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Der 21. Juni - er bleibt der längste Tag - Sommerbeginn und winterharter Frosteinbruch zugleich

Auch mir gegenüber und meiner (Selbst-)Wahrnehmung gibt es den Vorbehalt einen Frieden zu finden, der nicht daran gekoppelt ist, in eine alte Wunde immer wieder Salz zu streuen. Das Erinnern des 21. Juni ist damit alleine auch nicht gleichbedeutend. Was bleibt uns denn außer der Erinnerung? Die Erinnerung umfasst gleichermaßen schmerzhafte wie verklärende Aspekte. Um all diesen Aspekten einen angemessenen Ort zu geben, habe ich Kurz vor Schluss Teil II geschrieben. Der folgende knappe Auszug vermittelt sich erst zur Gänze durch den gewaltigen Kontext. in dem er steht. Gestern habe ich die Druckvorlage an meine Druckerei weitergeleitet:

Es gibt über die ersten Stunden, nachdem mich die Nachricht vom Flugzeugabsturz in der Nähe von Landshut erreicht hatte, sowohl Blogeinträge als auch Tagebuchaufzeichnungen, die Jahre später entstanden sind. Bezeichnend ist die absolute Sprachlosigkeit in den ersten Tagen, Wochen, Monaten, sogar Jahren. Gedanken, eine abgeschattete Gefühlswelt haben über die Jahre danach schleichend eine kritische Masse angehäuft, die dann nach der Explosion so ziemlich alles in Trümmer gelegt hat, was bis dahin entstanden war.

Nunmehr 28 Jahre nach diesem schmerzhaftesten Wendepunkt, also mit großem zeitlichem Abstand, sind die Zugänge zu dem unmittelbaren Erleben am Mittag dieses 21. Juni 1994 weitgehend versperrt. Das mag damit zusammenhängen, dass sich zunächst einmal so etwas ereignete, wie eine Implosion – das Gegenteil der mit Zeitzünder initialisierten Explosion in der ersten Hälfte des Jahres 1997. Wie hätte ich denn wissen und fühlen sollen, wer ich unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse von 1994 wirklich war oder auch sein konnte? Es gibt auch heute noch so vieles, was sich an Erinnerungen und Eindrücken überlagert. Vielleicht beginne ich mit der Selbstbildfacette der Hybris! Mir gegenüber und der Welt gegenüber im Recht zu sein, vor allem auch Recht zu behalten – selbst gegen bessere Einsicht –, war mir in der ersten Hälfte meines Lebens wichtig! Es war der Legitimationsfeiler einer Weltsicht, die erstens auf der Erkenntnis beruhte, dass die Menschen und die Welt schlecht waren: unsere Eltern und Großeltern hatten es nicht gut gemacht – außer natürlich meinen eigenen Eltern und Großeltern. Alles in allem war die Welt moralisch ein Trümmerfeld, Politik und Verwaltung(en) waren korrupt – alles, was in der Welt Bestand hatte, hätte man besser machen können; alles war suboptimal. Wir alle hatten den Anspruch es besser zu machen und begannen mehr und mehr zurückzublicken auf Trümmerwelten, die wir mehr und mehr auch selbst zu verantworten hatten. Aber zuerst lautete die These: Wir sind die Guten! Ich habe alles richtig gemacht: Ich bin von zu Hause weggegangen und habe mein Ding gemacht – als erster Abitur – als erster Studium (vier Abschlüsse!) – Diplom – Promotion – beamteter Lehrer und Hochschullehrer – Ehemann und Familienvater – Häuslebauer – Weltverbesserer – der, der seine Eltern liebt und ehrt – der, der die perfekten Geschwisterbeziehungen pflegt??? Hinter dieser Fassade lebte der, der seine romantisierenden Ideale schon früh verraten hatte; der, der seine politischen Überzeugungen und seine alltägliche Praxis in einer Art Quadratur des Kreises miteinander unter einen Hut zu bringen suchte; der, dessen Schwester dem eigenen Sohn – seinem Neffen – zeitweise den Umgang mit ihm und seinem Umfeld verboten hatte; der, der Zweifel an den stets idealisierten Geschwisterbeziehungen stets zurückgewiesen hat; der, der zunehmend daran scheiterte, auch die Schwiegerfamilie zu befrieden!

