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Einleitung zum Demenztagebuch oder: Butter bei die Fische

den Zugriff auf alle Beiträge des Demenztagebuches erhält man über diesen Link!

Zum Einstieg oder zum besseren Verständnis sollte man mit dem ältesten Beitrag beginnen.

Mit den folgenden Bemerkungen habe ich in der Kopfzeile meines mäandernden BLOGS einen weiteren komplexen Menüpunkt eröffnet. Es wird nicht bei theoeretischen Reflexionen zum Sinn und den Grenzen eines Tagebuchs bleiben. Ein alter Fluss mäandert gern und lässt sich ungern in ein (betoniertes) Bett zwängen. Gleichwohl stößt er auf Barrieren, und Jahrmillionen wird keiner von uns fließen. Man wird die wenigsten Barrieren und Hindernisse erodieren können, so dass Letztgültiges und Finales nicht zu erwarten ist. Vielleicht wird es dennoch spannend und unterhaltsam:

Denkt man darüber nach, welche Absichten und Zwecke man mit dem Verfassen eines Tagebuches verfolgt, bewegt man sich auf einer Metaebene. Ich fasse solche Bemühungen deshalb unter dem Begriff des Metatagebuchs zusammen. Nehme ich die Zwecke selbst in Augenschein, bleiben neben dem Tagebuch selbst, das vermutlich die eindrücklichste und nachvollziehbarste Form der Selbstvergewisserung darstellt, spezifische Unternehmungen, wie beispielsweise das Lerntagebuch oder ein Sterbetagebuch. Dies kann gewissermaßen auch in einem Gesamtunterfangen kumulieren, wie es z.B. Wolfgang Herrndorf in seinem Online-Tagebuch Arbeit und Struktur öffentlich in Form eines BLOGS bis zu seinem Suizid im August 2013 versucht hat. Der Leser kann bis zum Ende jene (sicht- und nachvollziehbaren) Spuren verfolgen, die jemand im Angesicht einer finalen Diagnose hinterlässt. Das Tagebuch wird auf diese Weise zu einer prozeduralen Hinterlassenschaft, die Einsichten erlaubt – eben in die Arbeit (Prozess), die jemand absondert und in die Gerinnung dieser Absonderungen (Struktur). Irgendwann – spätestens post mortem – bleiben nur noch die Einkerbungen in eine Welt, die das eigentlich nicht nötig hätte (Derrida).

Aktuelle Einlassung vom 28.03.2020

Ich habe ja bereits darauf hingewiesen, dass das Demenztagebuch nicht mit dem Tod meines Schwiegervaters enden wird, sondern nahtlos übergehen wird in die Sorge, Fürsorge und Betreuung meiner Schwiegermutter. Seit dem vergangenen Sonntag, dem 22.3.2020, ist der Laubenhof abgeriegelt zur Verhinderung eines Übergreifens des Corona-Virus in die Einrichtung. Zu den Implikationen verweise ich auf meinen Beitrag covid 19. Hier stellen wir uns mit Bernd Ulrich die Frage, wie wir mit dem Umstand umgehen, dass meine Schwiegermutter, die wir täglich regelmäßig besucht haben, wenn es der Teufel bzw. Corona will, ohne unseren Beistand sterben muss. Phasenweise habe ich das Gefühl, dass wir - die wir mit relativ weitgehenden Kontakteinschränkungen leben müssen (social distening) - den Ernst und das Ausmaß der Situation noch nicht wirklich begriffen haben.

Demenztagebuch vom 04.05.2008 - 20.5.2008

 

Aktuelle Einlassung vom 10.12.2017

"Seht einmal, wie die Zeit vergeht!" Weiter unten kann man lesen, dass ich vor einem Jahr mit dieser Plattitüde meinen letzten Eintrag in das Demenztagebuch begonnen habe. Morgen würde mein eigener Vater 95 - Rudi Krawitz wird 74. Es sprengt den Rahmen dieses Tagebuches, der Dynamik der aktuellen Entwicklungen gerecht zu werden. Aber wenn eines deutlich ist, dann die Tatsache, dass dies schon langen nicht mehr das Demenztagebuch meines Schwiegervaters Leo ist, sondern dass mehr und mehr Lisa, meine Schwiegermutter, in der Vordergrund tritt. Sie ist am 27.9. vierundneunzig (94) Jahre alt geworden und lebt sei Juli 2017 im Seniorenstift Laubenhof hier in Güls. Sie hatte sich an Muttertag - im Mai - den Arm gebrochen. Wir haben uns dann entschlossen sie nach Kurzzeit- und Verhinderungspflege in vollstationärer Betreuung dort zu belassen. Seither sind wir regelmäßig - jeden Tag - in die Rolle der Besucher gewechselt. Ich versuche einmal in Stichworten die massiven Veränderungen zu markieren:

  • Lisa hat sich dort - im Laubenhof - eingelebt, ohne ihre Situation noch klar überschauen und einordnen zu können.
  • Für uns bedeutet dies zum ersten Mal seit mehr als 10 Jahren eine effektive, nachhaltige Entlastung.
  • Die Versorgung ist dort - im Laubenhof - alles in allem zufriedenstellend; immer unter der Maßgabe, dass jeden lieben Tag jemand von uns den intensiven, unmittelbaren Kontakt zu Lisa aufrecht erhält.
  • Dies hat zumindest bei mir dazu geführt, dass sich die Beziehung zu meiner Schwiegermutter sehr intensiviert hat. Wir sprechen miteinander und ihr Zugang zur Vergangenheit und ihrer individuellen Biografie wird jeden Tag erneuert: Wir erzählen, wir schauen wenige Fotos an, die zugleich in ihrem Erinnerungswert und in ihrer Erinnerungsfähigkeit Brücke und Maßstab bilden für den noch möglichen Zugang zur Welt.
  • Inzwischen engagiere ich mich im Förderverein Seniorenstift Laubenhof e.V. und realisiere auch für mich einen gewandelten Bezug zur Welt - nicht mehr Café Hahn, sondern Café im Laubenhof bildet den Schwerpunkt in meiner Alltagsrealität.
  • Damit hat sich partiell - man kann auch sagen grundlegend - meine Auseinandersetzung mit Klaus Dörners: "Leben und sterben, wo ich hingehöre" gewandelt.

