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Kopfschmerzen und Herzflimmern – Talk im Hahn über Liebe, Sex und solche Sachen: Der größte Mythenentzifferer unserer Zeit erzählt uns von der Liebe – Roger Philippe und Adrian Nemo im Gespräch mit Roland Barthes und Gästen

Das folgende fiktive Gespräch im Café Hahn "fand im Jahre 2005 statt" und führt eine Reihe von "Experten" zusammen, die sich über die Liebe unterhalten. Dazu gehören an erster Stelle Roland Barthes, ein französischer Intellektueller, der dem Playboy 1977 ein Interview zu seinem Kultbuch "Fragmente einer Sprache der Liebe" gegeben hat. Zu diesem Gespräch, das weitgehend im Wortlaut wiedergegeben wird, haben Adrian und ich weitere Experten "eingeladen", so Niklas Luhmann, Peter Fuchs, Peter Sloterdijk und Susanne Gaschke. Moderiert und "inszeniert" wird all dies von Adrian Nemo, den ich immer dann an die Diskursfront schicke, wenn mir selbst der Boden zu heiß ist. Der folgende Text bildet das Kernstück meines 2005 erschienenen Buches: "Kopfschmerzen und Herzflimmern: Talk im Café Hahn über Liebe, Sex und solche Sachen". Das gesamte Buch kann man sich über den vorstehenden Link verfügbar machen. Es enthält neben dem hier wiedergegebenen Text vor allem noch die anregendtheen Aphorismen von Adam Phillips ("Monogamie, aber drei sind ein Paar") sowie einige andere bildhaft wiedergegebene Anregungen zum Thema. Unter dem Link "Experten-Interviews" könnt ihr euch theoretische und praktische Überlegungen zur Paartherapie zugänglich machen.

Ein kleiner Appetithappen vorweg, um neugierig zu machen:

Niklas Luhmann zum Umgang mit "Aufrichtigkeit":"Die Aufrichtigkeit wird in der Kommunikation unter Liebenden eindeutig wieder stärker betont. Und dabei geht es durchaus um mehr als nur Aufrichtigkeit in Bezug auf die Differenz von „wahrer Liebe“ und bloßer Verführung; es geht um ein schlichtes rezeptfähiges Prinzip, das dreihundert Jahre Einsicht in den unauflöslichen Zusammenhang von Aufrichtigkeit und Unaufrichtigkeit im Aufbau menschlicher Existenz und in der Entwicklung von Liebe bei Seite schiebt. Denn ganz abgesehen davon, ob der, den man liebt, es einem überhaupt erlaubt, alles zu sagen, was man zu sagen hat: Soll man aufrichtig sein auch in Stimmungslagen, die ständig wechseln? Soll der andere wie ein Thermometer an die eigene Temperatur angeschlossen werden? Vor allem aber: Wie soll man jemandem gegenüber aufrichtig sein, der sich selbst gegenüber unaufrichtig ist? Und ist schließlich nicht jede Existenz eine unfundierte Projektion, ein Entwurf, der Stützen und Schutzzonen der Unaufrichtigkeit braucht? Kann man überhaupt eigene Aufrichtigkeit kommunizieren, ohne allein schon dadurch unaufrichtig zu werden? Ja, und wenn auch einige, oder die Überzahl der Therapeuten, dies nicht sehen kann, ein systemisch inspirierter Paradigmenwechsel würde nicht zuletzt auch den therapeutischen Bemühungen neue Perspektiven eröffnen. Denn der Einfluss der Therapeuten auf die Moral (und der Moral auf die Therapeuten) ist zwar einerseits schwer abzuschätzen, sicher aber zu fürchten. Er setzt die labile Gesundheit, die heilungsbedürftige Verfassung des Einzelnen an die Stelle der Liebe und entwickelt für Liebe dann nur noch die Vorstellung einer wechselseitigen Dauertherapierung auf der Basis einer unaufrichtigen Verständigung über Aufrichtigkeit."

 

Vorbemerkung (von Josef)

„Fragmente einer Sprache der Liebe“ – mit diesem Buch wagte sich in den siebziger Jahren einer der „größten Mythenentzifferer unserer Zeit“ auf den Buchmarkt. Ein vergessenes Buch? Ich weiß es nicht. Wer ist Roland Barthes? Ein Semiologe, eine Essayist, ein Kritiker, „der größte Mythenentzifferer unserer Zeit“!? Was ist unsere Zeit? Heute – während ich hier an meinem Laptop sitze – schreiben wir (noch) das Jahr 2004, Anfang Juni, den 7. Juni, nachmittags gegen 17.00 Uhr; und von dem Buch, das ich schreiben will, sind noch nicht einmal Umrisse zu erkennen. Roland Barthes erlitt 1980 einen, nein seinen Unfalltod. 1977, drei Jahre vor seinem Tod, gab er dem „Playboy“ ein Interview zu seinem damals erschienenen Buch „Fragmente einer Sprache der Liebe“. Roland Barthes war damals 62 Jahre alt. Der Playboy seinerseits bat Philippe Roger, „einen Spezialisten der Libertinage“, Roland Barthes zu befragen. In der Interviewsammlung „Die Körnung der Stimme – Interviews 1962-1980“ (Suhrkamp 2002), wird dieses Gesprächsprotokoll überschrieben: „Der größte Mythenentzifferer unserer Zeit erzählt uns von der Liebe“ (S. 316-331). Die Einleitung zu diesem Interview kolportiert, dass die Bücher Roland Barthes’ „ein außergewöhnliches Schicksal erlebt haben: sie sind innerhalb weniger Jahre zu Klassikern geworden, nachdem sie zunächst wie Pamphlete oder Provokationen gewirkt hatten“. Und: „Kaum ins Collège de France (den Wissenschaftsolymp der Grande Nation, Anm., Verf.) gewählt, wird Roland Barthes rückfällig. Sein neuer Skandal? Er spricht nun von Liebe. Und in einer Zeit, in der die Sexualität (sogar die Pornographie) Geld bringt, stürzen sich alle auf sein Buch Fragments d’un discours amoureux (Fragmente einer Sprache der Liebe). Roland Barthes, der auch ein Système de la mode geschrieben hat, könnte gut einer von denen sein, die sie heute machen – die Mode von morgen natürlich.“

„Morgen“ ist heute. „Heute“ ist natürlich gestern. „Gestern“, im Februar 2004, bin ich – Josef – auf dieses Interview aus dem Jahr 1977 gestoßen. Auf der Zeitachse markiert Roland Barthes ein Ereignis, einen „Skandal“, indem er uns von der Liebe erzählt. 1977, Roland Barthes war 62 Jahre alt, ich war 25 Jahre alt. „Heute“, im Juni 2004, ist Roland Barthes seit 24 Jahren tot, und ich bin 52 Jahre alt (und aktuell, sozusagen "gegenwärtig" - bei der Präsentation des Interviews in meinem Blog - bin ich 62 Jahre alt , so alt wie Roland Barthes 1977). Und Roland Barthes holt mich ein, nein, er lädt mich ein. Er lädt mich ein zu schauen, was der „größte Mythenentzifferer unserer Zeit“ uns, mir anzubieten hat hinsichtlich der Sinnentzifferung in den Irrungen und Wirrungen, die uns die Liebe bereitet. Nein, ein „Pamphlet“ sind die „Fragmente“ nicht, eher schon eine Provokation. Ja, Roland Barthes spekuliert beispielsweise in diesem Interview auch über die Befindlichkeit viel Jüngerer, über ihren Umgang mit Zuständen der Verliebtheit, der Eifersucht. Und daraus entsteht nicht nur ein Spiegel, in dem man möglicherweise seine eigenen Irrungen und Wirrungen entziffern könnte, nein es entsteht eine Projektionsfläche, in die man zu den Einsichten Roland Barthes die eigenen Einkerbungen vornehmen kann, mit denen man unabdingbar sich selbst und der Welt Gestalt gibt, in der man spurt und kreuzt und kommuniziert. So z.B. in: "Ich weiß es noch" oder in: "Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete..."

Apropos: kommuniziert. Roland Barthes ist tot, genauso wie Niklas Luhmann, ein anderer großer Mythenentzifferer des 20. Jahrhunderts. Zwei Jahre nach dem Tod Roland Barthes veröffentlichte Niklas Luhmann seine soziologische Studie „Liebe als Passion – Zur Codierung von Intimität“. Ich habe mir überlegt, Niklas Luhmann genauso wie Roland Barthes einzuladen, jetzt im Juni des Jahres 2004. Ich lade sie ein, uns zu erzählen über die Liebe und die Verliebtheit. Und ich tue mir wohl dabei, indem ich ihnen ein Stück weit folge in der Entzifferung einer der faszinierenden Menschheitsmythen. Aber die Entzifferung allein hat mich nie interessiert. So sehr ich ihren Worten lauschen werde, so sehr werde ich den Mythos bestätigen. Ja, ich werde mich sogar ausschließlich darauf beschränken, indem ich mir eine Empfehlung des hoch verehrten Niklas Luhmann zu Eigen mache: „Ich denke manchmal, es fehlt uns nicht an gelehrter Prosa, sondern an gelehrter Poesie… Vielleicht sollte es für anspruchsvolle Theorieleistungen eine Art Parallelpoesie geben, die alles noch einmal anders sagt und damit Wissenschaftssprache in die Grenzen ihres Funktionssystems zurückweist (Soziologische Aufklärung III, 176f.)." Darum will ich mich gerne bemühen, wobei für die gelehrte Poesie Hans Magnus Enzensberger den Raum auf eine so unvergleichliche Weise markiert hat (zum Bespiel mit seiner "Geschichte der Wolken"), dass ich mich hier bescheiden möchte und auf den gelehrten Gestus der Poesie mehr oder weniger verzichte und dafür mit lyrischen Figuren die authentischen Seismogramme eines Seelenlebens in kommunizierbare, das heißt lesbare Choreographien übersetze.

Roland Barthes und Niklas Luhmann; auf deren Schultern zu stehen und den Mythen unter den Rock zu schauen birgt einen verführerischen Reiz. Da sollte mit Peter Sloterdijk einer nicht fehlen, der uns neben der Kunstsprache, in der sich das Theoriegebirge eines Niklas Luhmann auftürmt, die etymologischen Orkane einer ebenso unvergleichlichen Sprachmächtigkeit vergönnt (siehe dazu die Peter Soterdijk entlehnte "Luhmannsche Lektion"). Wenn wir bei der ein oder anderen Flasche Moselriesling aus Winninger oder Gülser Lagen oder einem kühlen Bier beisammensitzen, werden andere Gäste hinzukommen, die diese Runde bereichern. Zeichnen sich doch im journalistischen Tagesgeschäft, in der populären Literatur sowie in der therapeutischen Szene höchst amüsante, anregende und teils irritierende „Versuche über die Liebe“ ab. So gibt es in unserer Runde immer einen freien Stuhl für Alain de Botton und Susanne Gaschke und Arnold Retzer. Adrian Nemo wird mich begleiten als Alter Ego. Als Moderator und Interviewer wird er die Gespräche moderieren und dabei so seine eigenen Erfahrungen machen.

Den Takt und den roten Faden geben dabei Roland Barthes und Philippe Roger vor. Nach dem Motto Konsens ist Nonsens kann aber jeder meiner Gäste jederzeit das Wort nehmen, um eigene Akzentuierungen einzubringen. Ich selbst werde mich, wie gesagt, auf die „Parallelpoesie“ beschränken.

Das Interview, wie der gesamte Abend, findet in Koblenz-Güls im Café Hahn statt und zwar vornehmlich in der kleinen Kneipe, die sich "Biwel" nennt und die sich vorzüglich eignet, in einer etwas ruhigeren Atmosphäre bei gepflegten Getränken, freundlicher Bedienung, abseits von der Hauptbühne auch tiefschürfende Gespräche zu führen. Obwohl hier hauptsächlich ein älteres, gesetztes Publikum verkehrt, finden und fangen sich hier zuweilen auch Blicke und man könnte vermuten, dass selbst Verliebte manchmal hier verweilen oder dass Menschen gar von Anflügen der Verliebtheit ereilt werden. Einen diskreten, eher schon an die Qualitäten eines Barkeepers erinnernden Service garantieren hier Philipp (ja, damal im Jahr 2004 war das tatsächlich noch Philipp Paasch), Marco oder Herbert, ab und zu unterstützt von der allgegenwärtigen und überaus präsenten Rebecca und anderen lebendigen, ganz und gar nicht körperlosen Geistern, die stets um das Wohl der Gäste bemüht sind. Die Gäste sitzen auf bequemen Barhockern. Über der im Dreieck angeordneten Theke befindet sich im Winkel ein Fernseher, der die Events aus dem Innenraum des Clubs überträgt, über den auch mediale Kontakte zur Außenwelt jederzeit möglich sind.

Anwesend sind zunächst Philippe Roger, Roland Barthes und Adrian Nemo. Am frühen Abend – gegen 19.00 Uhr an einem lauen Frühsommerabend – finden sich erst spärlich Gäste ein. Philippe Roger und Adrian Nemo befragen Roland Barthes zu seinem Buch „Fragmente einer Sprache der Liebe“:

Philippe Roger:   Roland Barthes, Sie haben gerade ein Buch mit dem Titel „Fragments d’un discours amoureux“ veröffentlicht. Erweckt das eigentlich einen seriösen Eindruck, wenn man Professor am Collège de France ist?

Roland Barthes:   Nein, das stimmt. Wenn ich gesagt oder geschrieben hätte: „das Liebesgefühl“, dann hätte das schon ernsthafter geklungen, weil es auf etwas Wichtiges innerhalb der Psychologie des 19. Jahrhunderts angespielt hätte. Das Wort „Liebe“ – „amour“ – aber wird von allen benutzt, es findet sich – wie jeder weiß – in jedem Lied, um sich auf „immer“ – „toujours“ zu reimen. Nun also einfach so von Liebe zu sprechen, wirkt natürlich nicht seriös.

Adrian:   Lieber Roland Barthes, ist dies nicht der besonderen Ambivalenz zu schulden, mit der die französische Öffentlichkeit ihre Intellektuellen beobachtet? Und kann Ihnen das nicht gewissermaßen scheißegal sein, drei Jahre vor ihrem Tod?

