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Paulina Czienskowski - Das ist mutig
Ich bin ein langsamer Wegwerfer. Deshalb umgibt mich auch immer die bedrohliche Aura des Zeitungsmessis. Im Zeitungsmüll entdecke ich Entdecken vom 23. Februar ZEIT (9/23) - schon wieder Zeitungsgalaxien entfernt.
Paulina Czieskowski – das ist mutig, denke ich, sehr mutig. Eine langer Titel: 52% aller Mütter haben laut einer Umfrage das Gefühl, im ersten Jahr mit ihrem Baby zu versagen. Hier erzählt eine, was das bedeutet. Schon der erste Satz enthüllt den ganzen Irrsinn eines selbstbildbezogenen Wahnsinns in der Postmoderne, wenn die Mutter schreibt:
„Jetzt schreibe ich darüber ein Baby zu haben, weil ich ein Baby habe. Manche werden sagen, ich hätte nichts anderes zu erzählen.“
Mir fällt dazu nur ein: Jede Mutter, jeder Vater, jede Großmutter, jeder Großvater sollte darüber schreiben, was es bedeutet, Mutter, Vater, Großmutter, Großvater zu werden, zu sein. Allein schon, um sich und anderen Rechenschaft zu geben darüber, was im Leben zählt. In einem Leben, das im Übrigen zu kostbar, zu aufwendig, zu lebenszehrend ist, um es auf Schlachtfeldern zur Schlachtbank zu führen. Die Unfassbarkeit, der Wahnsinn, der in Akten beruht, das zu zerstören, was Paulina Czienskowski – ohne dass ich ihr diese Absicht hier explizit unterstelle – stellvertretend für alle Mütter (und für so manchen Vater) in die Welt schreit. Dabei schreit sie doch nur ihre Versagensängste in die Welt! Aber dieser Schrei springt uns alle an, weil er offenbart, was es wohl (heute) bedeutet, Kinder in diese Welt zu befördern.
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Für Winfried
Vor mir liegt Kästner für Erwachsene – Ausgewählte Schriften, Band vier (Atrium Verlag, Zürich 1983). Es handelt sich um Winfried Röslers Handexemplar, vielfach kommentiert und markiert; eine seiner Fundgruben zur inhaltlichen Gestaltung seiner Soirées und Vorträge. Ostern 2022 – vor einem knappen Jahr ist Winfried Rösler verstorben. Im Sinne Helga Schuberts möchte ich heute an ihn erinnern. Diese Vorstellung vom doppelten Weiterleben, wie es Volker Weidermann nennt (die Toten in uns und wir, nach unserem Tod, in den Lebenden), soll hier Gestalt annehmen, indem ich eine handgeschriebene Aufzeichnung Winfrieds wiedergebe. Ich übernehme sie originalgetreu aus einer seiner Kladden (und hoffe auf Nachsicht des einzigen Alemannen, den ich kenne – er beherrscht jenes Idiom, dem Winfried Rösler hier versucht die Ehre zu geben). Der zweite Text ist jenem erwähnten Handexemplar entnommen – aus Kästners Nachwort zu seinen biographischen Aufzeichnungen Als ich ein kleiner Junge war. Damit möchte ich beginnen (Hervorhebungen, FJWR) – und ich weiß, Winfried wird es gefallen:
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Andreas Kruse: Wann bin ich alt?
Andreas Kruse wird in der ZEIT (15/23) als einer der bedeutendsten Altersforscher Deutschlands vorgestellt. Unter dem Titel Wann bin ich alt, Herr Kruse? befragen ihn Anant Agarwala und Jeanette Otto.
Seine erste Antwort darauf lautet: „Sie werden dann von sich sagen, Sie sind alt, wenn sie körperlich, seelisch und geistig große Verluste erleben.“
V E R L U S T - Erfahrung als Maßstab für subjektives Gewahrwerden von Alter. Das gibt Sinn. Wie antwortet der erfahrene 67jährige Wissenschaftler auf die Frage, wie alt er sich fühlt?
