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Aktuelle Einlassung vom 25. Januar 2020

Das ganze Wagnis dieses Unterfangens "Demenztagebuch" wird offenkundig, indem ich hier feststelle, dass ich dieses Vorhaben vor mehr als zwei Jahren unterbrochen habe - ohne dies absichtsvoll zu tun. Die Zäsur in 2017 liegt in der seit dem Juli 2017 vereinbarten vollstationären Pflege meiner Schwiegermutter im Seniorenzentrum Laubenhof in Koblenz Güls. Ein und ein halbes Jahr hatten wir meine Schwiegermutter nach ihrem Oberschenkelhalsbruch (am 11.12.2015) - nach dem Einbau eines Treppenlifters - versucht in unsere Familie zu integrieren. Erst nach ihrem Armbruch im Mai 2017 haben wir uns entschlossen, diesen Versuch abzubrechen und uns um eine vollstationäre Unterbringung im Laubenhof zu bemühen. Der Ausgangsimpuls zu diesem Demenztagebuch hängt mit meinem Schwiegervater zusammen, der am 8.3.2010 verstorben ist. Biografie- und demenzdaynamisch liegt noch eine weite Wegstrecke vor uns.

All diese Bemühungen um Rekonstruktion, um ein relativ kleinschrittiges Nachzeichnen des dementiellen Prozesses mit seinen systemischen Auswirkungen werden inzwischen massiv überlagert von der rasanten dementiellen Karriere meiner Schwiegermutter. Ihren Weg habe ich filmisch dokumentiert, indem ich in gewissen Abständen Gespräche mit ihr führe und diese aufzeichne. Heute - wie gesagt nach mehr als zwei Jahren - greife ich das Demenztagebuch wieder auf. Allerdings nunmehr mit der Absicht, Vergangenheit und Gegenwart unmittelbar miteinander zu verzahnen. Auf diese Weise nimmt meine Dokumentation außerordentlich an Präsenz und Schärfe zu. Dies hängt damit zusammen, dass ich mich unterdessen einmal wieder aktiviert habe und den lange vor sich hindümpelnden Förderverein Seniorenzentrum Laubenhof e.V. zu neuem Leben erweckt habe. Ich gebe eine Zeitung heraus "Rund um den Laubenhof" und beginne mit meinen Leitartikeln einen Diskurs über die Situation und den Umgang mit Alter und den Alten in der Gegenwartsgesellschaft. Die außerordentliche Spannung, die dabei entsteht, resultiert aus der Tatsache, dass ich selbst inzwischen erstens Pensionär bin und zweitens mich dem Prozess des Älterwerdens sehr viel deutlicher ausgeliefert sehe als noch vor Jahren - beispielsweise zu Beginn dieses Unterfagens "Demenztagebuch". Vor gut zwei Stunden habe ich im Café Laubenhof - im Seniorenzentrum - nolens volens demonstriert bzw. erlebt, wie gnadenvoll  und gnadenlos sich eine schlichte Altersdemenz auswirkt. Um noch einmal eindrücklich zu belegen, dass die These vom selektiven Erinnern und Vergessen im Alter und im hohen Alter und erst recht im höchten Alter besondere Ausprägungen annimmt, habe ich meiner Schwiegermutter die Standardfrage gestellt, wo sie früher gewohnt habe. Meine Schwiegermutter ist am 27.9.2019 sechsundneunzig (96) Jahre alt geworden. Die Frage beantwortet sie seit Jahren stoisch mit: Triererstraße 282. Dort hat sie bis zu ihrem 28sten Lebenjahr gewohnt und gearbeitet. Alles, was danach kam: Heirat, Umzug in den Pollenfeldweg, Umzug nach Güls auf den Heyerberg ist - wenn überhaupt - nur noch mühsam mit Hilfe zielführender Interventionen, Fotos und lenkenden Impulsen wiederzubeleben. Parallel zur Demenz nehmen unterdessen auch die körperlichen Einschränkungen erheblich zu. Meine Schwiegermutter ist sehrwohl eine ungewöhnliche Frau, die sich nach Bein- und Armbruch immer wieder zurückgekämpft hat und bis heute den Weg von ihrem Zimmer bis ins Laubenhofcafé am Rollator bewältigt hat. Heute - insofern ist dies ein Datum von Bedeutung - war der Hinweg nur sitzend auf dem Rollator möglich, während der Rückweg erst unmittelbar vor ihrer Zimmertüre mit einem Schwächeanfall endete, sodass die letzten Meter sitzend bewältigt werden mussten.