Roland Barthes:   Nun ja, Sie wissen ja, dass ich 1980 durchaus unfreiwillig aus dem Leben geschieden bin und schon allein aus diesem Grund eher in die Rolle eines Klassikers gerate, der nicht mehr satisfaktionsfähig ist. Aber freilich ist mir das heute schnuppe. In den „Mythen des Alltags“ (Suhrkamp 1964, 151) habe ich eingeräumt, dass wir über ein unstabiles Erfassen des Realen nicht hinausgelangen, dass wir unaufhörlich zwischen dem Objekt und seiner Entmystifizierung hin- und hergleiten, unfähig, seine Totalität wiederzugeben. Wenn wir das Objekt durchdringen, befreien wir uns, aber zerstören es, und wenn wir ihm sein Gewicht belassen, achten wir es zwar, aber geben es mystifiziert wieder.

Philippe Roger:   Ist es vielleicht deshalb ein sehr persönliches Buch, vielleicht ihr persönlichstes, in dem dieser Balanceakt zwischen Entzauberung und Bewahrung seine eindrücklichste Form gewinnt? Oder denken Sie einfach, dass sich Liebe in ihrer möglichen Entzauberung einfach überholt hat?

Roland Barthes:   Ja, zweifellos. Die Liebe ist in den intellektuellen Kreisen aus der Mode gekommen. Vom Standpunkt der „Intelligentsia“ aus, jenem intellektuellen Milieu, dem ich angehöre, in dem ich lebe, von dem ich mich nähre… und das ich liebe, hatte ich das Gefühl, eine ziemlich aus der Mode gekommene Schreibhandlung zu begehen.

Philippe Roger:   Und außerhalb dieses intellektuellen Milieus?

Roland Barthes:   Es gibt zweifellos auch ein volkstümliches Gefühl, das sich in Bemerkungen, Scherzen und Anzüglichkeiten ausdrückt. Sie werten den verliebten Menschen ab, der mit einem Mondsüchtigen, einem Verrückten verglichen wird. Doch muss man sagen, dass die ungeheuren Abwertungen, die die Liebe erleidet, ihr gerade von den „theoretischen Sprachen“ auferlegt werden. Entweder sie reden von ihr überhaupt nicht, wie die politische, die marxistische Sprache. Oder aber sie reden scharfsinnig von ihr, doch auf eine abwertende Weise, wie die Psychoanalyse.

Adrian:   Ja, Roland Barthes, ich hätte Ihnen gerne noch zwanzig Jährchen vergönnt, oder doch zumindest drei oder vier. So konnten Sie leider nicht mehr miterleben, wie sich Niklas Luhmann der Liebe mit dem Sezierbesteck der Systemtheorie annimmt und „Liebe als Passion“ (Suhrkamp 1982) kreiert. Manche sagen, es sei Luhmanns schönstes Buch. Sie erinnern sich, nein wie könnten Sie – aber viel-leicht beobachten Sie es ja aus einem metaphysischen Olymp –, dass der Suhrkamp-Verlag Ihre Interviewsammlung auf dem Buchrücken mit einem Ausdruck Ihres Landsmannes Claude Lévi-Strauss ziert, wonach alles Geschriebene „sinnbedürftig“ sei. Und weiter, dass dies – bei Gott – nicht heißen soll, dass die Produktion von Texten einfach bedeutungslos sei. Nein, sie ist schlicht sinnbedürftig: „Es gibt keinen Sinn, aber es gibt so etwas wie einen Traum von Sinn.“ Ich kann mir jedenfalls gut vorstellen, dass die Sinndeutungen Niklas Luhmanns auch aus Ihrem Blickwinkel von Interesse gewesen wären. Aber wir erwarten ihn ja noch im Laufe des Abends.

Philippe Roger:   Nun gut, sei’s drum. Aber jetzt mal Butter bei die Fische: Worin besteht denn, verehrter Roland Barthes, jene „Abwertung“, die die Liebe heute erleidet?

Roland Barthes:   Die leidenschaftliche Liebe – von der ich spreche – ist nicht „gut angesehen“; man betrachtet sie als eine Krankheit, von der man geheilt werden muss, man schreibt ihr keine bereichernde Kraft mehr zu wie früher.

Philippe Roger:   Und wer ist nun heute jener „abgewertete“ Verliebte, wenn man ihn nicht mehr am „Wertherkostüm“, dem blauen Anzug und der gelben Weste erkennt? Woran erkennen Sie ihn?

Roland Barthes:   Fast möchte ich hinterlistig sagen, dass ich das Buch geschrieben habe, um ihn erkennen zu können! Um Briefe und Bekenntnisse zu erhalten, die mir jetzt die Annahme erlauben, dass es weit mehr verliebte Menschen gibt, als ich dachte…

Philippe Roger:   Und wenn er Ihnen nicht schreibt?

Roland Barthes:   Äußerlich ist er nicht zu erkennen. Denn im heutigen städtischen Leben existiert keine einzige der Posen des Liebespathos mehr.

Philippe Roger:   Mit diesen „Posen“ meinen Sie zum Beispiel die Balkonszene? „Julia wohnt im fünfundzwanzigsten Stock, es gibt keinen Romeo mehr…“ So hieß es kürzlich in einem Anti-Liebeslied.

Roland Barthes:   Genau. Die Balkonszene gibt es nicht mehr. Doch man kennt nicht einmal mehr die Morphologie der Züge des Verliebten, seine Ausdrucksformen, seine Mimik; während ihn im 19. Jahrhundert tausende von Lithographien, Gemälden und Stichen darstellten. Somit kann man einen Verliebten auf der Straße nicht mehr er-kennen. Wir sind von Wesen umgeben, von denen wir nicht wissen können, ob sie verliebt sind. Wenn sie es nämlich sind, kontrollieren sie sich ungeheuer.

Adrian:   Also, mein lieber Roland Barthes. In diesem kleinen Büchlein, auf den Seiten 191-201, können Sie – pardon, Sie können ja nicht, aber wer wüsste das schon wirklich? – nachlesen, was ein junger Mann, just um die Zeit als Sie dieses Interview geben, an Balkonakrobatik und mehr solcher Verrücktheiten vollzieht, um das Herz seiner Geliebten zu erobern. Und einen mehr oder weniger morphologisch eindeutig trübe, verklärten Blick haben ihm viele seiner Bekannten seinerzeit auch nachgesagt. Andererseits, das mit der Kontrolle ist nicht von der Hand zu weisen.

(Niklas Luhmann und Peter Fuchs haben vor einigen Minuten die Biwel betreten, an der Theke Platz genommen und die letzten Bemerkungen von Roland Barthes aufmerksam verfolgt. Noch ein wenig später betreten Susanne Gaschke und Michael Mary den Raum und setzen sich an einen der Wandtische.)

Adrian:   Aber jetzt will ich doch erst einmal Niklas Luhmann begrüßen und ihm danken, dass er Peter Fuchs hat überreden können, gleich mitzukommen. (Adrian begrüßt Niklas Luhmann und Peter Fuchs.)

Peter Fuchs (sprudelt gleich los):   Also, wer verliebt ist – und dies auch noch mit der Aussicht auf Gegenliebe – der will das auch aller Welt zeigen, nach dem Muster: „Wir zwei/Rest der Welt“ – und für eine bestimmte Zeit ist das Intimsystem, das zwei Verliebte bilden, hoch empfindlich gegen Korrekturversuche, die aufklärerisch oder vernunft-orientiert sind. Die ganze Verrücktheit, die man der Verliebtheit zuschreibt, an der man sie erkennen soll, der befristete Wahnsinn, für den man sie hält, ist der deutliche Effekt einer kommunikativen Struktur, die in die Tiefe der Person hineinrechnet, um sie zur Gänze zu erreichen, um sie als EINS konstruieren zu können. Der Wahn der Liebe ist mithin alles andere als wahnsinnig, er ist systematisch oder, wenn sie so wollen, systemisch. Die Psychen, die aus solcher Kommunikation abtropfen, haben sich sozusagen dieser Form anbequemt, sie sind akkomodiert, und ihr Problem besteht dann unter Umständen darin, dass die Umwelt das Intimsystem im aufklärerischen Displacement beobachtet und fragt: Wovon wollt ihr euch ernähren?

Adrian:   Also, lieber Peter Fuchs, jetzt mal langsam und Schritt für Schritt: Die Liebenden als soziales System mit der Neigung oder gar der Leichtigkeit des Zwangs, die Differenzen, die Kommunikation operativ erst begründen und in Gang halten, gegen null zu fahren – oder, wie Sie so anschaulich sagen, als Begründer einer sozialen Struktur, „die in die Tiefe der Person hineinrechnet, um sie zur Gänze zu erreichen, um sie als EINS zu konstruieren“, das ist doch nur die eine Seite. Wie kommt man denn überhaupt dahin??? Wie geht das zusammen mit Roland Barthes’ Behauptung, wir seien von Wesen umgeben, von denen wir nicht wissen können, ob sie verliebt sind? Wenn sie es nämlich sind, so sagen Sie ja, lieber Roland Barthes, kontrollieren sie sich (zuweilen) ungeheuer.

Peter Fuchs:   Ich habe ja von Verliebten gesprochen und freilich unterstellt, dass sie aller Welt ihre Liebe auch mitteilen wollen. Natürlich gibt es diesseits und jenseits der singulären Situation der Verliebtheit Wege dort hinein und auch Wege dort hinaus. Und keine andere Theorie vermag so überzeugend und plastisch zu zeigen, was Bewusstseinszustände, also psychische Dispositionen und Sehnsüchte, unterscheidet von der offensiven kommunikativen Markierung sozialer Systemqualitäten, wie sie sich im Zustand der Verliebtheit manifestieren; und selbstverständlich gibt es unendlich viele gute Gründe, mit der eigenen Verliebtheit weder als Verliebter bzw. Verliebte noch als Verliebte hausieren zu gehen.

Adrian:   Können Sie das vielleicht einmal an einem Beispiel erklären?

Peter Fuchs:      Also gut, das ist sicherlich nicht einfach und ich muss sozusagen ein paar grundsätzliche Zusammenhänge erschließen, bevor wir die Sache der Verliebten weiter verhandeln können. Ich führe zunächst einmal die Unterscheidung von „Innen“ und „Außen“, oder mit anderen Worten von „Bewusstsein“ und „Kommunikation“ ein, um vor allem die Idee der „vollständigen Abgeschlossenheit“ deutlich zu machen. Uns allen leuchtet vermutlich ein, dass es sich bei der Art von Operationen, die ein Bewusst-sein vollzieht, um Gedankenprozesse handelt: die Reproduktion von Gedanken durch Gedanken in einem Netzwerk von Gedanken. Und das Bewusstsein ist dann nichts anderes als eine Gedankenfabrik, in der alles was vorkommt, die ganze Unendlichkeit des Vorstellbaren, nur als Gedanke erscheint. Als Bewusstseinssystem ist es in dieser Hinsicht geschlossen. Nur in ihm gibt es Gedanken, diese besonderen Operationen, und was nicht als Gedanke erscheint, existiert nicht für das System. Meinen Studenten erkläre ich die Vorstellung, dass sich Bewusstsein in Abgeschlossenheit ereignet, meist so, dass wir im Hörsaal ja häufig 150 oder 200 Leute sind, hinter deren Stirnen, in deren Schädelkalotten Bewusstseine ihr Unwesen treiben. Aber niemand unter uns schaut durch die Schädelwände irgendeines anderen hindurch. Es wäre ja auch ein Unding, wenn wir fürchten müssten, jemand könnte unser Bewusstsein lesen. Ich glaube, wir würden unentwegt erröten oder müssten gar vor Scham sterben, selbst dann, wenn wir in der Beschreibung eines anständigen oder heute politisch korrekten Menschen entsprächen. Wäre jemand intern so, wie es jene externe Beschreibung verlangt, dann müsste er eigentlich ein verdammt langweiliger Mensch sein, der all die Genüsse nicht kennt, die man daran erkennt, dass man sie verschweigen muss.

Adrian:   Aber Verschweigen ist doch auch ein kommunikativer Akt – oder?

Peter Fuchs (lächelt):   Ganz schön spitzfindig, mein Lieber! Spuren im sozialen System im Sinne von Kommunikation hinterlässt aber definitiv nur das, was über die Rampe unserer Stimmritze dringt, und zwar vernehmbar über unsere Stimmritze dringt, nämlich so, dass ein anderer daran anzuschließen vermag. Ein soziales System lässt sich nämlich analog verstehen zum Bewusstseinssystem; als ein System, das Kommunikationen in einem Netzwerk von Kommunikationen produziert – und sonst nichts! Und wie beim Bewusstsein ist deshalb klar, dass alles, was in einem sozialen System vorkommt, kommunikationsförmig vorkommt – oder eben nicht. Es gibt z.B. in der Gesellschaft keinen sterbenden Wald, kein Ozonloch, keine Claudia Schiffer, keine Barbie-Puppen, keine Hunde, keine Katzen, keine Menschen, keine Verliebten, kein je t’embrasse – es sei denn: als Thema von kommunikativen Operationen. Freilich offenbart sich das Lieben – darauf werden wir sicher später noch Gelegenheit haben einzugehen – nicht nur im schlichten „Sagen“ allein, sondern bezieht sich auf jeden als Kommunikation deutbaren Anschluss: Blicke, Auslassungen, Berührungen etc.

Adrian:   Aber immer qualifiziert sich Kommunikation – und zweifelsfrei „liebende Kommunikation“, wenn ich das so sagen kann – durch wechselseitig passende Anschlüsse. Ich erinnere mich, dass Sie, verehrter Niklas Luhmann, argumentieren, dass Kommunikation immer zur Zuspitzung der Frage führe, ob beispielsweise die mitgeteilte und verstandene Information angenommen oder abgelehnt wird. Und dass wir uns unter dem Aspekt der wechselseitigen Anschlussfähigkeit immer nur damit begnügen können, zu sagen, was wir denken. Ob unsere Bemühungen erfolgreich waren oder nicht, erfahren wir demnach immer nur im vollzogenen oder nicht vollzogenen kommunikativen Anschluss.

