen" immer eine verständnisvolle, faire wechselseitige Wahrnehmung, Fürsorge und Achtsamkeit empfehlen, weil man davon weiß oder wissen kann, dass sie Zuträglichkeitsbedingungen für eine gedeihliche individuelle Entwicklung darstellen. Ganz anders - und jenseits "vernünftiger" Überlegungen und Handlungsmaximen - werden hier emotionale, motivationale und normative Einwände Vorbehalte und Ideosynkrasien hervorbringen, die Familiensysteme häufig zu extremen und nachhaltigen Stressmilieus mutieren lassen. Der Appell an Vernunft wird umso weniger konstruktive Resonanz hervorrufen, je näher und intensiver "blinde Flecke" einen "unvoreingenommenen" Zugang zu eigenen Befindlichkeiten und ursächlichen Verstrickungen zulassen. Wir sind immer schon "eingenommen" - weitab jeglicher "urzuständlicher" Unschuld - von dem, was uns kognitiv, emotional, motivational und normativ anfrisst! Fairness bewegt sich hier in der Regel auf Seiten Utopias oder im Kontext solidarischer Familienverbände.

Ich schließe dieses erste Kapitel einer Würdigung unterschiedlicher Theorieoptionen mit zwei Variationen desselben Gedankens ab, die im Sinne einer grundlegenden Haltung der "Selbstdesinteressierung" sensibilisieren für die Unvermeidbarkeit "blinder Flecken" und die Relativität aller Wahrnehmung:

Einmal mit den Worten von Peter Fuchs und in der zweiten Variante mit den Worten von Peter Solterdijk:

Peter Fuchs: „Wenn irgendjemand - ob Frau, ob Mann – behauptet, er/sie habe einen privilegierten Zugang zur Welt, dann erdröhnen für mich im Hintergrund die Sirenen des Faschismus: Viele Menschen sind benachteiligt oder gar getötet worden im Namen der Behauptungen anderer Menschen, sie hätten privilegierte Weltzugänge. Claude Levi-Strauss hat irgendwann einmal gesagt, dass wir lebende Wesen im Schoß des Lebendigen seien, alle, würde ich hinzufügen, und nicht irgendeines auf besondere Weise (Peter Fuchs, Das seltsame Problem der Weltgesellschaft, Opladen 1997, S. 62).“

Peter Sloterdijk, der die Entbindung der ungeheuerlichen Gewaltexzesse im 20. Jahrhundert und ihre Fortsetzung bis in die Gegenwart hinein in Anlehnung an die Luhmannsche Haltung der „Selbstdesinteressierung“ dem allen Weltbeschreibungen erster Ordnung inhärenten Paranoia-Potential und dem von ihm gebundenen und entbundenen Gewaltpotential zuschreibt: "Wo immer Menschen anfangen, ihre Weltbilder distanzlos zu bewohnen und ihre Einteilungen des Seienden im Ganzen als eine Arena realer Kämpfe zu erleben, dort sind sie der Versuchung ausgesetzt, für ihre Identitätskonstrukte bis zum bitteren Ende zu kämpfen und für ihre Fiktionen zu töten (Peter Sloterdijk, in: Luhmann-Lektüren Berlin 2010, S. 153).“

 

 

 

 

 

 

 

 

   
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