Im Fortgang werden die Eintragungen zu Leos Demenztagebuch noch sehr viel massiver von diesen aktuellen Entwicklungen durchwirkt, zumal ich seit dem 1.10.2017 Pensionär bin!

Aktuelle Einlassung vom 02.12.2016

Seht einmal, wie die Zeit vergeht, wie sie fliegt. Eintragungen bzw. die Übertragungen in den Demenzblog habe ich lange vernachlässigt. Ich bewege mich ziemlich genau 2 Jahre vor Leos Tod. Wie ihr sehen könnt ist das in der Chronologie des Demenztagebuches der April/Mai 2008. Wir hier in der Aktualität, also in der unmittelbaren Gegenwart, nähern uns dem 11.12.2016. An diesem Tag würde nicht nur mein Vater 94. Es ist der Tag, an dem Rudi Krawitz 73 wird, und es ist der Tag, an dem sich der Oberschenkelhalsbruch meiner Schwiegermutter zum ersten Mal jährt. Seit 12. Februar 2016 lebt sie mit uns gemeinsam in unserem Haus. Der Demenzblog wird ja - wie ihr rückblickend seht - immer wieder durch aktuelle Einlassungen durchschossen, weil wir nunmehr, konfrontiert mit einer ganz normalen Altersvergesslichkeit - zuweilen auch -starrsinnigkeit oder -blödigkeit - eine zweite intensive Runde der Pflege und der Fürsorge leben.

 

Demenztagebuch vom 04.05.2008

Sonntag - Sonnentag, Blauer Himmel, ca. 20° im Schatten, die Natur explodiert. 10.39 Uhr - die Kirchenglocken läuten zum Hochamt (gibt es das noch?). Ich sitze auf dem Riesenbalkon des Heyerbergs mit Blick auf die Gülser Kirche mit ihren hohen, spitzen Streichholztürmen. Leo liegt nebenan im Schlafzimmer, schon fürs Mittagessen angezogen. Er liegt flach auf dem Rücken, er atmet noch - wie lange noch? Tage, Wochen, Monate, Jahre, wach und extrem eingeschränkt, reduziert in seinen Kontaktmöglichkeiten; das ist also der Rest seines Lebens, der inzwischen schon fast zwei Jahre in dieser extremen Reduktion andauert, auf fremde Hilfe angewiesen - ohne diese unmittelbar zum Tode verurteilt. Er wäre nicht in der Lage auch nur noch einen Monat - vielleicht eine Woche menschenwürdig zu (über-)leben.

Ich habe mich jetzt bewusst hierher gesetzt, habe ihn liegen lassen, damit er wenigstens nachher die Mittagszeit, die Zeit des gemeinsamen Essens übersteht. Lisa duscht, widmet sich ihrer Sonntagstoilette, eine bisschen Zeit für sich allein. Ich kann Leo durch die Scheibe des Schlafzimmerfensters sehen. Ich sehe, wie sich sein Oberkörper hebt und senkt, regelmäßig im Rhythmus seiner Atemzüge. Es wäre mir gerade recht - möglicherweise ihm auch -, wenn er in den nächsten Sekunden oder Minuten seinen letzten Atemzug tun würde. Mag sein, dass dies den Eindruck von Kaltherzigkeit oder Abstumpfung erweckt. Wer mich in den letzten Monaten erlebt hat, der weiß, dass es im Großen und Ganzen nicht so ist - aber zuweilen eben doch!

Gestern Vormittag war ich in Ahrweiler und für zwei Stunden mit Barbara auch in Bonn, in der Uniklinik bei Michael. Dort liegt er jetzt auf der Intensivstation, genau seit sechs Wochen im künstlichen Koma. Es ist unterdessen durch den Aufenthalt dort un die Konzentration auf die Infektion eine Besserung, möglicherweise eine Wende eingetreten. Die Medikatierung ist inzwischen so umgestellt - "eingeschränkt", dass sich die ersten Reflexe wieder eigenständig, das heißt unwillkürlich einstellen; das erste Gähnen, der "Hustenanfall" lässt gleichermaßen aufhorchen wie erschrecken. "Aufhorchen" passt nicht, es gibt nichts zu hören, es ist ein Würgen, auch ganz sicher gegen diesen unsäglichen Beatmungsschlauch. Es sind im Übrigen die Geschichten hinter den Geschichten, die wirklich aufhorchen lassen. Vor allem die Geschichte, die sich nach anfänglichem Zögern und Ablehnung ergeben hat, nachdem eine Ärztin, die in der Nachbarschaft von Barbara und Michael lebt, und die eine "Schamanenausbildung" gemacht hat, "Kontakt" zu Michael aufgenommen hat. Michael und offenkundig auch Barbara haben mit einem spirituellen Zugang oder Zugangsweise (des Lebens) nichts im Sinn. Was sich an Bildern aus dieser "Kontaktaufnahme" ergeben hat, gibt (mir) außerordentlich hohen Sinn.