Niklas Luhmann: Ja, nur Kommunikation kann Kommunikation beeinflussen; nur Kommunikation kann Einheiten der Kommunikation sozusagen dekomponieren, zum Beispiel den Selektionshorizont einer Information analysieren oder nach Gründen fragen für deren Mitteilung. Und nur Kommunikation kann Kommunikation kontrollieren und auch „reparieren“. Wie man sehen kann, ist vor allem die reflexive Dimension von Kommunikation ein außerordentlich aufwändiges Verfahren. Man kann nicht immer genauer und immer genauer nachfassen. Irgendwann, und ziemlich schnell, ist der Grenznutzen der Kommunikation erreicht oder die Geduld – das heißt die Belastbarkeit der psychischen Umwelt – erschöpft. Oder das Interesse an anderen Themen oder anderen Partnern drängt sich vor. Aber dies ist lediglich eine Typisierung, die über Kommunikation zwar nicht prinzipiell hintergehbar ist, die sich aber doch im Einzelfall durchaus sehr unterschiedlich darstellt. Ich räume gerne ein, dass Liebende unermüdlich miteinander reden können, weil alles Erlebte mitteilenswert ist und kommunikative Resonanz findet. Nüchtern, in der Begriffswelt der Systemtheorie formuliert, wird man das, was gemeint ist, am ehesten als „hohe zwischenmenschliche Interpenetration“ auffassen können. Das heißt nichts anderes, als dass Personen im Verhältnis zueinander die Relevanzschwelle mit der Folge senken, dass das, was für den einen relevant ist, fast immer auch für den anderen relevant ist.

Peter Fuchs:   Na, klar, der werte Kollege Hartmann Tyrell hat dies unter dem Stichwort „Höchstrelevanz“ bearbeitet. Damit können wir aber auch sehen, dass es nicht um die Bedeutsamkeit irgendeines Details am anderen geht, sondern um den Zusammenhang aller Details, also um die EINS des anderen. Und dies im Sinne einer sozialen Konstruktion, die die Berücksichtigung, das Management wechselseitiger Höchstrelevanz ermöglicht. Und lassen Sie mich das noch – sozusagen die ganze daran anschließende Problematik vorwegnehmend – anmerken: So können, nein so müssen wir die moderne Liebe als eine Art soziales Experiment auffassen, das auf den Verlust der EINS – der ein für alle Mal gegebenen und unantastbaren Identität – reagiert. Plötzlich geht es um die Totalität des anderen, und wie wir bald sehen werden, in schamloser Rigidität und auf seltsame Weise zu einem Scheitern verurteilt, das sich selbst gratifiziert.

Philippe Roger:   Das erinnert mich doch merkwürdig präzise an eine mich damals schon irritierende Sichtweise, mit der Sie, Roland Barthes, diesen Totalitätsgedanken als Rettung einer auf Dauer unhaltbaren Situation in Erwägung ziehen. Ihrem Verliebten steht das „geliebte Objekt“ gegenüber. Warum dieser merkwürdige Ausdruck des „geliebten Objekts“?

Roland Barthes:   Also, einmal abgesehen von dem prinzipiellen Grund, dass sich das Liebesgefühl nicht mehr nach Geschlechtern unterscheiden lässt (Roland Barthes fixiert mit einem merkwürdig intensiven Blick Philipp, den Barkeeper, und bittet um einen Café crème.), bin ich einfach davon überzeugt, dass, wie es sich in der zuletzt von Peter Fuchs angedeuteten Sichtweise anbietet, „Objekt“ das einzig richtige Wort ist, weil es die Entpersonalisierung des geliebten Objekts anzeigt.

Philippe Roger:   Ihrer Meinung nach liebt man nicht die „Person“ des anderen?

Roland Barthes:   Ich glaube hierin liegt das große Rätsel des Liebesgefühls. Denn jenes aller Personalisierung beraubte Objekt wird gleichzeitig zur Person schlechthin, die mit keiner anderen zu vergleichen ist. (Philipp, der Barkeeper, serviert Roland Barthes den Café crème – ihre Blicke treffen sich und Barthes scheint für einen kleinen Augenblick den Faden zu verlieren, bevor er sich wieder Philippe Roger zuwendet.)

Philippe Roger:   Wäre es dann richtiger zu sagen, man liebt ein Bild?

Roland Barthes:   Mit Sicherheit. Man ist sogar immer nur in ein Bild verliebt. Die Liebe auf den ersten Blick, das, was ich die „Entrückung“ nenne, ergibt sich durch ein Bild.

Philippe Roger:   Möglicherweise gar durch ein „echtes“ Bild? Durch eine Fotografie des Playboy? (Vermutlich ist Philippe Roger, der breit in die Runde grinst, noch von der Kollektion der Newton-Fotos auf der Herrentoilette beeindruckt.)

Roland Barthes:   Die Frage stellt sich. Aber ich würde sie trotzdem mit „nein“ beantworten. Denn das uns entrückende Bild ist ein lebendiges Bild, ein Bild in Aktion. (Eine der fleißigen Elfen schwebt durch den Raum und zieht die Blicke der anwesenden Herren unwiderstehlich auf sich.)

Adrian (ohne den Blick für den realen Fluss des Lebens – ganz auf die Segnungen der Wissenschaft konzentriert):   Schauen Sie sich doch einmal die anschließende Bilderfolge an. Bas Kast dokumentiert sie als anschaulichen Mosaikstein eines Befunds der Forschungsstelle für Humanethologie der Max Planck Gesellschaft in Andechs in seinem allseits gelobten Buch „Die Liebe und wie sich die Leidenschaft erklärt“ (Frankfurt 2004 – wer mehr über dieses Forschungsprojekt und die Bilderfolge wissen will, findet auf den Seiten 251-253 des Buches einige hilfreiche Informationen).

(Auf dem Bildschirm über der Theke erscheint eine Bildersequenz):

 

Peter Fuchs:   Das ist eine elegante Auflösung eines ansonsten unhaltbaren Bildes. Aber mit dieser Formulierung, das uns entrückende Bild sei ein lebendiges Bild, ein Bild in Aktion, lässt sich ja operieren. Ganz oder gar nicht lieben entspricht ja dieser Totalitätsvision. Aber gleichzeitig sind wir dann auch genötigt, diese Forderung in ein Problem zu übersetzen, mit der wir der Form von Intimsystemen näher kommen. Denn durch diesen Totalitätsanspruch wird etwas erzwungen, das wir das Ausblenden von Idiosynkrasien nennen wollen. Eine Idiosynkrasie, das ist zunächst eine unerklärliche und unüberwindliche Abneigung. Zugegebenermaßen spielen solche Idiosynkrasien – quod erat demonstrandum – bei arrangierten, um nicht zu sagen in heimtückischer Weise inszenierten Situationen, wie sie die Bilderfolge repräsentiert, keine Rolle.

Adrian:   Meine Güte, lieber Peter Fuchs, können wir nicht einmal die Probleme beiseitelassen und einfach danach schauen, ob wir nicht wenigstens die „Verliebtheit“ ein bisschen retten können (allein schon, damit Roland Barthes noch einmal darüber nachdenken kann, ob der Verliebte sich immer nur mit Abwertung konfrontiert sieht). Ich weiß, dass die „Vorschrift des Programms, das sich sozial als Intimsystem realisiert, gerade eben die Würdigung der Totalität der EINS ist, die der Andere verkörpert“. Und ich bin auch gespannt darauf, zu erfahren, wie die Ehe dieses Problem auf eine „nicht-romantische Weise“ löst. Aber vielleicht können wir wenigstens gedanklich – gerade jetzt, wenigstens für ein paar Minuten – einmal davon absehen, dass – wie Sie in Ihrem Buch ausführen – natürlich immer auch noch Zeit mitfließt in dem Sinne, dass die Veränderungen des Körpers, Bierbauch oder Orangenhaut (ja, es heißt Orangenhaut, lieber Peter Fuchs, und nicht Zitronenhaut), Glatze oder geplatzte Kapillaren, nicht aus dem Spiel herausfallen dürfen. Für diesen Hinweis bin ich Ihnen, Peter Fuchs, übrigens sehr dankbar, habe ich doch zum ersten Mal wirklich umfassend und wenn man so will operativ verstanden, was mit „Idiosynkrasien“ gemeint ist. Besten Dank!

Roger Philippe:   Adrian, ich danke Ihnen, obwohl ich Sie gleichzeitig enttäuschen muss. Der Verlauf des Interviews mit Roland Barthes nimmt für Ihr Anliegen nicht den glücklichsten Verlauf, nicht wahr, lieber Roland. Da ist nun Ihr „verzückter“ Verliebter… Eine Umfrage aus dem letzten Jahr (1976) nannte das die „große Liebe“. Und eine eindrucksvolle Mehrheit der befragten Franzosen behauptete, „daran zu glauben“, und sagte, sie währe das ganze Leben. Was meint Ihr Verliebter dazu?

Roland Barthes:   Er würde natürlich auf die Frage nach der „großen Liebe“ mit „ja“ antworten. Doch „das ganze Leben?“ Da zögere ich. Das beinhaltet einen Optimismus, der in dem von mir simulierten verliebten Subjekt nicht gegeben ist. Für dieses hat der Ausdruck „das ganze Leben“ keinen Sinn. Es lebt in einer gewissermaßen absoluten Zeit. Es teilt seine Zeit nicht über ein ganzes, vorhersehbares Leben hinweg ein…

Peter Fuchs:   Na also, systemtheoretisch betrachtet, werden wir zu überzeugenden Beschreibungen gelangen sowohl für die symbiotisch empfundene, zugegebenermaßen manchmal wie aus heiterem Himmel auf uns einschießende Verlockung der Komplettberücksichtigung der EINS des anderen mit dem Anspruch auf wechselseitig akzeptierte Exklusivität als auch für die viel interessantere Frage, wie man diese Exklusivitätsansprüche erfolgreich auf Dauer stellt. (e., die eine besondere Wirkung auf den professoralen Habitus ausübt, und die kurzfristig den Service übernommen hat, wirft Peter Fuchs einen eindringlich-charmanten Blick zu.)

Adrian:   Wow!!! (Adrian beobachtet, wie auf der anderen Seite der Theke Susanne Gaschke, die sich dort seit einiger Zeit angeregt mit Michael Mary unterhält, interessiert herüberschaut und ihre Erheiterung über die letzte Formulierung von Peter Fuchs nicht verbergen mag. Adrian begrüßt sie respektvoll, zeigt sich über ihre Anwesenheit hoch erfreut.): Ja, Susanne, Wissenschaftler dürfen das. Sie sind nur der Wissenschaft verpflichtet und ihr Sprachgebaren ist nur am Rande auf Öffentlichkeit hin orientiert. Ich finde es immer wieder beeindruckend, wie es Ihnen dagegen gelingt, sogar systemtheoretisch inspirierte Gedanken massenmedial hoffähig zu machen.

Susanne Gaschke:   Aber, lieber Adrian, der Meister höchst selbst und einer seiner sprachmächtigsten Schüler sind doch anwesend. Da ist es doch eher unangebracht, sozusagen als ihr journalistisches Sprachrohr aufzutreten. Und außerdem bin ich viel gespannter darauf, zu hören, wie Roland Barthes die Perspektive des „ganzen Lebens“ weiter buchstabiert.

Adrian:   Liebe Susanne, stellen Sie Ihr Licht bitte nicht unter den Scheffel; lassen Sie uns noch einmal daran teilhaben, wie es Ihnen gelungen ist, die Klemmen spätromantischer und postmoderner Liebeskonzepte massenmedial zum Flimmern zu bringen und dabei sogar noch die bestandsnotwendigen Problemlagen (post)moderner Gesellschaften parallel zu schalten und Lösungen in Erwägung zu ziehen.

Susanne Gaschke:   Also gut, mein lieber Adrian, bei einem Winninger Uhlen lass’ ich mich überreden. Aber, Sie haben eben selbst Peter Fuchs vorgehalten, er solle nicht vorschnell von der Verliebtheit zur Liebe übergehen; und jetzt nehmen Sie sogar in Kauf, dass ich die Traum- und Schaumwelt der Verliebten nicht nur in Richtung Partnerschaft verblase, sondern dass ich sogar noch Familie als Bezugswelt einbeziehe. Das könnte leichte Schieflagen erzeugen. Und noch eins: Niklas Luhmann hat eben darauf hingewiesen, wie schnell der „Grenznutzen“ der Kommunikation erreicht oder die Geduld, die Belastbarkeit der psychischen Umwelt erschöpft ist, wenn ich jetzt hier auch noch beginne zu dozieren. Denken Sie an ihre Leser! (e. kredenzt Susanne Gaschke einen Winninger Uhlen und bittet sie diskret, doch ihre Gedanken vorzutragen, auch sie sei eine begeisterte Leserin ihrer ZEIT-Beiträge.)

Adrian   (die Vorbehalte Susanne Gaschkes mit einer charmanten Geste abwehrend): Machen Sie sich da mal keine Sorgen. Es lesen ja sowieso nur die, die lesen wollen. Und im Gegensatz zu Ihnen bin ich ja nicht auf Quote oder Auflage angewiesen. Legen Sie los, ich bin überzeugt davon, dass alle die zu bedauern sind, denen Ihre journalistischen Leuchtraketen entgehen.

Susanne Gaschke: (die sich durchaus geschmeichelt fühlt)   Es ist weder neu noch originell, was ich geschrieben habe. Im Wesentlichen habe ich ja nur Gedanken von Niklas Luhmann, Norbert Elias und einigen anderen aufgenommen und sie zu einer journalistischen Collage verbunden: „Revolution im Reihenhaus – Die Zukunft der Liebe: Ein Plädoyer für die Wiederentdeckung der Doppelmoral“ (ZEIT, 1/99 vom 30.12.98) – ich gebe zu, das könnte schon ein provokativer Aufmerksamkeitsköder gewesen sein. Meine Ausgangsidee stützt sich dabei auf alltägliche Beobachtungen. Ich meine halt, dass die Liebe in jedem Fall ihre narrative Struktur in der massenmedialen Vermarktung verliert. So ist sie zwar zu einem gut verkäuflichen Produkt in der spätkapitalistischen Medienwelt geworden. Sie ist aber keine Erzählung mehr, in der das eine aus dem anderen, in der zum Beispiel körperliche Nähe auf seelische Nähe erst folgt. „Das Schmachten vor der Erfüllung wirkt lächerlich“ – das ist Ihre Beschreibung, Niklas Luhmann. Es sind aber wiederum Sie, lieber Niklas Luhmann, der andererseits darauf hinweist, dass „das Sicheinlassen auf sexuelle Beziehungen Prägungen und Bindungen erzeugt, die ins Unglück führen“. Die Tragik liege heute nicht mehr darin, dass die Liebenden nicht zueinander kommen – wie Romeo und Julia –, sie liege vielmehr darin, dass sexuelle Beziehungen Liebe erzeugen und dass man weder nach ihr leben noch voneinander loskommen könne. (Adrian schaut nach draußen und sieht am blauen Himmel in der Abendsonne einen großen Fesselballon mit der Aufschrift: „Ordnungen der Liebe“ – Lass dich aufstellen – www.berthellinger.de.)