„Ich fühle mich so alt, wie ich bin. Aber man muss aufpassen: Wir haben ein körperliches, ein geistiges, ein seelisches und vielleicht so etwas wie ein existentielles Alter. Mein Körper ist noch leistungsfähig. Auch mein Geist. Und bei meinen Emotionen erkenne ich, dass sie sich differenzieren und irgendwie tiefer werden, ich verstehe sie besser.“
Anant Agarwala (33) und Jeanette Otto (Mitte 50?) agieren vorsichtig in ihrer Fragehaltung – sie können ja noch nicht mitreden: „Wir haben gelesen, das Menschen ab etwa 63 Jahren von sich sagen, langsam alt zu werden, aber erst mit 85 das Gefühl haben, richtig alt zu sein.“
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Volker Weidermann (ZEIT 15/23): Worauf freuen Sie sich nach dem Tod?
Karfreitag 2023 - Eine Offenbarung
7. April 2023 – Karfreitag – nach einem kurzen Frühlingserwachen Karfreitagsstimmung mit Eintrübung, Nieselregen. Ich blicke von meinem Arbeitsplatz hinauf zum Heyerberg, seit fünf Jahren mein unfassbar privilegierter Ausblick mit den steilen Weinbergen vor Augen, die uns hier umgeben. Vor meinen Augen schultert Jesus das Kreuz - ich blicke von meinem Schreibtisch aus auf die zweite Station des Stationenweges - von Philipp Dott 1963 in dreizehn Stationen aufwendig gestaltet (in der Werkschau sind alle dreizehn Stationen fotografisch gut nachvollziehbar dokumentiert - weit nach unten scrollen). Heute morgen während des Frühstücks haben wir uns gemeinsam (zu zweit) an die Bedeutung des Karfreitags in unserer Kindheit erinnert. Auch wenn wir uns abgewendet haben von der Katholischen Kirche, bleibt unleugbar der tief habitualisierte kulturelle Einfluss unbestritten. Mühelos gelingt es mir die besondere Karfreitagsstimmung in Erinnerung zu rufen: Der Leidensweg Jesu war bildhaft tief in uns eingeschrieben. Der Karfreitag war der Tag der Trauer, des Innehaltens - für mich eindrücklich symbolisiert durch das Schweigen der Glocken. Die erklangen erst mit der Auferstehung des Gekreuzigten wieder. Sie trugen den Jubel in die Welt mit allen Glocken, die das Zeug hatten zu läuten; den tiefen, dumpfen, den basso continuo verbürgenden mächtigen Glocken bis hin zu den kleinen und kleinsten Glöckchen, die die Auferstehung Jesu für alle hörbar in allen Höhen und Tiefen erklingen ließen. Davon ist nichts geblieben als schale Erinnerung, der indessen jegliche Überzeugungskraft genommen wird. Die Kirche entfernt sich bis zur Unkenntlichkeit von uns.
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Harald Welzer: Biographisches – Kommunikatives – Kulturelles Gedächtnis
Was habe ich mit Vladimir Nabokov gemeinsam? Harald Welzer vermittelt mir am Ende seines X. Kapitels zu seiner Schrift Das kommunikative Gedächtnis (München 2017) den Unterschied zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis – jenes kulturellen Gedächtnisses,
„das sich Aleida und Jan Assmann zufolge dann zu etablieren beginnt, wenn kein Erzähler mehr existiert, der das in Rede stehende historische Geschehen noch miterlebt hat“.
Und es wird auch klar, was den Unterschied zwischen beiden ausmacht, nämlich wenn wir uns vergegenwärtigen, dass es bei letzterem deutlich mehr um Geschichts-, Vergangenheits- und Erinnerungspolitik geht, also vor allem auch um politisch und moralisch definierte Formen der Angemessenheit, wie Harald Welzer feststellt. Er bemerkt nebenbei, man könne sich dies am besten an den Gestaltwandlungen vor Augen führen, die der Holocaust in den letzten Jahrzehnten im kulturellen Gedächtnis erfahren habe. Das kommunikative Gedächtnis ist an Akteure gebunden, an Menschen, die sich erinnern (Akteure II und III) und ihre Erinnerungen in einen kommunikativen Kontext einbringen. Geschieht dies nicht, kommt es zu kommunikativer, und in der Folge zu identitätsbedrohender Atrophie (durch Erzählmangel).
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