Was wir geahnt haben und was Barbara wusste, findet hier eine tiefe Bestätigung! Michael hat wohl seit Jahren in ein totales Burnout hineingelebt, zuletzt mit einem nachhaltigen Verlust der Sinnperspektive seiner beruflichen Tätigkeit. Die "Schamanin" hat die Bilder so gedeutet, dass Michael nicht den Mut gefunden hat zu einer Kehrtwende, sondern dass er sich für diesen Weg aus dem Beruf "entschieden" habe. Es ist zu spüren, dass Barbara damit eine Menge anfangen kann, und dass sich für eine Rückkehr, die die "Schamanin" ankündigt, eine völlig neue Perspektive erarbeitet werden kann/muss. Es wird kein "weiter so" geben!

Und hier in Güls? Hier gibt dies vielleicht noch viel mehr Sinn, weil wir die "Not-Wenden" und die Not-Wendigkeit" von Veränderungen in den letzten 10 Jahren begriffen und kultiviert haben. So lässt sich bei aller Veränderung der Kern und der Lebenssinn bewahren. Für uns hier in Güls waren gerade die letzten Monate diesbezüglich eine Offenbarung!

Demenztagebuch vom 20.5.2008

Über's (Auf-)Schreiben komm ich gegenwärtig nicht wirklich an mich und die von mir wahrgenommenen Entwicklungen heran.

Soeben habe ich ein längeres Gespräch mit unserer polnischen Haushalts- und Pflegehilfe - Katarczyna - gehabt. Sie deutet unmissverständlich an, dass sie im Laufe des Jahres - eher früher als später - aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden wird. Das Zusammenleben mit Lisa - Claudias Mutter - wird zunehmend schwieriger, was ich selbst partiell nachvollziehen und bestätigen kann. Das heißt, wir werden uns wohl nach einem Pflegplatz umsehen müssen. Möglicherweise kommt das genau zum richtigen Zeitpunkt. Der Eindruck nimmt zu, dass alle Beteiligten, das heißt insbesondere auch Lisa und vor allem Claudia dem zustimmen könnten. Das trifft insbesondere auch auf mich zu! Ich werde mir in den nächsten Tagen den Laubenhof ansehen, die mit einem Schwerpunkt Betreuung von Demenzkranken werben. Es wäre die einzige Lösungm die nach gegenwärtigem Status von Lisa noch zu Fuß zu bewältigen werden könnte.

Aktuelle Einlassung vom 15.12.2017

9 1/2 Jahre später - ja, nicht 9 1/2 Wochen, sondern 9 1/2 Jahre später - traue ich kaum meinen eigenen Augen! Leo ist seit 7 1/2 Jahren tot. Seine Frau, meine Schwiegermutter, hat noch 5 1/2 Jahre dort gewohnt, wo sie 43 Jahre mit ihrem Ehemann Leo gelebt hat. Erst im Dezember 2015 - vor zwei Jahren - begann ihre Odyssee, die sie über zweimalige Aufenthalte im Brüderhaus und 1 1/2 Jahre bei uns seit nunmehr Juli 2017 genau dorthin geführt hat: in das Seniorenstift Laubenhof! Ich versuche bis heute die Antwort zu finden auf die Frage, ob und wie wir dort leben und sterben können, wo wir hingehören. Wie sehr sich die Perspektiven verschieben, wird deutlich, wenn Lisa mit ihren 94 Jahren zwar noch wie aus der Pistole geschossen sagen kann, wie die Wohnadresse ihrer Kindheit und Jugend lautet, also dort wo ihr Elternhaus bis heute steht: Triererstraße 282, aber nicht mehr in der Lage ist, die Adresse jenes Hauses zu nennen, in dem sie mit weiten Abstand die längste Zeit ihres Lebens zugebracht hat - und zwar gemeinsam mit ihrem Mann! Ihre erste gemeinsame Adressse, der Pollenfeldweg 49, dort wo Claudia, ihre Tochter, geboren worden ist und wo sie aufgewachsen ist, ist gänzlich aus der Erinnerung getilgt. Und ihr Mann war - wenn sie einen guten Tag hat - der Mann, der Häuser gebaut hat, unter anderem ein schönes Haus am Heyerberg in Güls. Wenn wir es heute sanieren und umbauen, ist dies ihr nicht mehr vermittelbar.

Andererseits - und dies habe ich hier schon mehrfach betont - bleiben wir intensiv in Kontakt, solange diese Kontaktaufnahme ihrerseits auf so eindrucksvolle Weise sich jeden Tag neu ereignet. Meine Angst ist verbunden mit der Erwartung jenes Tages, wo ich ihr Zimmer im Laubenhof betrete und das vertraute: "Ach, guten Tag Josef!" einem fragenden Blick weichen wird und der jene Vertrautheit auflösen wird, die (immer) noch jeden neuen Tag zu einer erfüllenden Begegnung macht.