Niklas Luhmann:   Ja, sehr verehrte Susanne Gaschke, ganz Recht. Was Sie hier andeuten, lässt sich mühelos am Phänomen der Aufrichtigkeit zeigen. Die Aufrichtigkeit wird in der Kommunikation unter Liebenden eindeutig wieder stärker betont. Und dabei geht es durchaus um mehr als nur Aufrichtigkeit in Bezug auf die Differenz von „wahrer Liebe“ und bloßer Verführung; es geht um ein schlichtes rezeptfähiges Prinzip, das dreihundert Jahre Einsicht in den unauflöslichen Zusammenhang von Aufrichtigkeit und Unaufrichtigkeit im Aufbau menschlicher Existenz und in der Entwicklung von Liebe bei Seite schiebt. Denn ganz abgesehen davon, ob der, den man liebt, es einem überhaupt erlaubt, alles zu sagen, was man zu sagen hat: Soll man aufrichtig sein auch in Stimmungslagen, die ständig wechseln? Soll der andere wie ein Thermometer an die eigene Temperatur angeschlossen werden? Vor allem aber: Wie soll man jemandem gegenüber aufrichtig sein, der sich selbst gegenüber unaufrichtig ist? Und ist schließlich nicht jede Existenz eine unfundierte Projektion, ein Entwurf, der Stützen und Schutzzonen der Unaufrichtigkeit braucht? Kann man überhaupt eigene Aufrichtigkeit kommunizieren, ohne allein schon dadurch unaufrichtig zu werden? Ja, und wenn auch einige, oder die Überzahl der Therapeuten, dies nicht sehen kann, ein systemisch inspirierter Paradigmenwechsel würde nicht zuletzt auch den therapeutischen Bemühungen neue Perspektiven eröffnen. Denn der Einfluss der Therapeuten auf die Moral (und der Moral auf die Therapeuten) ist zwar einerseits schwer abzuschätzen, sicher aber zu fürchten. Er setzt die labile Gesundheit, die heilungsbedürftige Verfassung des Einzelnen an die Stelle der Liebe und entwickelt für Liebe dann nur noch die Vorstellung einer wechselseitigen Dauertherapierung auf der Basis einer unaufrichtigen Verständigung über Aufrichtigkeit.

Susanne Gaschke:   Wenn die Menschen das doch nur sehen könnten! Viele sind sich weder der historischen noch der unmittelbar individuell folgenreichen Dimension bewusst, die solchermaßen aufgeladene Intimbeziehungen in Form neuer Zwänge bedeuten. Plötzlich ist es nicht mehr erlaubt, Persönliches der Kommunikation zu entziehen; und demonstratives Verhalten wird obendrein erwartet: „Die Liebe darf sich nicht erst auf Nachfrage zu erkennen geben, sie muss allem Fragen und Bitten zuvorkommen, um nicht als Pflicht oder Konzilianz zu erscheinen“, sagen Sie, verehrter Niklas Luhmann, und man kann sich gut vorstellen, welche Beziehungshöllen sich in dieser spröden Sprache beschreiben ließen. Die Hoffnungslosigkeit der modernen Liebe liegt in der Erwartung, dass ein Mensch dem jeweils anderen ganz allein die Welt sein könne. Das funktioniert natürlich umso weniger, je schwächer die sozialen, intellektuellen und charakterlichen Übereinstimmungen zwischen den Liebenden ausfallen. (Susanne Gaschke hält lachend ein Faltblatt „Das ganz alltägliche Chaos der Liebe“ in die Höhe und meint, wir seien ja hier mit „Kino im Hahn“ voll auf der Höhe unserer Diskussion – Kino im Café Hahn zeigt demnächst: „Szenen einer Ehe“ – und, lieber Roland Barthes, auch Filme, die die Segnungen der unerfüllten Liebe thematisieren: „Die Brücken am Fluss“ mit Clint Eastwood und Meryl Streep.)

Adrian:   Oh, ja, liebe Susanne, Sie hatten recht, und ich hoffe, lieber Niklas Luhmann, dass Sie einverstanden sind, wenn wir das Finale furiosum noch etwas hinausschieben. Natürlich spüre ich, dass wir den Verliebten längst aus dem Blick verloren haben, und ich hoffe, dass es Ihnen, verehrter Roland Barthes, gemeinsam mit Philippe Roger gelingt, den Fokus unserer Aufmerksamkeit noch einmal zu verschieben. Retten Sie die Liebe, schützen Sie die Verliebten!

Roland Barthes:   Ich muss Sie alle miteinander enttäuschen. Natürlich erinnern Sie sich, dass ich bereits bei der Frage nach der „Liebe für ein ganzes Leben“ gepasst habe. Mit meinem Blatt, um eine Metapher aus dem Skatspiel zu bemühen, kann ich nicht wirklich reizen – ich kann noch nicht einmal einen Null ouvert in Betracht ziehen.

Roger Philippe:   Vielleicht wäre ja eine Pokerpartie die passendere Variante!? Da ist es schließlich der eigentliche Reiz, auch mit einem unmöglichen Blatt den großen Bluff zu inszenieren. Ja, was bleibt mir? Zunächst einmal nur die Feststellung, dass im Liebesleben des Verliebten, wie Sie, verehrter Roland Barthes, ihn uns nahe bringen, eher das Leid einen großen Platz einnimmt. Es ist so gegenwärtig, dass man den Eindruck hat, der Verliebte meidet es kaum, er ist kaum in der Lage es zu vermeiden!?

Roland Barthes:   In der Tat wird das Leid von ihm wie ein Wert aufgenommen. Aber durchaus nicht im christlichen Sinne; im Gegenteil: wie ein von allem Vergehen reines Leid.

Roger Philippe:   Wie reagiert er auf dieses Leid?

Roland Barthes:   Er neigt dazu, dieses Leid zu akzeptieren, ohne dabei Schuldgefühle zu akzeptieren.

Roger Philippe:   Der Liebeskummer scheint also unvermeidlich?

Roland Barthes:   Ja, ich glaube, er ist unvermeidlich. Oder vielmehr würde ich sagen, dass sich das Liebesgefühl gerade dadurch definiert: weil das Leid unvermeidlich ist. Doch kann man sich immerhin vorstellen, dass sich das Gefühl verändern mag…

Roger Philippe:   Und aufhört, ein Liebesgefühl zu sein?

Roland Barthes:   Hierin liegt das größte Problem, mit dem sich die „Fragmente“ auseinandersetzen. Der gesunde Menschenverstand sagt, dass man in einem bestimmten Moment „Verliebtsein“ und „Lieben“ voneinander trennen muss. Man lässt das „Verliebtsein“ mit seinem Gefolge von Täuschungen, Illusionen, tyrannische Überwältigung, Szenen, Schwierigkeiten, sogar Selbstmord beiseite… Und findet Zugang zu einem Gefühl, das befriedeter, dialektischer, weniger eifersüchtig und besitzergreifend ist.

Roger Philippe:   Sie haben gerade die Eifersucht angesprochen. In den Romanen – und wohl auch im Leben – hängt das spektakulärste Leid des Verliebten mit der Eifer-sucht zusammen. Nicht so in Ihrem Buch.

Roland Barthes:   Ja, Ihnen ist aufgefallen, dass diese wesentliche Figur der Leidenschaft in meinem Buch nur sehr kurz behandelt wird. Ich habe sogar überlegt, ob ich sie nicht ganz weglassen soll…

Roger Philippe:   Deswegen, weil sie Ihnen fremd ist?

Roland Barthes:   Nein, sie ist mir nicht fremd, im Gegen-teil. Doch es ist ein Gefühl, das, obwohl es in grausamer Weise erlebt wird, in meiner Existenz nicht verwurzelt ist. Ehrlich gesagt, ich habe keine Vorstellung von der Eifer-sucht. Oder ich habe die Vorstellung von jedermann. Und es ist die einzige Figur, für die ich keine persönliche Definition gegeben habe. Ich habe mich damit begnügt, die des Littré wiederzugeben, weil sie vollkommen ist. Eifersucht: „Gefühl, das in der Liebe entsteht und das von der Befürchtung erzeugt wird, die geliebte Person bevorzuge einen anderen.“ Von allen Figuren ist sie diejenige, die mir den stärksten Eindruck von Banalität vermittelt.

Roger Philippe:   Ist denn jeder eifersüchtig?

Roland Barthes:   Ich würde sagen – und nun greife ich zu großen Worten –, es ist eine anthropologisch verwurzelte Regung. Kein Wesen auf der Welt ist frei von gewissen Eifersuchtswellen. Und es scheint mir nicht möglich, verliebt zu sein – auch wenn es äußerst locker und ungezwungen geschieht, wie man sich das heutzutage von der Jugend vorstellen mag –, ohne dass nicht doch schließlich in bestimmten Momenten das Liebesgefühl von Eifersucht durchdrungen wird.

Auf dem Bildschirm, der über der Dreieckstheke dem Blickfeld aller Beteiligten zugänglich ist, erscheint just in diesem Augenblick Peter Sloterdijk wie ein deus ex machina, der im Zustand minimal-vollständiger Entfaltung die „Anthroposphäre“ als einen neundimensional bestimmbaren Raum erläutert. Adrian erfasst die Situation unmittelbar und schaltet Peter Sloterdijk im O-Ton zu, und signalisiert den anderen, Großes sei zu vernehmen und vielleicht wollten alle teilhaben, wenn Sloterdijk wenigstens einen Topos dieser Anthroposphäre in seinen nicht zu übersehenden weltbildenden Leistungen vorstelle und damit Roland Barthes’ These von der „anthropologisch verwurzelten Regung“ untermauere. In seiner typischen, etwas nasalierenden, larmoyanten Art stellt Peter Sloterdijk das „Erototop“ vor.

Peter Sloterdijk:   Zur Antroposphäre gehört unübersehbar und prägend das Erototop, das die Gruppe als einen Ort der primären erotischen Übertragungsenergien organisiert und als Eifersuchtsfeld unter Stress setzt. Es markiert Eifersuchtsfelder und Stufen des Begehrens. Zugegeben, man muss schon eine ganze Saison auf der anthropogenen Insel zugebracht haben, um eine Witterung dafür zu bekommen, wie die Einwohner ihr Wunschleben organisieren… Wer sich im Inseltreiben zurecht finden will, ist gut beraten, seine Aufmerksamkeit auf das affektive Treiben der anderen zu verstärken… Das erotische Feld wird unter Spannung gesetzt, indem die Gruppen durch ständige subakute Selbstirritation eine Art von begehrlich-argwöhnischer Aufmerksamkeit auf die Unterschiede zwischen ihren Mit-gliedern produzieren. Daraus entsteht ein Eifersuchtsfluidum, das durch prüfende Blicke, humoristische Kommentare, herabsetzende Nachreden und ritualisierte Konkurrenzspiele in Zirkulation und Fluss gehalten wird…

(Peter Fuchs zieht einen „Schmollmund“, der leicht als sinnlich aufgeladene Begehrlichkeitsgeste missdeutet werden könnte in Richtung e., die ihrerseits als Blickfang Blicke ansaugt wie ein schwarzes Loch und so als bemerkenswerter Resonanzraum er-scheint. Adrian bedankt sich bei Peter Sloterdijk, der sich aber überhaupt nicht irritieren lässt und den Vortrag in seiner typisch diskret-aufdringlichen Art fortsetzt. Alle Versuche, ihn mittels der Fernbedienung phonmäßig gegen null zu fahren, erweisen sich als wirkungslos und wären bezogen auf die Enthüllungs- und Lösungs-potentiale seiner nüchtern-lapidar daherkommenden Daseinsanalyse auch fatal gewesen, denn Peter Sloterdijk seziert mit seinen Sprachskalpellen Menschlich-Allzumenschliches nach Art eines Meisterchirurgen:)

Peter Sloterdijk:   … In diesem Fluidum manifestiert sich der Eros nicht als dual-libidinöse Spannung zwischen Ego und Alter, sondern als trianguläre Provokation: Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt, sobald ich annehmen darf, dass ein anderer dich liebt und deine schöne Gestalt ihn genügend reizt, um dich in Besitz nehmen zu wollen… Erotische Prozesse in der Gruppe bilden demnach die Grundform des Wettbewerbs – ausgelöst durch die imitative Beobachtung des Strebens anderer nach der Beschaffung von Seins-, Besitz- und Geltungsvorteilen… Und folglich gehört zur Gruppenweisheit ein Eifersuchtsmanagement, das dreidimensional ansetzt. Sollen die Selbstirritationen der Gruppe in einem lebbaren Tonus gehalten werden, braucht das Kollektiv ausreichende Diskretionen für die Seinsdifferenzen, die Besitzdifferenzen und die Statusdifferenzen in seinem Inneren. Diskret ist, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll… Nichtsdestoweniger ist zu erwarten, dass in allen Gruppen okkasionell oder periodisch der Eifersuchtsfuror den Sieg über die Diskretion davonträgt.

(Inzwischen kleben alle Anwesenden an Peter Sloterdijks Lippen und fordern unisono, er möge sie weiter teilhaben lassen an seiner Weltbeschreibung und Niklas Luhmann ermuntert ihn fortzufahren und zu verdeutlichen, was der Fall sei und vor allem, was dahinter stecke. Nur Peter Fuchs zerdröselt – vermutlich unter dem massiven Einfluss eines Redestaus – eine Büroklammer, während auch Adrian merkwürdig unkonzentriert wirkt und sich mit schwarzen Löchern auseinander zu setzen scheint.)

