<<Zurück

 
 
 
 

Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit II (hier Teil III)

Die Vorstellung, das menschliche Gedächtnis arbeite wie eine Art Videorekorder gehört erstens in die Mottenkiste der Gedächtnisforschung und müsste sich zweitens erst einmal mit der Frage befassen, was zeichnet denn ein Videorekorder auf bzw. was gibt er wieder? Denn die sprachlich insinuierte Suggestion ein Videorekorder zeichne unbestechlich die Wirklichkeit auf und speichere sie als Erinnerung im Gedächtnis ab – sozusagen als ein akkurates Abbild vergangener Ereignisse – erscheint ja selbst aberwitzig und zeugt von einer vollkommen unangemessenen, unterkomplexen Wirklichkeitsvorstellung.

Das Titelthema der aktuellen ZEIT (14/23) lautet: Die Erinnerung täuscht. Ich knüpfe an meinen letzten Blog-Beitrag an: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit I. Was im Dossier des ZEIT-Autors Bastian Berbner in Frage gestellt wird und – am Beispiel der hier durch Elizabeth Loftus repräsentierten Gedächtnisforschung – gezeigt werden soll, bezieht sich auf den Zusammenhang von Ereignis und erinnertem Ereignis. Dabei schiebt sich bereits höchstrelevant – zum Beispiel in rechtsförmigen Kontroversen – die Frage in den Vordergrund, ob ein Ereignis (als das erinnerte) überhaupt stattgefunden hat. Insofern sind die Erörterungen und Befunde für mich persönlich und unser familiales Erinnerungstrauma relativ irrelevant. Gleichwohl lohnt es, die aktuell weitgehend konsensual vertretene Vorstellung davon, was ein Gedächtnis leistet und wozu es imstande ist, einmal kurz zusammenzufassen:

„Das menschliche Gedächtnis ist in dem, was es abspeichert, hochgradig wählerisch. Von den tausenden Eindrücken und Informationen, die jede Sekunde unser Hirn erreichen, nehmen wir nur einen winzigen Teil bewusst wahr. Und davon verschwindet das allermeiste bald wieder. Nur ein Bruchteil bleibt hängen, nämlich alles, worauf wir aktiv unsere Aufmerksamkeit richten. Auch davon wiederum wird nur ein kleiner Teil langfristig als Erinnerung abgespeichert. Nämlich alles, was für uns neu, überraschend, von großer Bedeutung oder mit starken Gefühlen verbunden ist.“

Es macht also bereits einen Unterschied, ob ein Ereignis stattgefunden hat oder nicht. Wie Bastian Berbner referiert, setzt sich in der Wissenschaft mehr und mehr das Modell des „rekonstruktiven Gedächtnisses“ durch – „eines Gedächtnisses also, das beim Erinnern keine exakte Wiedergabe eines Ereignisses abspielt, sondern eine nachträgliche Rekonstruktion“. Mehr noch wisse man heute, dass das Gedächtnis nicht nur rekonstruktiv, sondern auch konstruktiv arbeite: „Es verfälscht nicht nur bestehende Erinnerungen. Es kann auch Scheinerinnerungen erschaffen. Ein Mensch kann Dinge für wahr halten, die er nie erlebt hat.“

Und sehr grundlegend scheint die Erkenntnis, dass alles, was wir über die Welt wissen, Erinnerung ist: „Alles, was wir über uns selbst wissen, ist ebenfalls Erinnerung. Woher komme ich? Wer bin ich?“ Harald Welzer geht in seiner Theorie der Erinnerung (München 2002 – hier in der vierten Auflage von 2017) davon aus, dass eine zentrale Voraussetzung für die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses in der Fähigkeit bestehe, „distinkte Zonen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheiden zu können, also ein Vorher von einem Jetzt und einem Nachher differenzieren zu können“. Das autobiographische Gedächtnis setze demnach einen Zeitbegriff voraus:

„Für die Entstehung eines solchen Zeitbegriffs ist wiederum erforderlich, dass Erinnerungen einen Ich-Bezug aufweisen, was, wie wir gesehen haben, etwa im Alter von zweieinhalb Jahren aufzutreten beginnt […] Kurz, das autobiographische Gedächtnis ist erwacht, wenn ein dreijähriges Kind davon berichten kann, dass es gestern im Kindergarten vom Stuhl gefallen ist und sich dabei weh getan hat (S. 112f.).“

Meine Nichten waren knapp fünf und fast acht Jahre alt, als ihr Vater vom Himmel gefallen ist; die Jüngere verbindet damit kein unmittelbares autobiographisch spurenmächtiges Erleben. Wie im Blog-Beitrag, auf den ich mich beziehe, erwähnt, beginnt sie nunmehr mit einer (Re-)Konstruktion ihres Vaterbildes, das sich eben nur rudimentär aus der Erinnerung speisen lässt. Dies ist anders bei ihrem Onkel und den anderen Erwachsenen, die das relationale Netzwerk zu ihrem Vater gelebt haben, und die aus ihren je unterschiedlichen Perspektiven und Erinnerungen noch gesprächsfähig sind, und - sofern sie auch gesprächswillig sind - vielleicht bereit sind mitzuwirken an einem komplexen Erinnerungsmosaik.

Da ich persönlich erst in einem höheren Alter in der Lage war, Strategien zu entwickeln, um auch mit traumatischen/traumatisierenden Ereignissen/Erinnerungen umzugehen, handelt es sich bei meinen eigenen (Re-)Konstruktionen um Erzählungen, die um einen Realitätskern kreisen. Greifbar wird dies vor allem in der Unterscheidung jener impressionistischen Erzählung, die den 21. Juni 1994 zunächst als Unfall begreift, um dann später der Neigung nachzugehen, diesen vermeintlichen Unfall als einen Akt der fahrlässigen Tötung zu begreifen. Entscheidend scheint dabei zu sein, mit welchen zusätzlichen Informationen man den Realitätskern anreichert – ähnlich der Anreicherung von Uran bis zur kritischen Masse.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.