Was mich umtreibt, hängt zentral mit der Frage zusammen, ob der radikale Weg in die Verwüstung der Alterszone unumkehrbar ist. Theoretisch bzw. beobachterspezifisch hat mich Jean Beaudrillard entscheidend beeinflusst, der bereits in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die dramatischen Effekte beschrieben hat, die mit der Vergreisung der Gesellschaft einhergehen; einer Gesellschaft, die als Weltgesellschaft den Zwängen der Globalisierung, der Disloziertheit und der Ausdünnung von Verwandtschaftsverhältnissen unterliegt. Was das bedeutet, können wir vierzig Jahre später an den Vergreisungseffekten und den Bewältigungsversuchen beobachten.

Demenztagebuch vom 24.05.2008

In der Tat - so wenig Tagebuch war noch nie! Und das in einer der dichtesten und bedrängensten wie beglückendsten Phasen meines Lebens: Gestern habe ich Michael, meinen Neffen zum zweiten Mal innerhalb von acht Tagen nach seiner"Rückkehr" aus dem künstlichen Koma erlebt: Beeindruckend und beglückend, weil sich etwas andeutet und zeigt, was niemand von uns zu hoffen wagte. Meine Faszination dem Phänomen Gedächtnis gegenüber wird von Michael nachhaltig unterstrichen. Es scheint so, dass das filigrane und so fein differenzierte Netzwerk von Informationen und deren Verknüpfung ermöglichende, nuancenreiche System von Bewertungen sich nahezu vollständig wieder einstellt. Man kann von einer nahezu vollständigen Abschaltung oder vielleicht auch nur Abschattung des Bewusstseins sprechen. Eine andere Frage ist mit der körperlich-muskulären-motorischen Rehabilitation verbunden. Wir sind da guter Hoffnung. Es taucht eine andere Frage auf, was nämlich Michaels Situation mir im Zusammenhang mit Fulbert Steffenskys kleiner Schrift: Mut zur Endlichkeit - Sterben in einer Gesellschaft der Sieger (Stuttgart 2007) zu sagen hat:

"In der Krankheit könnte der Mensch lernen, sich nicht mehr durch sich selbst zu rechtfertigen. Der Schwerkranke ist hilflos, und er ist nicht mehr Souverän seines eigenen Lebens. Er hat seine Stärke verloren. Er kann sich nicht mehr in der eigenen Hand bergen, er muss sich aus der Hand geben. Er ist angewiesen und bedürftig geworden. Er braucht für die äußeren Verrichtungen und für seine innere Konstitution Menschen. Die Bedürftigkeit ist der Grundzug aller Humanität. Je geistiger ein Wesen ist, um so bedürftiger ist es, um so mehr weiß es, dass es sich selbst nicht gebären und vollenden kann. Es braucht Väter und Mütter, es braucht Kinder und Enkel. Es muss sich auf mehr berufen können als auf den eigenen Witz und die eigene Stärke. Schwer erkrankt sein, heißt verarmt sein: arm an eigener Kraft, arm an Bewegungsfähigkeit, arm an Zukunft. Die Krankheit ist Krise: man kann angesichts dieser Verarmung in Hoffnungslosigkeit und Verbitterung erstarren, und man kann sich ergben. Sich ergeben ist ein veraltetes Wort, das ich mag. Es heißt sich aus der Hand geben, sich anvertrauen, sich nicht mehr mit sich selbst rechtfertigen, wissen, dass es zu wenig ist, nur bei sich selber aufgehoben zu sein. Vermutlich gelingt diese letzte Ergebung, die letzte Bedürftigkeit nur wenigen Menschen."