Peter Sloterdijk (stoisch und unbeeindruckt und jetzt sogar deutlich lösungsfixiert):   Um diese so furchtbaren wie insgeheim begehrten Ausbrüche der affektiven Pest zu verhindern, braucht jedes Erototop seine Schule des richtigen Begehrens, oder besser eine Moral, die als Prophylaxe der Wut auf die Unterschiede dient. Ganz nebenbei erwähnt entsteht aus dieser rohen Kunst des Liebens die Neidkultur, die sich mit dem Ehrentitel Kritik zu schmücken pflegt. Der erste Unterricht in der Schule des Begehrens wird durch Verbote erteilt. Hier lernt man das Nötige durch das Tabu und das Du-sollst-nicht. Je ruhiger der Besitz, desto eher wird die Wunsch-Eskalation verhindert. Im Verbot macht sich die Anwesenheit des Dritten bemerkbar, der bereits zwischen Mich und Dich getreten ist, bevor wir uns empirisch begegneten: Dieser garantieleistende Dritte trennt mich von meinem naiven Begehren nach den Vorteilen des anderen ebenso, wie er dem anderen die Exhibition seiner Begünstigungen untersagt. Da aber weder Verbote noch Tabus die schielende Aufmerksamkeit auf das fremde Gut neutralisieren können, sondern eher zur Fokussierung des Begehrens auf das Entzogene beitragen, müssen fortgeschrittene Kulturen zu einer aktiven Desinteressierung der Menschen gegenüber den Objekten ihrer Eifersucht übergehen. Dies gelingt nur, wenn an ihre Stelle höhere Güter gesetzt werden, deren ideelle Natur eine unbegrenzte Teilung und keinen provozierenden Privatbesitz erlaubt. Von dem Aufatmen, das diese Erhöhung des Begehrens bewirkt, lebt bis zum heutigen Tage alles, was irgendwie einen Bezug zum Geistigen hat…

(Mittlerweile halten sich alle am Tresen fest – trunken von den salbungsvollen Weihen, die aus Peter Sloterdijks grandioser Enthüllung des Geistigen über sie kommt. Ein wenig übers Ziel hinausschießend verliert sich Sloterdijk in den Verästelungen seines Welterklärungsmodells und aus dem Rauschen vernehmen wir noch, wie er uns die Versäumnisse der hochkulturellen Ethiken im Osten wie im Westen als mahnende Beispiele vor Augen hält und erklärt, was der Fall ist und vor allem, was dahinter steckt.)

Peter Sloterdijk:   … Die hochkulturellen Ethiken im Osten wie im Westen arbeiten mit der Ironie, dass Menschen, die sich um Gutes schlagen, Besseres versäumen. Die Engel, sagt Emerson, verlassen uns nur, damit Erzengel kommen mögen. So gab es im 20. Jahrhundert tatsächlich einen Verrat der Intellektuellen, indem sie die Ironie umkehrten. Sie begannen, das so genannte Bessere zu belächeln, entschlossen, ihre eigene Portion vom gewöhnlichen Guten nicht zu versäumen… Seither ist die Arena, in der um die Verteilung knapper Vorzugsgüter gespielt wird, wie-der alles, was der Fall ist. Große Politik ist nach 1914 die Universalisierung von Eifersuchtskämpfen ohne höhere Ebene. (Über den Platonismus und den Stoizismus gelangt Peter Sloterdijk schließlich zur buddhistischen Lehre.) Die reifste Gestalt einer Ethik der Desinteressierung ist ohne Zweifel in der buddhistischen Lehre von den Anhaftungen und ihrer Auf-lösung durch das Schwert der Einsicht erreicht worden. Mit seiner subtilen Analyse der Kausalkette, die zu Leid erzeugenden Fixierungen führt, versucht der Buddhismus wenigstens eine Minderheit von Menschen aus der Begehrensarena und von dem Gefühl des unvermeidlichen Verliererseins zu emanzipieren.

(Peter Sloterdijk verschwindet in einem Flimmern und Rauschen vom Bildschirm und die Runde erwacht aus einer tiefen Trance, aber dabei merkwürdig erfrischt – nur Adrian erweckt den Eindruck, als verströme sich ein dauerhaftes Oooooohmmmmmm in seinem Inneren. Er wirkt entspannt, ruhig und völlig gelassen. Philippe Roger wagt unterdessen angesichts der Sloterdijkschen Ernüchte-rungsphilippika dennoch, die Frage der Eifersucht in klärender Absicht noch einmal aufzunehmen.)

Philippe Roger:   Lieber Roland Barthes, Sie bemerkten zuletzt, dass Sie es für unmöglich halten, verliebt zu sein – auch wenn es äußerst locker und ungezwungen erscheine, und wie man sich das heutzutage von der Jugend vorstellen möge –, ohne dass nicht doch schließlich in bestimmten Momenten das Liebesgefühl von Eifersucht durchdrungen sei. Sind Sie denn skeptisch gegenüber Versuchen einer „Auflockerung“?

Roland Barthes:   Ja, ich lebe unter Freunden, die jünger sind als ich. Sehr oft verblüfft mich, was auf den ersten Blick wie ein Fehlen von Eifersucht in ihren Beziehungen aussieht. Und ich sage mir, dass ich selbst in einer solchen Situation schrecklich eifersüchtig wäre. Ich bin erstaunt und bewundere sie sehr, wie sie scheinbar ohne große Probleme sowohl die sinnlichen, die sexuellen als auch die Interessen des Zusammenlebens teilen. Aber das ist nur ein erster Eindruck. Betrachtet man aufmerksamer, wie sie leben, so bemerkt man, dass es auch unter ihnen Eifersuchtsregungen gibt. Ein Verliebter, der nicht eifersüchtig wäre – fast wollte ich sagen, das wäre ein Mystiker schlechthin; doch eben nicht: man kennt bewundernswerte Texte, in denen der Mystiker eine gewisse Eifersucht Gott oder anderen gegenüber bezeugt. Nein: Das wäre im buchstäblichen Sinne ein Heiliger.

Philippe Roger:   Kann man nicht, anstatt – wenn ich so sagen darf – eifersüchtig zu sein, mehrere Personen zugleich lieben?

(In der kleinen, überschaubaren Biwel entsteht spürbare Unruhe und nur die in allen Regeln der Kunst verinnerlichten Konventionen höflicher Kommunikation erlauben es Roland Barthes, auf die Fragen von Philippe Roger zu antworten, während Julia Onken mit drei Hunden die Biwel betritt. Alle drei haben feine Stoffcapes an. Der erste, ein stolzer Dobermann mit coupiertem Schwanz, ein dunkel- eher rubinrotes mit der Aufschrift „Eros“, der zweite, ein Berner Sennenhund, ein hellrotes mit der Aufschrift „Philia“ und der dritte, ein kleiner Pinscher, ein blass-rosafarbenes mit der Aufschrift „Agape“.)

Roland Barthes:   Ich glaube, dass man das – jedenfalls eine gewisse Zeit über – kann. Man kann es…, und ich meine sogar, es ist ein köstliches Gefühl – um ein klassisches Wort zu gebrauchen. Ja, es ist ein köstliches Gefühl, in ein Klima vielfacher Liebschaften, verallgemeinerter Flirts (in ein – wie Sloterdijk sagt – latentes Eifersuchtsfluidum) eingetaucht zu sein – wobei „Flirt“ eine gewisse Kraft zu verleihen ist… (Ein orientalischer Händler mit einem Strauß roter Rosen betritt die Biwel. Adrian erwirbt einige Rosen und verteilt sie an die anwesenden Damen. Er wirkt dabei wie ein kleiner, höflicher Junge – nur einmal errötet er zart.)

Philippe Roger:   Nur eine gewisse Zeit über…?

Roland Barthes:   Ich glaube nicht, dass diese aus vielfachen Besetzungen herrührende Souveränität sehr lange andauern kann. Für den Verliebten nämlich gibt es einen Moment, in dem es sich „kristallisiert“.

Philippe Roger:   Und das ist das Ende der „Flatterhaftigkeit“ oder des Umherflatterns?

Roland Barthes:   Ja, sobald der Verliebte in der Leidenschaft versunken ist, schließt das das Umherflattern aus. Das Umherflattern des anderen lässt ihn entsetzlich leiden. Und er selbst hat auch keine Lust mehr umherzuflattern.

Philippe Roger:   Und in der Folge sprechen Sie von „tyrannischen Verhältnissen“?!

Roland Barthes:   Genau. Der Verliebte fühlt sich vom geliebten Objekt beherrscht, gefesselt und ergriffen. Doch in Wirklichkeit übt der Liebende auch eine tyrannische Macht über den Geliebten aus. Es ist kein Spaß, von jemandem geliebt zu werden, der verliebt ist… Ich vermute, es ist kein Spaß…

Philippe Roger:   Also keine Liebe ohne Kampf, ohne Machtverhältnisse, Auseinandersetzungen, Siege und Niederlagen?

Roland Barthes:   Der Verliebte kämpft, um nicht unterworfen zu werden. Doch es misslingt ihm. Er stellt gedemütigt und manchmal mit Entzücken fest, dass er dem geliebten Bild völlig unterworfen ist. Und andererseits leidet er in seinen guten Momenten sehr darunter, den anderen zu unterwerfen; er versucht es nicht zu tun.

Philippe Roger:   Dies nennen Sie das „Nicht-ergreifen-Wollen“. Ist das die Lösung?

Roland Barthes:   Ja, die ideale Lösung besteht darin – und ich stimme hier mit Peter Sloterdijks „Ethik der Desinteressierung“ überein –, sich in einen Zustand des Nicht-ergreifen-Wollens zu begeben. Diesen Begriff habe ich den östlichen Philosophien entlehnt. Das geliebte Objekt „nicht ergreifen“ und die Begierde zirkulieren lassen. Gleichzeitig auch nicht „sublimieren“: die Begierde beherrschen, um nicht den anderen zu beherrschen.

(Die anderen können ihre Erregung kaum verbergen – eine gewisse nervöse Grundstimmung wabert durch die Biwel; Adrian Nemo bittet gleichwohl – mit hochrotem Kopf an Rolands Barthes’ Lippen klebend – Philippe Roger und Roland Barthes fortzufahren, während er die anderen schlicht um ein wenig Geduld bittet, freilich ein wenig resignierend, weil sich auf gnadenlose Weise offenbart, wie stattfindende Kommunikation gedanklichen Prozessen gleichermaßen hinterherhinkt und ihnen andererseits uneinholbar vorauseilt.)

Philippe Roger:   Das also ist, wenn schon kein Programm, so doch zumindest ein Vorschlag?

Roland Barthes:   Ja, es ist ein Vorschlag. Vielleicht eine Utopie…

Philippe Roger:   Im Hinblick auf eine neue Liebeswelt…

Roland Barthes:   Jawohl, genau.

Philippe Roger:   Aber diese neue Liebeswelt wäre, so nehme ich an, etwas anderes als die „befreite Sexualität“, von der vor zehn Jahren so viel gesprochen wurde. Man hat den Eindruck, dass es heute zu einer Reaktion auf diese Ideologien kommt. So, als ob es ein Misstrauen gegenüber der Begierde gäbe. Ordnen Sie Ihr Buch in diese Strömung oder gegen sie gerichtet ein?

Roland Barthes:   Ja, in gewisser Weise ordne ich es in diese Strömung ein. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass das Verliebtsein das Sexuelle in den Hintergrund treten lässt.

Roger Philippe:   Und die Begierde?

Roland Barthes:   Im Liebesgefühl steckt Begierde. Je-doch diese Begierde wird abgelenkt und wendet sich einer diffusen Sexualität zu, einer Art verallgemeinerter Sinnlichkeit.

Philippe Roger:   Was würden Sie in diesem Zusammenhang von der Erotik sagen?

Roland Barthes:   Es ist schwierig, von einer – sagen wir einmal – „gelungenen“ Erotik zu sprechen. Setzen wir daher Anführungszeichen, weil das Gelingen von jedem einzelnen abhängt. Es gibt keine Rezepte. Die „gelungene“ Erotik besteht in einem sexuellen und sinnlichen Bezug zu dem Wesen, das man liebt. Das kommt trotz allem vor. Und es ist etwas dermaßen Schönes, Gutes, Vollkommenes und Strahlendes, dass die Erotik in diesem Augenblick selbst gewissermaßen zum Zugangsweg einer Transzendenz der Sexualität wird. Die Sexualität bleibt in der Praxis, und je größer die Erotik ist, desto mehr verschärft sich diese Praxis. Doch aufgrund eines gefühlsmäßigen Mehrwerts hebt sich die Erotik grundlegend von jeglicher Pornographie ab. (Julia Onken hat es sich in dem Nanna-Sessel bequem gemacht. „Eros“ liegt in der Ecke und scheint zu träumen. Er fletscht im Traum die Zähne und knurrt in Abständen wollüstig, während „Philia“ Julia Onken die Füße leckt und Julia Onken ihrerseits „Agape“ auf ihrem Schoß sitzend liebkost).

Philippe Roger:   In Ihrem Buch stellen Sie dem Verliebten den „Anmacher“ gegenüber…

Roland Barthes:   Ja, man muss zwei Arten von „Diskursen“ im weiteren Sinne einander gegenüberstellen: den des Verliebten und den des Anmachers. Die Praktiken der An-mache stimmen in keiner Weise mit den sehr asketischen Praktiken des verliebten Subjekts überein, das sich nicht in der Welt verstreut und mit seinem Bild gefangen bleibt.

Philippe Roger:   Ist aber der Verliebte nicht auch ein Anmacher?

Roland Barthes:   Aber ja doch. Manche Anmacher gehen auf Anmache, um jemanden zu finden, in den sie sich verlieben können. Das ist sogar ein typischer Fall. In den homosexuellen Kreisen jedenfalls, in denen das Anmachen sehr verbreitet ist, kann man sehr wohl lange Jahre auf Anmache gehen, oftmals auf eine gerade durch die Orte, die man aufsuchen muss, unvermeidlich schäbige Art und Weise – mit der im Grunde unbezwingbaren Vorstellung, dadurch jemanden zu finden, in den man sich verliebt.

Roger Philippe:   Im Gegensatz zu Don Juan, dessen Vergnügen gerade „ganz und gar auf dem Wechsel“ beruht und der unaufhörlich von Land zu Land, von Frau zu Frau eilt.

Roland Barthes:   In der Tat ist Don Juan mit seiner berühmten Liste „Tausend und drei“ für mich der Typus des Anmachers. Sie ist die eigentliche Devise des Anmachers. Wie sie wissen, tauschen die Anmacher sehr oft ihre Informationen aus. Und ihre Gespräche laufen immer auf Listen hinaus… (In diesem Augenblick betritt Gerard Vaillant die Biwel. Er – unterdessen ein Mittfünfziger – ist in Begleitung einer attraktiven 19-Jährigen.)