Mit diesen Verfalls- und Lähmungserscheinungen trat also jemand den neuen Job an, bastelte weiter an Familie und dem viel zu großen Haus, ohne wirklich zu merken, wie die Luft, die er atmete, immer dünner wurde. Da bewegte ich mich also in meiner statistischen Lebensmitte. Ich habe bereits die Zahl 367.920 an irgendeiner Stelle erwähnt; so viele Stunden verbergen sich etwa hinter 42 Lebensjahren. Und nur an diesem – sich im Zeitfluss – allen Vorstellungsbemühungen entziehenden Stundenhaufen kann man ansatzweise erahnen, was denn eigentlich unvermeidbarer Weise geschieht, wenn jemand versucht, sich zu erinnern. Und was sollte bzw. was kann man überhaupt erinnern?

Unter die Haut gehen in meinem emotionalen Raum: Der Tod meines Bruders war eine Grenzerfahrung, die so ziemlich alles auf den Kopf und wiederum vom Kopf auf die Füße stellte, was bis dahin Geltung hatte. Da war zunächst einmal gar nichts gebacken im Sinne einer schlichten Assimilation; einer schlichten Integration eines brachial über mich – über uns hereinbrechenden Tsunamis. Ganz im Gegenteil wurde damit ein Akkomodationsprozess in Gang gesetzt, in dem sich über Jahre vollkommen neue Bewältigungs- und Verarbeitungsmuster herausbilden sollten:

Dass das finale Ereignis eines Flugzeugabsturzes nur wenige Minuten andauerte – und von den Beteiligten (bis auf den Piloten) auch nicht durchschaut wurde, vermutlich bis wenige Sekunden vor dem Zerbersten des Viersitzers auf freiem Feld, unter blauem, wolkenlosem Himmel, muss ich mir auch heute noch immer wieder vor Augen führen. Darin liegt der Auslöser für immer wieder aufwallenden Zorn und zugleich ein gewisser Trost. Es bleibt bei der tröstlichen Vorstellung, dass die vier Männer aus Bad Neuenahr (zwischen Ende dreißig und Ende fünfzig), von denen mein Bruder Willi der jüngste war, diesen Flug – in Vorfreude auf ein verlängertes Wochenende in Zell am See (Österreich) – bis kurz vor 10.00 Uhr am 21. Juni 1994 bei herrlichem Mittsommerwetter als reinen Genuss und außergewöhnliche Abwechslung und Bereicherung in einem für alle arbeitsreichen Alltag genossen haben.

Da spielte es keine Rolle, dass ich meinen Bruder mal wieder als Idioten ansah, der keine Gelegenheit auslassen konnte, die man gemeinhin als puren Luxus oder meinetwegen als so überflüssig, wie einen Kropf betrachten konnte. Es spielte keine Rolle, dass er dafür eigentlich überhaupt kein – sozusagen überflüssiges Geld – zur Verfügung hatte (sein Konto war bis zum Anschlag überzogen). Es spielte keine Rolle, dass er sich eigentlich in einer kritischen Phase bewegte, in der seine Ehe lange auf dem Spiel gestanden hatte, er eine Affäre beendet hatte und sich wieder zurück bewegte in seine Familie mit zwei heranwachsenden Töchtern, von denen die eine sieben Jahre alt war und im September achte Jahre alt werden würde und die andere eben – im April – fünf Jahre alt geworden war. Es konnte gar keine Rolle spielen, dass die Mutter eben einmal in 14 Tagen ihren 70sten Geburtstag feiern sollte – wir hatten die Vorbereitungen dafür ja miteinander noch wenige Tage zuvor abgestimmt!

Warum – verdammt noch einmal – musste mein idiotischer Bruder die Nase wieder mittendrin haben???