 

 

Demenztagebuch vom 24.5.2008 -

Aktuelle Einlassung vom 25. Januar 2020

Das ganze Wagnis dieses Unterfangens "Demenztagebuch" wird offenkundig, indem ich hier feststelle, dass ich dieses Vorhaben vor mehr als Jahren unterbrochen habe - ohne dies absichtsvoll zu tun. Die Zäsur in 2017 liegt in der seit dem Juli 2017 vereinbarten vollstationären Pflege im Seniorenzentrum Laubenhof in Koblenz Güls. Ein und ein halbes Jahr hatten wir meine Schwiegermutter nach ihrem Oberschenkelhalsbruch (am 11.12.2015) - nach dem Einbau eines Treppenlifters - versucht in unsere Familie zu integrieren. Erst nach ihrem Armbruch im Mai 2017 haben wir uns entschlossen, diesen Versuch abzubrechen und uns um eine vollstationäre Unterbringung im Laubenhof zu bemühen. Der Ausgangsimpuls zu diesem Demenztagebuch hängt mit meinem Schwiegervater zusammen, der am 8.3.2010 verstorben ist. Biografie und demenztechnisch liegt noch eine weite Wegstrecke vor uns. All diese Bemühungen um Rekonstruktion, um ein relativ kleinschrittiges Nachzeichnen des dementiellen Prozesses mit seinen systemischen Auswirkungen werden inzwischen massiv überlagert von der rasanten dementiellen Karriere meiner Schwiegermutter. Ihren Weg habe ich filmisch dokumentiert, indem ich in gewissen Abständen Gespräche mit ihr führe und diese aufzeichne. Heute - wie gesagt nach mehr als zwei Jahren - greife ich das Demenztagebuch wieder auf. Allerdings nunmehr mit der Absicht, Vergangenheit und Gegenwart unmittelbar miteinander zu verzahnen. Auf diese Weise nimmt meine Dokumentation außerordentlich an Präsenz und Schärfe zu. Dies hängt damit zusammen, dass ich mich unterdessen einmal wieder aktiviert habe und den lange vor sich hindümpelnden Förderverein Seniorenzentrum Laubenhof e.V. zu neuem Leben erweckt habe. Ich gebe eine Zeitung heraus "Rund um den Laubenhof" und beginne mit meinen Leitartikeln einen Diskurs über die Situation und den Umgang mit Alter und den Alten in der Gegenwartsgesellschaft. Die außerordentliche Spannung, die dabei entsteht, resultiert aus der Tatsache, dass ich selbst inzwischen erstens Pensionär bin und zweitens mich dem Prozess des Älterwerdens sehr viel deutlicher ausgeliefert sehe als noch vor Jahren - beispielsweise zu Beginn dieses Unterfagens "Demenztagebuch". Vor gut zwei Stunden habe ich im Café Laubenhof - im Seniorenzentrum - nolens volens demonstriert bzw. erlebt, wie gnadenvoll  und gnadenlos sich eine schlichte Altersdemenz auswirkt. Um noch einmal eindrücklich zu belegen, dass die These vom selektiven Erinnern und Vergessen im Alter und im hohen Alter und erst recht im höchten Alter besondere Ausprägungen annimmt, habe ich meiner Schwiegermutter die Standardfrage gestellt, wo sie frühe gewohnt habe. Meine Schwiegermutter ist am 27.9.2019 sechsundneunzig (96) Jahre alt geworden. Die Frage beantwortet sie seit Jahren stoisch mit: Triererstraße 282. Dort hat sie bis zu ihrem 28sten Lebenjahr gewohnt und gearbeitet. Alles, was danach kam: Heirat, Umzug in den Pollenfeldweg, Umzug nach Güls auf den Heyerberg ist - wenn überhaupt - nur noch mühsam mit Hilfe zielführender Interventionen, Fotos und lenkenden Impulsen wiederzubeleben. Parallel zur Demenz nehmen unterdessen auch die körperlichen Einschränkungen erheblich zu. Meine Schwiegermutter ist sehrwohl eine ungewöhnliche Frau, die sich nach Bein- und Armbruch immer wieder zurückgekämpft hat und bis heute den Weg von ihrem Zimmer bis ins Laubenhofcafé am Rollator bewältigt hat. Heute - insofern ist dies ein Datum von Bedeutung - war der Hinweg nur sitzend auf dem Rollator möglich, während der Rückweg erst unmittelbar vor ihrer Zimmertüre mit einem Schwächeanfall endete, sodass die letzten Meter sitzend bewältigt werden mussten.

Was mich umtreibt, hängt zentral mit der Frage zusammen, ob der radikale Weg in die Verwüstung der Alterszone unumkehrbar ist. Theoretisch bzw. beobachterspezifisch hat mich Jean Beaudrillard entscheidend beeinflusst, der bereits in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die dramatischen Effekte beschrieben hat, die mit der Vergreisung der Gesellschaft einhergehen; einer Gesellschaft, die als Weltgesellschaft den Zwängen der Globalisierung, der Disloziertheit und der Ausdünnung von Verwandtschaftsverhältnissen unterliegt. Was das bedeutet, können wir vierzig Jahre später an den Vergreisungseffekten und den Bewältigungsversuchen beobachten.