Philippe Roger:   Außer den Verliebten und den Anmachern gibt es noch diejenigen, die „unter der Haube“ sind, die „sistemati“…

Roland Barthes:   Ja. Ich unterhielt mich eines Tages mit einem Freund, der mir sagte, auf Italienisch heiße „unter der Haube“ sistemato. Ich fand es sehr gut, dass man, anstatt zu sagen „Der und der ist unter der Haube“, „Der und der ist verheiratet“, sich ihn „systematisiert“, in einem System erfasst, vorstellen konnte…

(Ein leises Raunen breitet sich unter den Anwesenden aus und während Philippe Roger die nächste Frage formuliert…)

Philippe Roger:   Bedient man sich aber nicht der Ausdrucksweise eines Anmachers, wenn man von Leuten „unter der Haube“ spricht?

Roland Barthes:   Daran hatte ich nicht gedacht. Ja, vielleicht. Denn der Anmacher und der Verliebte stehen in der Tat gleich weit entfernt von denen, die „unter der Haube“ sind. Sie befinden sich im Verhältnis zum gesetzten Paar beide in einer Außenseiterrolle. Alle beide sind ausgeschlossen.

Philippe Roger:   In Ihrem Buch jedenfalls ist eher das Paar ausgeschlossen.

Roland Barthes:   Ja, das stimmt wohl. Ans Ende habe ich aber dennoch eine „Figur“ über die Vereinigung gestellt. Jedoch – warum sollte ich es nicht sagen? – besaß ich keine persönliche Erfahrung dieser Art von Vereinigung. Und somit verfügte ich auch über keine Sprache zu ihrer Be-schreibung. Doch darin liegt keine Stellungnahme…

Philippe Roger:   Denkt der Verliebte in Begriffen des Paars?

Roland Barthes:   Ich glaube, das Paar bildet immer den Horizont. Das Buch hat sich für ein verliebtes Subjekt entschieden, das selbst nicht geliebt wird. Aber es denkt natürlich unaufhörlich daran, geliebt zu werden, also ein Paar zu bilden. Ich würde sogar sagen, es strebt eigentlich nur danach.

Adrian (reicht Roland Barthes einen Café crème, bittet den Barkeeper, Philipp, um Zucker. Bevor er Peter Fuchs, der inzwischen eine ganze Schachtel Büroklammern zerdröselt hat, aber jetzt völlig relaxt wirkt, das Wort gibt, murmelt er mit einem tiefen Seufzer):   Ja, ja, ja, mir scheint, dass Roland Barthes sich mit seiner letzten Formulierung auf jenem schmalen Grat bewegt, der sozusagen alle Sehnsüchte, alle Erwartungen, alle feinsinnigen Visionen, Bilderwelten, allen (vorweggenommenen) Schmerz verkörpert, all dies, was gerade dann lebendig und übermächtig wird, wenn das Streben danach, ein Paar zu bilden, schwellenwertig wird: ja oder nein, Himmel oder Hölle…

Peter Fuchs:   Mehr noch, mein lieber Adrian; Roland Barthes, der sich für ein verliebtes Subjekt entschieden hat, das selbst nicht geliebt wird, begründet damit die „komfortable“ Vorstellung eines Verliebten, dessen Leben sich im Leid(en) erfüllt, der es in sich aufnimmt „wie ein von allem Vergehen reines Leid“. Die Grenze des Systems moderner Intimität wird nicht überschritten, seine quantitative Bestimmtheit nicht erreicht. Dabei geht es nämlich irgendwie immer um die wechselseitige EINS der ZWEI. Wenn wir so unterscheiden, unterscheiden wir gleichzeitig ein WIR ZWEI vom Rest der Welt: WIR ZWEI und was sonst noch vor-kommt. Das „Innen“ dieses Systems ist bestimmt durch die Referenz auf das WIR, und das „Außen“, das ist alles andere. Und es ist die Spezifik der Kommunikation, die es mir erlaubt, von einem System zu reden, das absolut geschlossen ist.

Adrian:   Und was ist damit gemeint, und was ist damit gewonnen??? Tausende und abertausende von Singles stehen doch völlig frustriert genau vor dieser „Systemgrenze“, nämlich draußen!

Niklas Luhmann:   Mein lieber Adrian, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Es ist sicherlich andererseits die Skepsis gegenüber Hochstimmungen jeder Art, die sich mit anspruchsvollen, hochindividualisierten Erwartungshaltungen verbindet. Die Alternative des Abbrechens und des Alleinbleibens wird als Lebensplan ernst genommen und verstanden.

Peter Fuchs:   Ja, das ist eine nüchterne Feststellung, Schübe zunehmender Individualisierung bedeuten eben heute auch die Alternative des Alleinbleibens. Andererseits können wir die Operationen beobachten und beschreiben, die Intimsysteme begründen und erhalten. Der Code ist schlicht lieben/nicht lieben – denk an Rolands verliebtes Subjekt, das selbst nicht geliebt wird. Und da wir uns darauf verständigt haben, dass wir damit nicht eine Operation des Bewussteins meinen – ich kann dir das ein paar Sätze später überzeugend darlegen – bezeichnen wir damit die kommunikative Anzeige wechselseitiger Höchstrelevanz, also der reziproken Komplettberücksichtigung der EINS des anderen. Das Wort „Anzeige“ soll jetzt nicht das „Sagen“ allein meinen, sondern jeden als Kommunikation deutbaren Anschluss, der sich versteht als auf diese Komplettberücksichtigung bezogen. Das können Blicke sein, Auslassungen, Berührungen, das kann prinzipiell alles sein – so-lange das WIR ZWEI angesteuert wird.

Adrian:   Und warum legen sie so besonderen Wert auf die Behauptung, Intimsysteme – WIR ZWEI/Rest der Welt – würden als soziale Systeme nur über Kommunikation prozessieren? Meinen Sie schlicht die Tatsache, dass die soziale Systemgrenze für Bewusstsein nicht überschreitbar ist ebenso, wie Kommunikation niemals die Grenze eines Bewusstseins überschreiten kann?

Peter Fuchs:   Genau dies! Lassen Sie uns noch einmal auf Niklas Luhmanns Überlegungen zur Aufrichtigkeit zurückkommen: Tatsächlich gibt es im System der Intimität die Aufrichtigkeitsregel. Die Liebe darf nicht lügen und täuschen, sie darf nicht einmal etwas verbergen, aber wir haben gesehen, dass dieser kommunikative Zwang die Psychen nötigt, etwa Evidenzen der Wahrnehmung auszublenden, abweichende Bedürfnisse und Sehnsüchte auszuklammern, jede Regung des anderen zu berücksichtigen, als ob dies möglich wäre. Die Aufrichtigkeits- oder Ehrlichkeitsregel treibt in das Verschweigen hinein.

Adrian:   Moment, Sie legitimieren tatsächlich nicht nur das Verschweigen, sondern auch die Lüge???

Peter Fuchs:   Wenn Sie sich darüber ärgern, dass die Liebe und die Lüge eng miteinander verquickt sind, dann sollten Sie sich beruhigen dadurch, dass Sie an die faszinierenden Raffinessen denken, die auf diese Weise zustande kommen. Überlassen Sie die edle Einfalt einem anderen Jahrhundert.

Adrian Nemo wendet sich irritiert ab und lädt e. zu einem Heißgetränk ein, während Susanne Gaschke die Gelegenheit wahrnimmt, gleichermaßen allgemein wie spezifisch die Frage noch einmal aufzunehmen, welche Zukunft denn die Liebe bei alledem noch hat?

Susanne Gaschke:   Lieber Peter Fuchs, ich weiß, dass Sie der Libertinage unverdächtig sind. Ich erinnere mich eines Satzes von Ihnen, den Sie wohl auch in Vorlesungen immer einmal platzieren, wenn Sie darauf hinweisen, dass Sie „ein Vater von so vielen Kindern sind, wie man sie gerade noch unter Rettung eines Fingers an beiden Händen abzählen kann“.

Peter Fuchs:   Also mit solchen Schlussfolgerungen wäre ich vorsichtig. (Allerdings, denkt Adrian bei sich, die Frau ist doch zeit ihrer besten Jahre beschäftigt – außerdem kommt ihm Luhmanns Feststellung zur Betonung der Gleichheit von Mann und Frau in den Sinn, wo er meint, dass sich die Vorstellungen der Ausdifferenzierbarkeit sexuell orientierten Verhaltens wohl eher an den Mann als an die Frau zu halten scheinen: „Wenn eine Frau liebt, sagt man, liebt sie immer. Ein Mann hat zwischendurch zu tun.“ Aber dieses Fass will er an der Stelle lieber nicht öffnen.)

Susanne Gaschke:   Aber Sie würden mir doch, nachdem was sie bislang gesagt haben, darin zustimmen, dass die einzige Chance, dem Terror der veröffentlichten Liebe und dem Diktat der Intimität zu entgehen, offenbar darin besteht, ein kühles, rationales Verhältnis zu ihr zu entwickeln. Das mag zwar zunächst paradox klingen, aber nur für den, der auf einem dramatisch-romantischen Liebeskonzept beharrt.

Peter Fuchs:   Ich bin gespannt, wie Sie dies „operativ“, sozusagen als „Handlungsanweisung“ buchstabieren. Wichtig ist mir zunächst einmal, dass wir auch im Blick auf den symbiotischen Mechanismus die eigentümliche Geschlossenheit von Intimsystemen erkennen. Er ordnet sich der Funktion (reziproke Komplettberücksichtigung der EINSEN) unter und den daraus abgeleiteten Kommunikationsvorschriften. WIR ZWEI, das sind fraglos auch WIR ZWEI KÖRPER – und nicht irgendein Körper da draußen. Das Gesetz der Höchstrelevanz schließt den Körper ein – in Selbstverständlichkeit, und eben deshalb ist es nicht unproblematisch, den je eigenen Körper andere Weiden ab-grasen zu lassen, solange man Umwelt eines bestimmten Intimsystems ist. Bitte missverstehen Sie mich nicht in dem Sinne, dass ich normativ rede, ich sage nicht, das soll so sein, das ist richtig so, sondern nur, das ist die Formalpräskription, gegen die die Katastrophen „real existierender“ Intimsysteme verständlich werden. Natürlich wird fremdgegangen, aber das Entscheidende ist der Verschweigezwang der aus dieser Vorschrift resultiert.

Susanne Gaschke:   Also, wenn Sie es mir gestatten, nehme ich einmal einen etwas weiteren Anlauf – wer jetzt noch aufmerksam ist, wird es auch bleiben: Ich finde es für mich bemerkenswert, dass die systemtheoretische Variante der Soziologie tatsächlich eine eminent praktische Perspektive entfaltet. Zunächst einmal ärgert mich die Hypnotisierung durch die romantische Liebe. Was heißt hier überhaupt Liebe? Ist nur die romantische Liebe der Neuzeit das wahre Gefühl – höchst unterschiedlich repräsentiert durch das eng umschlungene Punkerpärchen vor dem Bahnhof, durch Meryl Streep und Robert Redford unter dem unendlichen Sternenhimmel Jenseits von Afrika, durch Paul und Paula, Diana und Dodi, Gerhard Schröder und Doris Köpf? Oder auch die Liebe der Siebzigjährigen, die ihre hundertjährige Mutter pflegt? Die Tränen der kleinen Tochter, wenn das Meerschweinchen stirbt, die Verehrung für einen Lehrer – ist das keine Liebe?

(„Philia“ und „Agape“ haben sich losgerissen und laufen schwanzwedelnd auf Susanne Gaschke zu, während „Eros“ lustlos mit schlaffem Stummelschwänzchen hinterhertrottet.)

Peter Fuchs:   Die nächste Vorlesung zu „Liebe, Sex und solchen Sachen“ sollten wir gemeinsam konzipieren.

Susanne Gaschke:   Ja, warum nicht. Die „Konstruktion moderner Intimsysteme“ wird sicherlich zum Dynamischsten gehören, was gesellschaftlich zu beobachten sein wird. Ihr Soziologen stellt doch primär die Frage danach, was die Gesellschaft zusammenhält. Ich erinnere mich, dass Norbert Elias als ihre anthropologische Quelle die Ausgerichtetheit auf andere beschrieben hat: das tiefgreifende emotionale Bedürfnis eines Menschen nach der Gesellschaft von anderen Angehörigen seiner Gattung. Die Sexualität sei dabei nur die stärkste, demonstrativste, keineswegs aber die einzige Form, in der sich diese Sehnsucht zeige…

(„Eros“, „Philia“ und „Agape“ belecken sich gegenseitig, we-deln mit dem Schwanz, bis es „Eros“ reicht. Er weist die beiden anderen knurrend zurecht und überführt seinen kurzen Stummelschwanz vom Wedeln in einen starrsteifen, phallischen Zustand bis er steht wie eine EINS. Unterdessen führt Susanne Gaschke ihre Situationsbeschreibung fort, indem sie darauf hinweist, dass die Menschen auch im Zeitalter der Individualisierung heiraten und dass – trotz steigender Scheidungszahlen – die meisten Ehen halten. Kinder kämen halt später und seltener als früher; doch für die Mehrzahl der Eheleute gehörten sie selbstverständlich zum Lebensentwurf; und auch besäßen viele Menschen wahrscheinlich gern ein Reihenhaus. Sie führt ihren Gedankengang weiter…)

Susanne Gaschke:   Viele werden die sexuelle Attraktivität ihres Partners mit zunehmender Ehedauer geringer schätzen als zum Zeitpunkt des Kennenlernens. Manche werden einander betrügen, einige werden wünschen, dass sie es täten, und viele werden es weder wünschen noch tun, sondern ihre ungebundenen emotionalen Kapazitäten dem Sportverein zur Verfügung stellen. Gleiches gilt natürlich, bis hin zum Adventskranz, auch für unverheiratete Paare.

Peter Fuchs:   Sie reiben sich am Konzept der „romantischen Liebe“ und sprechen davon, ein „rationales Verhältnis“ zu ihr zu entwickeln?

Susanne Gaschke:   Ja, ja, ich habe ja schon gesagt, dass dies paradox klingt. Aber meiner Meinung nach eben nur für jemanden, der auf einem dramatisch-romantischen Liebeskonzept beharrt. Ich behaupte jetzt einfach einmal, dass sich bei einer „Avantgarde“ womöglich schon bald wieder die arrangierten Ehen durchsetzen, die auf gleichen Interessen und gleicher sozialer Stellung gegründet sind.