Aktuelle Einlassung vom 27.2.2020

Gestern hat das Bundesverfassungsgericht die 2015 vom Deutschen Bundestag verabschiedeten gesetzlichen Regelungen zur Sterbehilfe aufgehoben und zunächts einmal den status quo ante verfügt. Der Gesetzgeber ist gehalten neue Regelungen zu treffen, die in dem Sterbewunsch unheilbar Erkrankter absoluten Vorrang einräumt. Darüber hinausgehende bzw. abweichende Fallkonstellationen bedürfen der Regelung. Warum erwähne ich das hier? Meine Schwiegermutter bewegt sich auf ihren 97sten Geburtstag zu, und ich bin der uneingeschränkten Überzeugung, dass sie ihr Leben nach wie vor als lebensewert begreift. Alle Aktivitäten und alle Selbstverfügung ist extrem eingeschränkt: Heute haben wir unser alltägliches Ritual vollzogen. Nach Kaffee und Kuchen ein Eis. Auf meine Frage, was es denn "Neues" gäbe, antwortet sie schon seit Jahren mit der  Standardreplik: "Das Alte wird neu angerührt!". "GEspräche" beziehen sich auf Erinnerungsfähiges: "Weißt Du noch, wie Du Leo immer zum Essen gerufen hast?" [Hier ist es in der Regel nicht nötig zu erwähnen, dass Leo ihr Mann war, mit dem sie 58 Jahre verheiratet war] "Essen kommen, Leonardo da Vinci!" Auf meine Frage, wie er dann geantwortet hat, kommt relativ unvermittelt: "Ich komme, Lisa dela Casa!" Sie lacht dann herzlich und fügt absolut amüsiert hinzu: "Die Leute haben dann immer gedacht, wir seien Ausländer." Nun ja. In der Folge, beim Transkribieren des "Demenztagebuchs" wird sich wieder die Frage in der Vordergrund manövrieren, wieviel Kontext sinnvoll und erträglich ist. Mir wird immer klarer, dass ja auch das Demenztagebuch eigentlich erst seine Qualitäten entfalten würde, wenn die systemischen Wirkungen und Nebenwirkungen gleichermaßen in den Blick kämen; also werde ich stärker auch Kontext "produzieren" bzw. zulassen und berücksichtigen.

Demenztagebuch vom 8.6.2008

Sonntagmittag auch dem Heyerberg - der Frühsommer wächst sich allmählich zum Sommer aus, 36 Grad in der Sonne sagt Lisa eben zu mir. Ich sitze hier auf dem Balkon; Leo liegt im Bett. Ich habe ihn (noch) nicht geweckt. Er schläft ruhig und fest, zumindest bis jetzt - soeben höre ich ihn Stöhnen und Grunzen - das ist eine Art urgewaltiges Räuspern, schon selbstvergessen bis in die abgründigsten Schleimregionen - Körper nur noch Schleim und Reflex? Bei ihm noch nicht so ganz. Vor 1 1/2 Stunden ist FUW nach Neuwied gefahren. Er ist gestern Mittag (immer noch) ohne Bärbel gekommen. In Abweichung unserer Standardwanderung sind wir gestern über Bisholder zu unserem Lieblingsplatz in den Winninger Weinbergen gewandert - mit einem Liter Riesling, Käse, Wurst und Brot - und Biene, die gestern 7 Jahre alt geworden ist. Anne ist am Freitag von ihrer Kursfahrt nach Zandvoort (Holland) zurückgekommen - Zandvoort für mich tiefe und nachhaltige Kindheitserinnerung.