Demenztagebuch vom 24.05.2008

In der Tat - so wenig Tagebuch war noch nie! Und das in einer der dichtesten und bedrängensten wie beglückendsten Phasen meines Lebens: Gestern habe ich Michael, meinen Neffen zum zweiten Mal innerhalb von acht Tagen nach seiner"Rückkehr" aus dem künstlichen Koma erlebt: Beeindruckend und beglückend, weil sich etwas andeutet und zeigt, was niemand von uns zu hoffen wagte. Meine Faszination dem Phänomen Gedächtnis gegenüber wird von Michael nachhaltig unterstrichen. Es scheint so, dass das filigrane und so fein differenzierte Netzwerk von Informationen und deren Verknüpfung ermöglichende, nuancenreiche System von Bewertungen sich nahezu vollständig wieder einstellt. Man kann von einer nahezu vollständigen Abschaltung oder vielleicht auch nur Abschattung des Bewusstseins sprechen. Eine andere Frage ist mit der körperlich-muskulären-motorischen Rehabilitation verbunden. Wir sind da guter Hoffnung. Es taucht eine andere Frage auf, was nämlich Michaels Situation mir im Zusammenhang mit Fulbert Steffenskys kleiner Schrift: Mut zur Endlichkeit - Sterben in einer Gesellschaft der Sieger (Stuttgart 2007) zu sagen hat:

"In der Krankheit könnte der Mensch lernen, sich nicht mehr durch sich selbst zu rechtfertigen. Der Schwerkranke ist hilflos, und er ist nicht mehr Souverän seines eigenen Lebens. Er hat seine Stärke verloren. Er kann sich nicht mehr in der eigenen Hand bergen, er muss sich aus der Hand geben. Er ist angewiesen und bedürftig geworden. Er braucht für die äußeren Verrichtungen und für seine innere Konstitution Menschen. Die Bedürftigkeit ist der Grundzug aller Humanität. Je geistiger ein Wesen ist, um so bedürftiger ist es, um so mehr weiß es, dass es sich selbst nicht gebären und vollenden kann. Es braucht Väter und Mütter, es braucht Kinder und Enkel. Es muss sich auf mehr berufen können als auf den eigenen Witz und die eigene Stärke. Schwer erkrankt sein, heißt verarmt sein: arm an eigener Kraft, arm an Bewegungsfähigkeit, arm an Zukunft. Die Krankheit ist Krise: man kann angesichts dieser Verarmung in Hoffnungslosigkeit und Verbitterung erstarren, und man kann sich ergben. Sich ergeben ist ein veraltetes Wort, das ich mag. Es heißt sich aus der Hand geben, sich anvertrauen, sich nicht mehr mit sich selbst rechtfertigen, wissen, dass es zu wenig ist, nur bei sich selber aufgehoben zu sein. Vermutlich gelingt diese letzte Ergebung, die letzte Bedürftigkeit nur wenigen Menschen."

Demenztagebuch vom 8.06.2008

Sonntagnachmittag auf dem Heyerberg - der Frühsommer wächst sich allmählich zum Sommer aus, 36 Grad, sagt Lisa, meine Schwiegermutter eben zu mir. Ich sitze hier auf dem Balkon; Leo liegt im Bett. ich habe ihn noch nicht geweckt. Er schläft ruhig und fest, zumindest bis jetzt - soeben höre ich ihn grunzen, stöhnen - das ist eine Art urgewaltiges Räuspern, schon selbstvergessen bis in die abgründigsten Schleimregionen, Körper nur noch Schleim, Reflex? Bei ihm noch nicht so ganz. Vor 1 1/2 Stunden ist FUW nach Neuwied gefahren. Er ist gestern Mittag (immer noch ohne Bärbel) gekommen. In Abweichung unserer Standardwanderung sind wir gestern über Bisholder zu unserem einzigartigen Platz gewandert - mit einem Liter Riesling, Käse und Wurst: und Biene, die gestern 7 jahre alt geworden ist. Anne ist am Freitag von ihrer Kursfahrt nach Zandvoort (Holland) zurückgekommen; Zandvoort, für mich tiefste und nachhaltigste Kinheitserinnerung.

Demenztagebuch vom 13.06.2008

Ruhe, Gelassenheit, ja, aber man lässt sich ja sich nicht nur selbst - man ist ja nicht alleine, nicht ohne Reflexe und Vorgaben aus dem Umfeld:

  • Leo ist stabil, der wachsende Ausprägungsgrad seiner Demenz bedeutet seit Wochen nicht nur Einnässen, sondern auch Einkoten in die überdimensionalen Pampers.
  • Michael ist seit vier Wochen aus dem künstlichen Koma - macht Riesenfortschritte, ordnet sein Leben neu - sehr konsequent, Verabschiedung von seiner Kanzlei.
  • Die Kinder gehen ihrer Wege - wie auch immer.
  • Auch Claudia geht ein bisschen, nein, ganz deutlich immer mehr ihren eigenen Weg. Heute Marienhof - Entfernung eines Knotens (gutartig). Am Montag dann Bruce Sprengsteen in Düsseldorf mit Frank und irgendeinem Hanno - das ist doch ein Weg!       

Demenztagebuch vom 28.3.2008-22.4.2008

Demenztagebuch vom 28.3.2008

Morgen früh fahre ich mit Claudia zum ersten Mal nach Ahrweiler und von dort aus mit Barbara nach Bonn zu Michael. Er liegt nun seit einer Woche dort. Sein Zustand hat sich im Laufe deer vergangenen Woche verschlechtert und auf kritischem Niveau stabilisiert. Die genaue Diagnose - Ausmaß der (Vor-)Schädigungen von Hirn und Herz sind mir nicht wirklich bekannt. Was ich bislang mitbekommen habe, wirkt wie ein Horrorszenario auf mich.