Adrian (der die letzten Fetzen von Susanne Gaschkes Ausfüh-rungen aufgeschnappt hat ruft erregt in die Runde):   Skandal! Eine Horrorvision!

Susanne Gaschke:   Eine Horrorvision, lieber Adrian? Aber wer könnte beweisen, dass auf diese Art nicht stabilere Beziehungen entstünden, als wir sie gegenwärtig gewohnt sind? Und stabilere Beziehungen würden sofort erweiterte Widerstandsmöglichkeiten gegen die Zumutungen des neu-en Kapitalismus mit seiner Gier nach Mobilität und Flexibilität, den natürlichen Feinden von Liebe, Partnerschaft und Familie, bedeuten.

Adrian:   Jetzt bin ich in der Tat neugierig! Liebe Susanne, Sie haben meine Aufmerksamkeit wieder. Lassen Sie uns doch einmal ein familiensoziologisches Symposion simulieren oder besser noch: Stellen Sie sich vor, Sie sind jetzt die Vorsitzende einer Enquetekommission: „Die Zukunft der Familie in der postmodernen Gesellschaft“, einberufen von Gerhard Schröder und Joschka Fischer, die bringen es zusammen immerhin schon auf acht oder neun justiziable Ehebündnisse.

Susanne Gaschke (lacht, stellt sich als Rednerin mitten in den Raum, neben den Kicker, mimt eine gewichtige Pose und spielt das Spiel der Kommissionsvorsitzenden mit):   Wie auch immer sie organisiert oder zustande gekommen sein mögen – auch die Familien der Zukunft werden drei traditionelle Probleme bewältigen müssen. Es sind dies die verlässliche Regelung der Kindererziehung, die Fürsorge für alte Eltern und die bis heute ungelöste Frage, wie mit der Eintönigkeit exklusiver Bindungen einerseits und der Eifersucht andererseits umzugehen sei. Die Kommunen-Experimente der Achtundsechziger sind in dieser Hinsicht völlig unbefriedigend geblieben, haben sie doch das Eltern-Problem schlicht ignoriert und das Kinder-Problem zu sehr der eigenen Befindlichkeit untergeordnet. Die Generalbeichte jedes Seitensprungs war schließlich ebenso wenig wie Gruppensex geeignet, die Eifersucht des jeweils betrogenen Partners zu lindern. Eher handelte es sich dabei um eine ziemlich egoistische Zumutung, die zum eigenen, rücksichtslosen Vergnügen auch noch die Absolution beanspruchte. Dennoch wohnte dem Gedanken der Kommune ein utopisches Moment inne, das über die Gegenwart hinausweist: Der Mensch hat, wie Norbert Elias schreibt, viele ungesättigte „Valenzen“, sexuelle und andere, die er in anderen Menschen zu verankern sucht. Wie, wenn er sein Leben so ein-richtete, dass er sie verankern könnte, ohne andere zu verletzen? Dazu bedürfte es allerdings sowohl einer neuen Ehrlichkeit als auch einer neuen Unehrlichkeit – einer Renaissance der Doppelmoral. Vor dem Unausweichlichen dürfte niemand ausweichen: Die liebevolle Fürsorge für Kinder und für alte Eltern, mit anderen Worten, dürfte nicht allein von Lust oder Unlust der Jungen und Starken abhängen. Gleichzeitig wäre es verboten, dass Partner einander ihr Privatleben aufdrängten, um sich moralisch zu entlasten; und ebenso verboten wäre, natürlich, das Kreuzverhör. Auf der Grundlage nicht verhandelbarer Pflichten entstünde so vielleicht eine neue Freiheit, geprägt von der Einsicht, dass es schwer ist, einem anderen die ganze Welt zu sein. Das schemenhafte Bild eines solchen Projekts ist nicht die Kommune. Es ist vielmehr im Nebel der Zukunft zu erahnen als Ansammlung von Kernfamilien, die miteinander wohnen und möglichst auch arbeiten, die ihre privaten Rückzugsmöglichkeiten ebenso pflegen wie den gemein-samen Rasen, die einander bei Kinderbetreuung und Software-Installation helfen und sich gegenseitig vom Wochen-endbraten kosten lassen. Frauen würden bisweilen ihre besten Keksrezepte tauschen und gelegentlich, diskret, ihre Männer. Vieles spricht dafür, dass den Menschen diese neue Stammeskultur gefallen könnte und dass sie für alle Beteiligten spürbare Vorteile brächte. Die Zukunft der Liebe? Das ist die aufgeklärte, systemsprengende Reihenhaussiedlung.

Szenenwechsel – etwa zurückgehend zu der Stelle, wo Adrian Peter Fuchs fragt, ob er allen Ernstes neben dem Verschweigen auch die Lüge legitimiere. Ihn beschäftigte die Antwort Peter Fuchsens doch intensiv: „Wenn Sie sich darüber ärgern, dass die Liebe und die Lüge eng miteinander verquickt sind, dann sollten Sie sich beruhigen dadurch, dass Sie an die faszinierenden Raffinessen denken, die auf diese Weise zustande kommen. Überlassen Sie die edle Einfalt einem anderen Jahrhundert.“ Als einfältig versteht sich Adrian Nemo nun zu allerletzt. Da er Susanne Gaschkes Argumentation im Schlaf daherbeten kann, entschließt er sich einfach, e., die offensichtlich eine Pause hat, zu einem Kaffee einzuladen. Die ziert sich allerdings.

e.:   Ich hatte mal einen Chef, der sagte immer dann, wenn er eine nach seinem Geschmack äußerst attraktive Frau sah: „…mit der würde ich auch gern mal einen Kaffee trinken gehen…“. Was man wissen muss: Die eindeutig zweideutige Aussage „Kaffee trinken“ stand hier vielmehr als Metapher für ganz andere Dinge. Und da er diesen Satz sehr häufig sagte – er war ein großer Ästhet – ist bei besagtem Arbeitsverhältnis „Kaffee trinken“ zu einer „folgenreichen“ assoziativen Verknüpfung geworden, die mich schon hin und wieder in Situationen der Verlegenheit und Verwirrung auf der Gegenseite brachte, da natürlich kein Mensch versteht, warum ich bei „Kaffee trinken“ häufig schmunzeln muss.

Adrian (ist ziemlich verblüfft, kann sich nicht recht konzentrieren; ihm fällt nichts Besseres ein, als sich an dieser Stelle an Niklas Luhmann zu erinnern):   Ja, meine Liebe, Verstehen ist die Differenz zwischen Information und Mitteilung. Und die Entzifferung der Mitteilung ist dein Part, ist grundsätzlich die Leistung des Adressaten. Man kann sich freilich damit trösten, dass Kommunikation sicherlich in der Regel zu Missverständnissen führt und sich dann im Wesentlichen damit zu begnügen hat, diese Missverständnisse aufzuklären. (Adrian hat keine Ahnung, welcher Teufel ihn im Folgenden reitet, als er fortfährt:) Da Männer aber Schweine sind, liegt die Sache zumindest bei deinem Beispiel auf der Hand: zweifelsfrei ein Akt symbolischer Kommunikation mit eindeutigen Absichten. (Adrian wird heiß und kalt bei dem, was er da gerade gesagt hat, und noch heißer, als er e. tief in die Au-gen blickt. Gott sei Dank, dass niemand meine Gedanken lesen kann, denkt er bei sich und merkt, wie er leicht, aber sicherlich merklich errötet. Er ringt nach Fassung und denkt: Blöde Falle, mit doppelter Kontingenz ist’s nun auch schon vorbei – was tun?) Also ich nehme einen Kaffee und ich würd’ mich freuen, wenn du einen mittrinkst!

e. (grinsend, aber offensichtlich nicht abgeneigt):   Na klar, gerne – und Männer sind Schweine!?

Adrian (seine Fassung langsam wieder findend, lachend):   Na klar, Frauen aber auch.

e. (zündet sich eine Zigarette an und bewegt diese auf eine Art zwischen ihren weichen, nicht zu üppigen Lippen, dass Adrian leicht schwindelt):   Du schwindelst doch, wenn du so unverhohlen zugibst, alle Männer seien Schweine. Also da musst du dich schon erklären.

Adrian (bewussteinsmäßig in galaktischem Tempo rotierend entschließt sich für eine Variante, die ihm wenigstens von der Argumentation her Sinn zu geben scheint):   „Männer sind Schweine“ – also diese Aussage gibt nur Sinn, wenn man sie in einen argumentativen Kontext stellt; zum Beispiel in einen Mix aus moralischen und erwartungsspezifischen Vorgaben. Dieser Mix sagt dann etwas darüber aus, wie Männer sein sollen: treu, aufmerksam, fürsorglich, häuslich – ausgestattet mit Familiensinn, liebevoll, ehrlich, aufrichtig, einfühlsam, hilfsbereit, dabei aber auch anregend, geistreich, immer auch erotisch ausdrucksfähig und sexuell potent.

e.:   Ein wahrhaft bescheidenes Programm. Wo gibt es denn diese Edelexemplare der Spezies Mann?

Adrian:   Moment, das ist ja nur eine Vorstellung, moralisch und erwartungsspezifisch aufgeladen; obwohl ich gerne zugebe, dass ich immer wieder von Frauenphantasien vom Mann für alle Fälle höre. Birgit, Gisela und Claudia – gute Bekannte eines guten Freundes – haben kürzlich noch erwogen, eine entsprechende Kontaktanzeige zu schalten, um wenigstens Aspekte dieser männlichen Tugenden für sich verfügbar zu machen. Wenn man hingegen eine konsequent biologistisch, an Darwin (oder aktuell an Dawkins) orientierte Perspektive erwägt, erscheint der Mann, um seiner Funktion im evolutionären und generativen Geschehen gerecht zu werden, als ein Wesen, das aufgrund seiner genetischen und hormonellen Grundausstattung (testosterongeschwängert) und seiner vitalen Antriebsstruktur (mit deutlich aggressiv ausgerichteten Verhaltensdispositionen) als offensiv und außenorientiert, primär daran interessiert ist, seine Gene weitest möglich zu streuen. So kommt die Unterscheidung in die Welt, die den Mann hinsichtlich des binären Codes „treu/untreu“ eindeutig klassifiziert. Je nach moralischen Vorgaben muss dann natürlich jede Frau bei der Avance, die ein einschlägiges Heißgetränk ins Spiel bringt (es gibt natürlich auch noch andere eindeutig/zweideutig aufgeladene Kommunikationsmedien – z.B. den „candle-light-Wein-in-stilvoll-eingerichteter Lokalität“ – in Hab-Acht-Stellung gehen. Und sie tut auch gut daran. Denn normalerweise macht der Mann keinen Hehl daraus, wie eindeutig/zweideutig prinzipiell sein Blick als gegengeschlechtlich gepoltes Wesen auf die Frau ist und auch sein muss, damit es in der Welt nicht zum Zustand der totalen Entropie kommt. Also nein, um auf das Heißgetränk zurückzukommen; natürlich meint es immer mehr als nur notwendige Aufnahme von Nahrungsmitteln zur physiologischen Gewährleistung lebensnotwendiger Stoffwechselprozesse, wenn ein Mann eine Frau zum (Heiß)Getränk einlädt. (Adrian hört sich selbst und fühlt sich, als ob er neben sich steht).

e. (die sich bei den letzten Sätzen Adrians kräftig verschluckt hat und der beinahe die Tasse aus der Hand fällt):   Also, ich glaub’, ich muss jetzt wieder arbeiten. Aber wir sollten das Gespräch unbedingt fortsetzen. Ich weiß, wo es die beste Schoki gibt, es muss ja nicht unbedingt Kaffee sein.

Adrian (hört Susanne Gaschke über die sich womöglich schon bald wieder durchsetzenden „arrangierten Ehen“ reden und lässt sich zu einem Zwischenruf verleiten):   Skandal! Eine Horrorvision! (Danach allerdings lauscht er fasziniert Susanne Gaschkes Ausführungen und als sie endet, spendet er ostentativ Beifall. Adrian schaut in die Runde und bemerkt, wie Roger Philippe, bekann-termaßen ein entschiedener Protagonist der Libertinage, einen Zwischenruf zu den Ausführungen von Susanne Gaschke anmeldet. Adrian, der glaubt, im Mienenspiel Roland Barthes eine tief gründende Skepsis zu erkennen, bittet Roger Philippe den Ariadnefaden, pardon den roten Faden des Interviews, wieder aufzugreifen.)

Roger Philippe:   Lieber Roland Barthes, ich vermute, dass Ihnen der Horizont des Paares zu eng ist. Am anderen Ende des Geschehens fände man diejenigen, die man – je nach Bezeichnungsweisen – die „Abweichenden“ oder die „Perversen“ nennt. Sie sind ebenso abwesend wie das gesetzte Paar. Ihr Verliebter vermittelt mitunter den Eindruck, an Ihrer Stelle zu sprechen.

Roland Barthes (lässt sich von Philipp, dem Barkeeper, Feuer geben):   Nein, das verliebte Subjekt spricht nicht stellvertretend für die anderen Abweichenden. Aus einem wesentlichen Grund: es verhält sich abweichend im Vergleich zu den anderen Abweichenden. In dem Sinne, dass es weniger fordernd auftritt, weniger aufrührerisch – und weniger ruhmreich. In Bezug auf die Probleme der Homosexualität ergibt sich allerdings eine wichtige Konsequenz: Wenn man von einem oder einer verliebten Homosexuellen spricht, ist das wichtige Wort nicht „homosexuell“, sondern „verliebt“. Deshalb ist mir Susannes Perspektive etwas zu eng. Ich habe mich in jeglicher Hinsicht geweigert, einen homosexuellen Diskurs zu führen. Nicht, um den Sachverhalt zu leugnen, noch aus Zensur oder Vorsicht, sondern einfach aus folgendem Grund: weil der Liebesdiskurs eine gleich starke Verbindung zur Homosexualität wie zur Heterosexualität besitzt.

Roger Philippe:   Der Verliebte verhält sich also abweichend im Vergleich zu den „Abweichenden“, abweichend im Vergleich zu den „Begehrenden“. Herrscht aber zwischen ihnen nicht Krieg?

Roland Barthes:   Ich glaube nicht. Ich glaube, dass sie auf recht verschiedenen Gestirnen leben. Was vielleicht auch nicht lustiger ist.