Demenztagebuch vom 13.6.2008

  • Ruhe, Gelassenheit, ja, aber man lässt sich ja nicht selbst und aus sich alleine, nicht ohne Reflexe und Vorgaben aus dem Umfeld:
  • Leo ist stabil - neben der Progression seiner Demenz, nimmt nun seit Wochen neben dem Einnässen auch das Einkoten in die überdimensionalen Pampers zu.
  • Michael ist seit vier Wochen aus dem künstlichen Koma zurückgeholt worden und macht Riesenfortschritte, ordnet sein Leben neu - sehr konsequent, Verabschiedung von seiner Kanzlei.
  • Die Kinder gehen ihrer Wege - wie auch immer.
  • Auch Claudia geht ein bisschen, nein ganz deutlich immer mehr ihren eigenen Weg: Heute Marienhof - Entfernung eines Knotens aus der rechten Brust (gutartig). Am darauf folgenden Montag: Bruce Sprengsteen in Düsseldorft mit Frank und irgendeinem Hanno (:o)

Demenztagebuch vom 26.6.2008

Mehr als 1 1/2 Wochen kein Eintrag. Inzwischen war Iris Radisch da; ein wunderbarer Abend mit gegensätzlichsten Wirkungen und einem äußerst widersprüchlichen Nachklang. Mich hat diese Frau restlos begeistert. Ihr Auftreten, ihre konsequente Argumentationsweise, ihre Ausstrahlung, ihre Präsenz irgendwo in der Provinz vor 70 bis 80 Zuhörern, die allerdings auch nur wegen ihr ins Café Hahn gekommen waren. Der Soziologe Clemens Albrecht (heute übrigens Uni Bonn) konnte sich soziologisch an ihr reiben mit seiner Hauptthese, die Emanzipationsbewegung habe zu einer totalen Entdifferenzierung einst stabiler Rollenmuster geführt und in der Folge zu entsprechenden Erziehungsdefiziten infolge einer totalen "Feminisierung" von Familie und Erziehung. Die anderen, Krawitz, Voß, Rösler - allesamt ehrenwerte Professoren ware stille, verärgert (partiell), beleidigt, betroffen, beschämt, was und wie auch immer: Ich habe mir Mühe gegeben den Rahmen zu gestalten -  und ich hatte bei alldem auch den Hauptgewinn; kleine Episode am Rande: Als ich Frau Radisch auf dem Koblenzer HBH abholte, habe ihc in Erwartung des ICE mir die Wagenstandsmelder angesehen und mich in den Wartebereich E begeben, weil dort die 1. Klasse angekündigt war. Nach Einfahrt des Zuges stieg in Sichtweite eine Frau aus, die  - aus der Ferne wahrgenommen - Iris Radisch hätte sein können. Sie war allerdings so weit weg, dass ich sie erst erreichte, als sie bereits die Treppe zum Ausgang hinter sich gelassen hatte. Kurzum es war nicht Iris Radisch. Ich hechtete auf den Bahnsteig zurück, und sie kam mir entgegen. Entschuldigend stellte ich mich vor und erklärte ihr, dass ich auf der anderen Seite gewartet hätte, weil ich sie in der ersten Wagenklasse vermutete. "Nein, wie kommen sie denn darauf, ich verursache ihnen doch keine unnötigen Kosten", war ihre schlicht-bescheidene Antwort. Aber der 23. Juni (Tag der geschilderten Ereignisse) hatte es in sich:

  • Iris Radisch im Café Hahn: Vorbereitung, Logistik (Büchertisch), PPP, Musik, Blumen, Hotel, Begrüßung
  • Laura hat sich von Sascha getrennt - eine Stunde Trost und Tröstung
  • Leo hatte seit 6 Tagen keinen Stuhlgang. Aber just an diesem Abend - eine Stunde bevor Iris Radisch am HBH abgeholt werden musste begann die 3-Kilo-Aktion, so dass ich regelrecht in Hektik geriet (:O]
  • Bärbel und Frank hatten sich angekündigt. Sie waren um 20.15 Uhr tatsächlich da und sind tatsächlich über Nacht geblieben (:-O)

Aktuelle Einlassung vom 27.2.2020

Das war vor 12 Jahren - wozu man doch zuweilen imstande ist!

 

   
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