Demenztagebuch vom 31.3.2008

Das war ein höchst intensives WE vor dem offiziellen Beginn des Sommersemesters. Nach Ahrweiler bin ich am Samstag alleine gefahren und auch nach Bonn zu Michael bin ich alleine mit Barbara gefahren. Ich habe Mühe gegen einen sich aufdrängenden Fatalismus anzukämpfen. Michael liegt in einem künstlichen Koma - so habe ich 1988 im März schon meinen Vater gesehen. Es gibt gegenwärtig keinen Aufschluss darüber, wie bedrohlich oder auch aussichtslos seine Situation ist. Aber Äußerungen von behandelnden Ärzten, er sei das "Sorgenkind" der Station", er habe Läuse und Flöhe zugleich, stimmen wenig optimistisch.

Demenztagebuch vom 6.4.2008

Heute ist Sonntag, 16.30 Uhr - ziemliches, nein absolutes Scheisswetter, kalt, nass - eben Aprilwetter. Gestern war ich in Ahrweiler. Unter der Moderation und Federführung von Barbaras Vater haben wir ein Unterstützungskonzept für Michaels Familie gestrickt; damit sind die laufenden Kosten für das nächste halbe Jahr gedeckt, vermutlich ein ausreichend langer Zeitraum zur Überbrückung - bis alle versicherungs- und versorgungsrechtlichen Ansprüche geklärt sind. Anschließend war ich mit Barbara in Bonn, wo Michael jetzt seit 14 Tagen im künstlichen Koma liegt, und wir auf Besserung hoffen.

Demenztagebuch vom 11.4.2008

Allein schon an der Frequenz der Eintragungen lässt sich erkennen, dass eine merkwürdige Sprachlosigkeit vorherrscht. Welch galaktischer Unterschied noch zum Lebensgefühl von vor vier Wochen. Wie sehr hat es mich gereizt mit meiner und der mir unterdessen eigenen Sprache etwas zu beschreiben, zu durchdringen und zu gestalten, worauf ich das Gefühl hatte immensen Einfluss zu haben - fast so, als wäre diese Welt, in der wir die "Dreiecke" ausgelotet und gelebt haben, geradezu meine Erfindung, zumindest aber meine Erzählung - analytisch ebenso wie lyrisch.

Seit Ostern ist all dies enorm abgesunken, berührt und geprägt von jenem Orkus, den wir so sehr an den Rand gedrängt hatten. Da war Lust, Schmerz, Lebendigkeit, offensiver Kampf, Auseinandersetzung, Entwicklungsdynamik! Unterdessen überwiegt eine Resignation, die jede kämpferische Haltung dominiert. Am Beispiel Michaels wird uns die Endlichkeit, die Bedrohung, die Verletzlichkeit und die Unwahrscheinlichkeit unserer (biologischen) Lebensgrundlagen drastisch vor Augen geführt. Trotz allen medizinischen Fortschritts ist es auch nunmehr nach drei Wochen noch nicht gelungen, einen erfolgreichen therapeutischen Ansatz zu finden, mit dessen Hilfe man seinen Zustand positiv beeinflussen könnte. Er liegt nach wie vor im künstlichen Koma, hat aufgrund einer bislang therapeutisch nicht beherrschbaren Infektion Fieber, und man verschiebt notwendige Maßnahmen von Woche zu Woche.

Den eigenen Zipperlein gegenüber wird man empfindlicher und aufmerksamer - alte hypochondrische Anflüge nehmen wieder zu. Es ist halt weniger denn je absehbar, dass auf die 56 Jahre noch 5, noch 10, 15, 20 oder gar 30 Jahre folgen. Und in Anbetracht der "komfortabel"-jämmerlichen Situation Leos stellt sich natürlich auch mehr denn je die Frage, ob dies wirklich wünschenswert ist - zumindest die Perspektive weiterer 30 Jahre.

Es stellt sich in diesem Kontext auch die Frage, was an dieser als "jämmerlich" bezeichneten Situation Leos hier Spuren hinterlassen soll? Natürlich kommt unverzüglich und zwangsläufig die eigene Auseinandersetzung mit Alter, Krankheit und Sterben zum Tragen! Die Demenz Leos schreitet merklich voran. Er reagiert noch auf Ansprache: Leo! Er erweckt den Eindruck, dass er noch ansatzweise einen persönlichen Bezug hat zu den bedeutsamen Anderen: Lisa, Claudia, Jupp, Kathrin; bei Laura und Anne steht dies noch mehr in Frage. Er hät biorhythmisch bislang einen 3 bis 4-Tage-Turnus ein, in dem er den WC-Stuhl zum Kacken noch annimmt, ab und zu auch zum "Schiffen" - sein favorisierter Begriff fürs Pinkeln. Gewindelt - dreimal am Tage - wird er seit gut einem Jahr. Im Großen und Ganzen ist er ein Braver, der eigentlich ganz im Gegensatz zu seiner aktiven Zeit, wenig Anteil nimmt an den Widrigkeiten und Widerständen des Lebens. Das ist überraschend und erleichtert uns die tägliche Versorgung; keine sexistischen Regungen - ohnehin keine Sexualität mehr. Der Austausch von Zärtlichkeiten (Berührungen, Streicheln und Küssen) beschränkt sich auf Claudia und mich - arme, verarmte Welt! Er hat einen überaus gesegneten Appetit und scheißt alle zwei bis drei, maximal vier Tage einen Eimer voll - gottseidank! Was er noch wahrnimmt und was noch in sein Bewusstsein eindringt, ist nicht zu ergründen und daher nicht zu sagen. Ich vermute, wenn er Herr seiner Sinne wäre und einen ausreichenden reflexiven Bezug zu sich selbst hätte und dies mitteilen könnte, dann würde er sicherlich sterben wollen. Aber dahinter werden wir nicht kommen. Und da er selbst keinen unmittelbaren Einfluss mehr nehmen kann, ist das auch eine müßige Anstrengung.