Er gehörte ja gar nicht dazu!!! Die beiden anderen hatten die Reise bei einer Tombola gewonnen. Er war nur als Ersatzkandidat eingesprungen für jemanden, der die Reise nicht antreten konnte. Warum war da nicht irgendjemand anderes – vielleicht partner- und kinderlos – interessiert gewesen, diese Reise anzutreten? Und warum – verflucht noch einmal – musste diese Maschine von einem gewissenlosen, ausschließlich an seinen eigenen Interessen und Motiven ausgerichteten Egomanen gesteuert werden??? Dieser Mann, den man gemeinhin für die ideale Besetzung dieses Parts im gesamten Arrangement hätte ansehen müssen, und der als Held von Landshut in der Bild-Zeitung abgefeiert wurde – diesem schon immer mit einem puren Filtrat aus reiner Scheiße gedruckten, waffenscheinpflichtigen Drecksblatt –, dieser Mann entpuppte sich nach der sorgfältigen Untersuchung des Bundesluftfahrtamtes als über die Maßen fahrlässiger Pilot. Entgegen seiner Verantwortung hatte er vor Abflug weder das Logbuch noch den Füllstand des Tankes überprüft. Der Check war abends zuvor erfolgt. Dass die Maschine nach seiner Abnahme nochmals für einen Schleppflug bewegt wurde, war so seiner Aufmerksamkeit – trotz ordnungsgemäß erfolgten Eintrags ins Logbuch – entgangen. Wenige Liter Sprit haben gefehlt, um das Fluggerät vorschriftsmäßig auf dem Landshuter Flugplatz zu landen. Bis in alle Ewigkeit hätte niemand Kenntnis erlangt von der Fahrlässigkeit des erfahrenen Bundeswehrpiloten. Dann – aber auch nur dann, unter genau dieser Maßgabe – hätte der Vergabe einer Lizenz zur Erteilung von Flugunterricht nichts im Wege gestanden. Onkel Günther, der Schwager unseres Vaters, ist noch am 21.6.94 nach Landshut gefahren und hat schon unter dem unmittelbaren Eindruck der Absturzstelle – wie dann von der Luftfahrtbehörde bestätigt – gemutmaßt, dass es ein Leichtes gewesen wäre die Maschine auf freiem, abgeernteten Gelände notzulanden; n o t z u l a n d e n! Darum war es dem Piloten zu tun, nämlich genau dies zu vermeiden. Braunschweig geht akribisch und unerbittlich jeder außerregulären (Not-)Landung nach. Die Maschine hatte nicht gebrannt – der Tank war staubtrocken. Der Pilot hatte zu hoch gepokert. Um zu verhindern, dass man ihm Fahrlässigkeit und Versäumnisse nachgewiesen und damit selbstredend die Erteilung einer Lizenz als Fluglehrer verweigert hätte, hat er leichtfertig sein eigenes und das Leben der drei ihm anvertrauten Männer aufs Spiel gesetzt – und verloren. Der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Nie ist mir diese Luhmannsche Lebenslaufformel zynischer und erbarmungsloser vorgekommen.

Das Leben meines Bruders war innerhalb von Sekunden ausgelöscht; unsere Mutter hatte ihren jüngsten Sohn verloren, seine Kinder ihren Vater und seine Frau ihren Mann. Fast 27 Jahre nach diesem Ereignis kann man natürlich sehen, dass die Welt sich weiter gedreht hat. Der eingetretene Verlust soll jedenfalls aus meiner Sicht – zumindest für die Blutsverwandtschaft – in seiner elementaren und existentiellen Dimension kein Gegenstand für Spekulationen sein. Auch die Frage, ob die Ehe Bestand gehabt hätte, sollte in ihrer rein spekulativen Perspektive hier keine Rolle spielen. Relativ früh habe ich begonnen den gesamten Blickwinkel umzukehren und meinen Bruder zum Adressaten von Briefen und Mitteilungen gemacht, wie es denn hier bei uns weitergegangen sei; eine Adresse hatte ich nicht, aber die Zustellung ist auch nicht verweigert worden. Warum ich mich der Spekulationen enthalten will, hängt zusammen mit dem Respekt, mit dem ich auf die Lebenswege der unmittelbar Betroffenen schaue; da gäbe es für meinen Bruder nichts zu meckern. Gleichwohl begleitet mich die Frage, was beispielsweise ein früher Verlust des Vaters für Töchter bedeuten mag, manchmal in meinen Träumen, aber auch im Wachen.

Die Frage, die ich mir hingegen erlaube und der ich mich gar nicht entziehen kann, hängt mit uns Brüdern zusammen, mit dem Ausmaß, in dem ich ihn vermisse und seinen Segen erhoffe. Mit unserer Schwester und unserer Cousine fühle ich mich da in nahtloser Übereinstimmung. Willi war in seiner Frohnatur meiner Schwester näher als mir; in einer vorsprachlichen, vollkommen selbstverständlichen Dimension von Zugehörigkeit und emotionaler Bindung muss man vermutlich lange nach einem vergleichbaren Brüderpaar im Geiste und im Herzen suchen. Dafür gibt es ein so unendlich dichtes feinstoffliches und feinmaschiges Gewebe, das diese tiefe Intuition auch nach 27 Jahren trägt. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass ich wenige Jahre nach Willis Tod in seine Fußstapfen getreten bin und mich selbst nicht schützen konnte vor den Lektionen, die er bereits – als der Jüngere – dabei war zu lernen. 1997 hat er seinen Beitrag dazu geleistet, mich zu besinnen und endlich erwachsen zu werden – auch um herauszufinden, wer ich denn eigentlich bin. Um dorthin zu gelangen, musste die Welt sich weiterdrehen. Unsere Mutter musste sterben, und neben die neuentdeckte Lust am Leben musste ein preußisch anmutendes Pflichtethos treten, so dass ich tatsächlich ganz werden konnte?

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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