Roger Philippe:   Venus den Begehrenden, und die Verliebten auf den Mond! Vielleicht verleiht ihnen das ihren dümmlichen Gesichtsausdruck. Sie schreiben selbst: „Was gibt es Dümmeres als einen Verliebten?“… Was macht ihn dumm?

Roland Barthes:   Er lebt in dem, was ich „Unwirklichkeit“ nenne. Alles, was die Leute „Wirklichkeit“ nennen, empfindet er als Illusion. Alles was die anderen amüsiert, ihre Gespräche, ihre Leidenschaften, ihre Empörungen, all das erscheint ihm unwirklich. Sein eigenes „Wirkliches“ ist sein Bezug zum geliebten Objekt sowie die tausend Zwischenfälle, die ihn begleiten –gerade das, was die Leute als seinen „Wahnsinn“ ansehen. Aufgrund eben dieser Umkehrung fühlt er sich als Gefangener einer quälenden Unangepasstheit. Und in der Praxis begegnet man tatsächlich Verhaltensweisen, kleinen Handlungen, die in den Augen des gesunden Menschenverstandes idiotisch sind… (Adrian schmeckt der Kaffee nicht mehr und er erlebt sich dabei, wie er eine Schokolade bestellt.)

Roger Philippe:   Als Asozialer ist er auch apolitisch. Sie schreiben genauer, dass er sich für Politik nicht mehr „erregt“. Sagen Sie auf diese Weise nicht, dass er keine mehr macht, dass sie für ihn nicht mehr zählt?

Roland Barthes:   Nein, ich lege Wert auf die Nuance. Denn ich empfinde sie zutiefst. Ein menschliches Subjekt funktioniert auf verschiedenen Wellenlängen. Es kann die politischen Wellen weiterhin empfangen. Aber es versteht nicht mehr, dass man sie leidenschaftlich besetzen kann. Es ist nicht „entpolitisiert“, insofern es nicht grundsätzlich gegenüber dem, was politisch geschieht, gleichgültig ist. Jedoch hat sich in ihm eine Hierarchie herausgebildet. Und es hält es für ganz außergewöhnlich, dass einen solche Dinge eben „erregen“ können.

Roger Philippe:   Man ist versucht, dem „Revolutionär-Begehrenden“ von gestern ihren „Entkrampft-Verliebten“ – entkrampft wie der Liberalismus – gegenüberzustellen… Vertreten Sie diesen Gegensatz?

Roland Barthes:   Jawohl, ich vertrete ihn. Das verliebte Subjekt ist selbst der Ort einer rasenden Besetzung. Daher fühlt es sich von den anderen Besetzungen ausgeschlossen. Das einzige menschliche Wesen, als dessen Komplize es sich fühlen könnte, wäre ein anderer Verliebter. Immerhin: es stimmt, dass sich die Verliebten gegenseitig verstehen! Doch ein politisch Engagierter ist auf seine Art auch in eine Idee, in eine Sache verliebt. Und die Rivalität ist unerträglich. Sowohl für das eine als auch für das andere. Ich glaube nicht, dass ein politisch Engagierter einen wahnsinnig Verliebten gut ertragen kann…

Adrian:   Kaum zu glauben, dass man ihn – wie Sie zu Beginn unserer Runde sagten – äußerlich nicht zu erkennen vermag. Eine solche Befindlichkeit muss doch Spuren hinterlassen und schließlich verleiht Verliebtheit in extenso ja immerhin – wie Sie sagen – einen dümmlichen Gesichtsausdruck. Den allerdings wiederum einer Verliebtheit zuzuschreiben lässt vermutlich die Vieldeutigkeit von Gesichts-ausdrücken nicht zu. Und – bei allem Respekt, lieber Roland Barthes – da ist die Systemtheorie, hinsichtlich der Annahme operativ geschlossener Systeme, im Hinblick auf Bewusstsein und Kommunikation und der damit verbundenen Vorstellung „doppelter Kontingenz“ natürlich ein erhebliches Stück weiter in der Beschreibung gerade von „Intimsystemen“. (Adrian verfällt in tiefes Sinnieren und seine Gedanken führen ihn zu der Frage, was Menschen, was Verliebte im Besonderen verbindet: gemeinsame Erfahrungen, gemeinsam angenommene und ausgetragene Differenzen, ohne dass diese Differenzen je zum Verschwinden kämen, Liebe, Vertrauen, Ver-trautheit, das Gefühl verstanden zu werden, selbst da, wo man sich selbst nicht versteht, ein Blick ohne Worte, der Blick, „der einem sagt, so wie du bist, so bist du wunderbar“, Einvernehmen und Anteilnahme selbst über viele hundert Kilometer räumlicher Distanz. Als Adrian erwacht, hört er gerade noch, wie Peter Fuchs noch einmal wechselseitige „Höchstrelevanz“ bei „Komplettberücksichtigung“ von Alter und Ego unter Absehung unübersehbarer Idiosynkrasien erläutert; Adrians Sehnsucht nach lyrischer Entspannung wird übermächtig und dennoch wird er zunächst Zeuge, wie Roland Barthes „den Verliebten“ als einen unvergleichlichen Typus skizziert, wozu es unbedingt bewusstseins- und wahrnehmungs-spezifische Äquivalente geben muss.)

Philippe Roger:   Ich sehe trotzdem eine Ambiguität. Ist Ihr Verliebter wirklich „unduldsam“, „nicht vereinnehmbar“ und somit subversiv? Oder ist er in jedem System ruhig und ungefährlich?

Roland Barthes:   Er ist ein Außenseiter. Aber, wie gesagt, auf bescheidene Weise und nicht glorreich. Sein Außenseitertum sieht man gar nicht. Es stellt keine Forderungen. In diesem Sinne ist er wirklich „nicht vereinnehmbar“.

Philippe Roger:   Aber Sie sagen doch selbst: jeden zweiten Abend wird im Fernsehen „Ich liebe dich“ gesagt. Es gibt somit eine „Förderung“ der Liebe durch die Medien. Wie ist es möglich, dass die Massenkultur „Liebe“ verbreitet, wenn dies asozial und gefährlich ist?

Adrian (denkt bei sich):   In welcher Welt leben die beiden; deren Gespräch ist gut 25 Jahre her. Was sind das für Fragen? Neill Postman ist doch inzwischen auch schon tot – mal gespannt, wie der Roland auf diese Frage reagiert...

Roland Barthes:   Das ist schon eine schwierige Frage. In der Tat: warum gibt die Massenkultur den Problemen des verliebten Subjekts so viel Raum? In Wahrheit setzt sie Erzählungen von Episoden und nicht das Liebesgefühl selbst in Szene. Das ist vielleicht eine etwas spitzfindige Unterscheidung, aber mir liegt viel daran. Wenn Sie nämlich das verliebte Subjekt in eine „Liebesgeschichte“ einsetzen, dann versöhnen Sie es eben dadurch mit der Gesellschaft. Warum? Weil das Erzählen zu den großen gesellschaftlichen Zwängen gehört, zu den von der Gesellschaft kodierten Tätigkeiten. Durch die Liebesgeschichte zähmt die Gesellschaft den Verliebten.

Adrian:   Lieber Roland Barthes, ich folge Ihnen zur Gänze. Und ich bin fasziniert von der Unterscheidung, die Sie soeben eingeführt haben, dass der gesellschaftliche Erzählzwang dem Verliebten keine Chance lässt. Aber in der mediatisierten Massenkultur entsteht ein anderes Phänomen von unglaublicher Dichte – im Fernsehen wird sekündlich geliebt, betrogen, verraten, gelitten, getötet, was Sie wollen; gestern erzählte mir noch ein guter Freund, dass seine Frau vor dem Fernseher saß und beobachtete, wie die beste Freundin ihre beste Freundin mit deren Mann betrog. Seine Frau, ein sehr impulsiver und darüber hinaus noch moralischer Mensch, ließ ihr Umfeld konsequent und heftig teil-haben durch ihre Parallelkommentare, zweifellos Kommunikation, aber vermutlich selten unmittelbarer an das authentische Prozessieren ihres Bewusstseins geknüpft, eher von der Qualität eines intensiven Selbstgesprächs. Die Chancenlosigkeit des Verliebten besteht offensichtlich darin, dass der Terror des erzählten Lebens den Blick nur noch für die Erzählung von Episoden – wie Sie sagen – freigibt. Das Liebesgefühl – selbst wo es überzeugend erzählt wird – hat keine Chance mehr. Allenfalls bei den Verliebten selbst, die im Aufbrechen ihrer Liebe vermutlich ja auch äußerst medienabstinent und damit auch medienresistent sind.

Roland Barthes:   Deshalb habe ich übrigens drakonische Vorkehrungen getroffen, damit mein Buch nicht zu einer „Liebesgeschichte“ wird. Um den Verliebten in seiner Nacktheit zu belassen; in seiner besonderen Situation, durch die er für die herkömmlichen Formen gesellschaftlicher Vereinnahmung unzugänglich wird: vor allen Dingen für den Roman.

(In diesem Augenblick betritt ein verwirrter junger Mann die Biwel und wirft viele bunte Zettel in die Runde, bedruckt mit lauter Liebesgedichten.)

Roger Philippe (lässt sich nicht irritieren):   Dies ist nicht die Arbeit eines Romanciers; es ist das Buch eines Semiologen. Und das Buch eines Verliebten. Ist das nicht ein merkwürdiges Wesen: ein „verliebter Semiologe“?

Roland Barthes:   Aber nein! Der Verliebte ist der ursprüngliche Semiologe in Reinkultur! Er verbringt seine Zeit damit, Zeichen zu lesen. Er macht nichts anderes: Glückszeichen und Unglückszeichen. Im Gesicht, in den Verhaltensweisen des anderen. Er ist den Zeichen wirklich ausgeliefert.

Roger Philippe:   Also lügt das Sprichwort: die Liebe macht nicht blind…

Roland Barthes:   Die Liebe macht nicht blind. Im Gegenteil, sie bringt ein unglaubliches Entzifferungsvermögen hervor, das mit dem in jedem Verliebten steckenden paranoiden Moment zusammenhängt. Ein Verliebter vereinigt, wie Sie wissen, Teile von Neurose und Psychose: Er ist ein Gequälter und ein Verrückter. Er sieht klar. Doch das Ergebnis ist oft dasselbe, als wäre er blind.

Roger Philippe:   Warum?

Roland Barthes:   Weil er weder weiß wo, noch wie er die Zeichen einordnen soll. Er entziffert einwandfrei, aber er kann zu keiner Entzifferungsgewissheit gelangen. Er verfängt sich in einem endlosen Zirkel, der durch nichts zur Ruhe gebracht werden kann.

Roger Philippe:   Ich komme nun zu einer Frage, die ich Ihnen schon von Anfang an stellen wollte: Waren Sie verliebt, als Sie dieses Buch eines Verliebten geschrieben haben?

Roland Barthes (lächelt):   Das ist eine Frage, deren Beantwortung ich bisher stets verweigert habe. Nun gut… Sagen wir, das Buch ist zu einem großen Teil aufgrund einer persönlichen Erfahrung entstanden; größtenteils geht es aber auch auf Lektüren und vertrauliche Gespräche zurück. Bei dem mich selbst betreffenden Teil stammt die persönliche Erfahrung nicht aus einer einzigen Geschichte. Es sind Zustände, Regungen, Windungen, die aus mehreren vorangegangenen Liebeserfahrungen herrühren. Gleichwohl – warum sollte ich es nicht sagen? – gab es eine kristallisierend wirkende Episode. Man könnte sagen, dass ich das Buch als eine Möglichkeit verstanden habe, mich nicht zu verlieren, nicht der Verzweiflung anheim zu fallen. Ich habe es geschrieben, wodurch sich die Dinge von selbst dialektisiert haben…

Roger Philippe:   Zwei notwendige Phasen?

Roland Barthes:   Ich hätte es bestimmt nicht in diesen Distanz schaffenden Sätzen, diesem Stil schreiben können, wenn ich die Dinge nicht selbst dialektisiert hätte…

Roger Philippe: Es ist demnach nicht unbedingt das Ende einer erlebten Liebesgeschichte, das zum Schreiben bewegt?

Roland Barthes:   Meiner Meinung nach tritt der Wunsch, ein solches Buch zu schreiben, in zwei Momenten auf. Entweder am Ende, weil das Schreiben eine wunderbare, besänftigende Kraft besitzt. Oder aber am Anfang, in einem Moment des Überschwangs, weil man glaubt, man werde einen Liebesroman schreiben. Um es dann dem geliebten Wesen zu schenken und zu widmen.

Roger Philippe:   Dann sind Sie schließlich doch selbst dieser Verliebte, der da spricht?

Roland Barthes:   Ich werde Ihnen auf eine Weise antworten, die wie ein Ausweichen erscheinen mag. Doch dem ist nicht so. Das Subjekt, das ich selbst bin, bildet keine Einheit. Dies empfinde ich zutiefst. Die Aussage „Das bin ich!“ hieße somit, eine Einheit seiner selbst zu postulieren, die ich in mir nicht wieder finde.

Roger Philippe:   Erlauben Sie mir daher, meine Frage anders zu stellen. Sagen Sie bei jeder nach und nach im Buch erscheinenden Figur: „Das da bin ich“?

Roland Barthes:   Ah!... Als ich ein Forschungsseminar über das gleiche Thema abhielt, zog ich Figuren in Betracht, die ich nicht selbst empfunden, die ich aus Büchern übernommen hatte… Doch das ist natürlich in das Buch eingegangen. Ja, ich habe sicherlich einen persönlichen Bezug zu allen Figuren des Buches.

Roger Philippe:   Roland Barthes, angesichts dieser „strukturalen Porträts“ des Verliebten gewinnt man oft den Eindruck, dass Sie nicht nur beschreiben, sondern auch überzeugen wollen. Darf man sagen, dass es sich – zugunsten der „Vereinigten Verliebten“ – um ein in bescheidenem Maße kämpferisches Buch handelt?

Roland Barthes:   Kämpferisch? Damit provozieren Sie mich etwas. Es ist ein Buch, das eine Wertsetzung beinhaltet.

Roger Philippe:   Und eine Moral?

Roland Barthes:   Ja, es hat eine Moral.

Roger Philippe:   Und die wäre?

Roland Barthes:   Eine Moral der Affirmation. Man darf sich von den Abwertungen des Liebesgefühls nicht beeindrucken lassen. Man muss affirmieren. Man muss ein Wagnis eingehen. Wagen zu lieben…

   
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