Um noch einmal auf die Zeit zwischen Ende Februar und Ende März zurückzukommen: Diese Wochen haben etwas zugelassen und (er-)lebbar gemacht, was an Leichtigkeit und Unbefangenheit in den letzten Jahren kaum eine Entsprechung findet. Dass dies schlagartig einer wieder zurückkehrenden Schwere gleicht, hängt sicherlich mit Leos und Michaels Entwicklung zusammen.

Aktuelle Einlassung vom 3.4.2016

Bei der Übertragung der sich auf Leo - im Übrigen auch der sich auf Michael - beziehenden Erinnerungen überkommt mich zunehmend ein Unbehagen. Die Frage, was authentische Erinnerung - im Sinne von Tagebuchaufzeichnungen - bedeuten kann, führt zu der grundsätzlichen Frage, was unsere Erinnerungen im Zeitfluss, im Übergang von Vergangenheit und Zukunft, also jeweils im Gegenwartsvollzug für einen Einfluss gewinnen? Je älter ich werde, um so atemloser kommen mir viele mit mir alternde Menschen vor - immer nur mit aufbrechender, vorwärtsgewandter Perpektive im Fokus; alles Besinnlich-Abschiedliche gerät ins Abseits und unter Tabuvorbehalt. Mehr als Tiere  v e r k ö r p e r n  wir nicht nur unsere eigene Geschichte (ontogenetisch ebenso wie phylogenetisch) und handeln instinktiv - sozusagen blind im Gewohnheitsmodus, sondern wir verheddern uns permanent in unauflöslicher selbstreferentieller Beschränktheit, im besten Fall auf dem Niveau bewusster und angestrengter (Selbst-)Reflexion. Unter diesem Anspruch steht zumindest dieses "Demenztagebuch" und vor allem die immer wieder vermerkten Durchschüsse im Sinne "Aktueller Einlassungen". Im Übrigen wird sich im Verlauf dieser Eintragungen noch zeigen, dass das weiter oben geäußerte Unbehagen zu Recht besteht - der Sterbenswille Leos lässt sich für mich im Fortgang der Pflege nicht zweifelsfrei erkennen; im Gegenteil, er wird allenfalls in den letzten Monaten und Wochen eine Rolle spielen.

Demenztagebuch vom 18.4.2008

Hat jemand eine Ahnung, gar Kenntnis davon, wie man mit traumatisierenden Ereignissen umgeht? Na klar, wer denn, wenn nicht ich? Die unglückliche, lebensbedrohliche Situation Michaels, die Auis- und Rückwirkungen in seine eigene Gegenwarts- und Herkunftsfamilie sind gegenwärtig lebensbestimmend und haben Einfluss bis in die Randzonen der Großfamilie/Sippe (um einen Begriff von Bert Hellinger zu bemühen). Michael ist mein Neffe, der einzige Sohn meiner Schwester. Er steht mir nahe. Ich gehöre zum Unterstützerkreis, um den "Schornstein am Rauchen und die Ärsche am Kacken zu halten" - so hat es Barbaras Vater anschaulich und drastisch formuliert. In den vier Wochen, die es nun dauert, war ich zweimal in Bonn. Ich sehe meine Grenzen und meine Begrenztheit: "Jeder hat sein Leben ganz zu leben!" (Rudi Dutschke) Ich auch! Ich/Wir haben uns unser Leben erdacht - auch erarbeitet, auch geschenkt bekommen. Wir gestalten es, und zwar teils hart am Wind des Möglichen und auch des Erträglichen. Unseren Lebensstandard, den haben wir teils ererbt - dafür zahlen wir im Übrigen einen Preis, der weder absehbar noch Gegenstand von Vereinbarung war; eher entspricht unser/mein Handeln Erwartungen und Erwartungserwartungen - jenseits einer hedonistischen Grundhaltung. Diese Erwartungen schießen die Pflege Leos ein im Sinne der Definitiion Dirk Baeckers, der in minimalistischer Absicht große Merkmalsprofile definiert, wenn es darum geht, "in der nächsten Gesellschaft" noch Anhaltspunkte dafür zu benennen, anhand derer man Familie identifizieren und erkennen kann:

"Man wird jedoch als Form der Bewältigung dieser Ungewissheit wissen, dass man es genau dann mit einer Familie zu tun hat, wenn man auf Leute stößt, die Verantwortung dafür übernehmen, wie der andere geboren wird, lebt und stirbt."

Da finde ich mich wieder, und da bin ich wohl unterdessen auch zum Kern meines Lebensgefühls/und -ziels vorgestoßen und zurückgekehrt. Und ich danke dafür, dass ich mit Claudia unterdessen 29 Jahre verbringen durfte, teils auf der Achterbahn des Lebens, aber bis auf eine kurze Phase der nachhaltigen und unausweichlichen Irritation, immer auf festen Schienen. Die Ruhe, Gelassenheit und Selbstüberwindung, angestoßen und geschult im Heidelberger Kontext (IGST), haben hier etwas möglich gemacht, was David Scharch - für die meisten kaum nachvollziehbar - als "natürlichen Adel der Ehe" begreift, die, wenn sie zu Ende gelebt wird, ein Höchstmaß an Differenzierung ermögliche bzw. hervorbringe.

Demenztagebuch vom 22.4.2008

Gestern ist Leo 84 geworden - vermutlich hat er davon nicht allzuviel mitbekommen. Wir haben ihn gegen 14.00 Uhr aus dem Bett geholt und dann bis ca. 15 Uhr gemeinsam Kaffee getrunken. Dann hat Leo - mehr schlafend als wach - die Zeit verschlafen. In der Regel machen wir es inzwischen umgekehrt: Leo geht morgens, nach der Morgentoilette, in seinen WC-Sessel (da findet er guten Halt) und nimmt - sofern es die Tagesverfassung zulässt -so auch das Mittagessen ein. Gegen 14 Uhr ist Mittagstoilette. Danach geht Leo ins Bett. Die "Wechseldruckmatratze" erlaubt eine optimale Pflege. Abends wird er von mir und/oder Katazcyina frisch gemacht.

Aktuelle Einlassung vom 6.4.2016

Wir hören nie auf zu lernen - auch, wenn wir uns vergessen! Viele reden vom sogenannten Pflegenotstand; wir auch. Wir waren nicht zufrieden mit der Unterbringung Lisas in einem Seniorenstift. Wie in der Schule reicht der Personalschlüssel nicht für eine optimale Betreuung und Versorgung - man kann sich ja auch fragen, wovon man des nachts träumt. Bei uns zu Hause besteht das Personal aus Claudia, meiner Wenigkeit, Laura und Anne (die natürlich in einem eigenen Leben ihr Frau stehen müssen) - und dreimal die Woche von 9.30 bis 13.00 Uhr unsere Hilfe. Und was macht Lisa? Sie häkelt wieder, sie schaut viel fern - mit Hörhilfe, mit deren Hilfe wiederum eine 92jährige auch mit uns sehr viel effektiver (vom Hörverstehen her) kommunizieren kann. Wir haben eine einzige/einzigartige Chance jemanden des Jahrgangs 1923 (meine Mutter - 1924er, mein Vater -1922er und Leo 1924er Jahrgang) zu erleben, uns mit ihm zu unterhalten, ihn zu befragen: Heute Morgen (16.4.2016), z.B. am Frühstückstisch: Da gab es von Seiten Lisas die Bemerkung: "Es ist gut, dass man sich nicht mehr an alles erinnern kann!" Woran sie sich wohl erinnert hat, und was sie zu dieser Feststellung veranlasst hat, ließ sich nicht ergründen. Claudia versuchte dann Erinnerung wachzurufen durch die Frage, an welche Frauen sie sich denn erinnere - vor allem übers Tennis, und ob es irgendjemanden gebe, zu dem sie eine Freundschaft unterhalten habe? Tabula rasa! Dann mühsames herantasten über Namen. Lisa ist froh bei uns zu sein, dass sie sich und uns noch kennt.

Aktuelle Einlassung vom 31.10.2016

Liebevolle Fürsorge bringen wir unseren Kindern entgegen. Und wir haben angenommen, dass sich dies auch auf unsere alten Eltern überträgt. Im Großen und Ganzen haben wir es auch genaus so erlebt und praktiziert. Inzwischen stoßen wir an Grenzen. Die Integration Lisas - meine Schwiegermutter - in den eigenen Haushalt findet mehr und mehr ihre Grenzen. Diese Grenzen ergeben sich aus einem vielfältigen Kontext:

Es zeigt sich, dass es zwischen Mutter und Tochter viele alte Rechnungen gibt, die nun wieder in der Buchhaltung landen. Die Mutter, die ihr Leben bewusst und strategisch auf einer untersten Stufe sozialer Kontakte organisiert hat, hat jedes Gefühl für Takt und Distanz verloren. Im Alter von 93 Jahren ist dies in keiner Weise mehr kommunikabel, sondern drängt sich in den Alltag durch ihre besondere Art die Welt zu sehen und zu gestalten. Unsere sonntäglichen Zusammenkünfte enden immer öfter in offenen Konflikten, weil Lisa Kommunikation nicht mehr auf Augenhöhe erlebt und gestalten kann. Dies führt partiell zu bösartigen Konfrontationen, bei denen vor allem Claudia und Anne im Mittelpunkt stehen. Auch der Versuch, diese Konflikte in ruhigen Phasen anzusprechen und zu heilen gehen ins Leere. Man tröstet sich damit, dass Lisa natürlich normale soziale Prozesse - oder auch nur Gewohnheiten - nicht mehr angemessen einzschätzen vermag und dadurch in ihren Kommentaren, Urteilen und Bewertungen verletzend wirkt - vor allem auf Menschen, die sie nicht alltäglich erleben und ihre Reaktionen insofern nicht verstehen bzw. einordnen können. Auf diese Weise gehen wir mehr und mehr in eine Vermeidungshaltung, laden tagsüber keine Freunde mehr ein, sondern müssen dies auf die Abenstunden beschränken.

Eine Konseqenz daraus muss entweder sein, sie nun tatsächlich stärker auf ihr Zimmer zu verweisen; oder aber ihr eine Heimunterbringung in Aussicht zu stellen. Die Kernbeziehung - Mutter - Tochter - war offensichtlich von Anfang an nicht dazu geeignet, Pflege und Betreuung zu Hause zu organisieren. Meine Schwiegereltern haben ihr Leben gelebt - jenseits ihrer Herkunftsfamilien und, solange dies möglich war, zentriert um ihre ureigensten Interessen. Wären da nicht die drei Jahre, in denen sich Lisa um Laura und Anne gekümmert hat, hätte Claudia die Heimunterbringung vermutlich bereits vollzogen.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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