Sina Pousset: „Meine Mutter war Sanftheit. Sie war Wärme, Liebe für alles, was lebt:“
ZEIT 48/24, Seite 64-65
Sina Pousset liefert uns eine kosmische Definition jener Allliebe – vielleicht eine Annäherung an die Vorstellung von Agape, jenseits von Eros und umfassender als Philia?
Die Mutter wird von Sina Pousset auf eine ungewöhnliche Weise – und gegen den Zeitgeist – erhöht zur großen Liebe der Tochter:
„Ich bin Einzelkind. Meine Mutter ist das Fundament, auf das ich meine Welt gebaut habe. Sie war mein Nordstern, meine beste Freundin. Ich glaubte an mich, weil sie an mich geglaubt hat. Mit ihrem Tod verliere ich nicht nur sie, sondern auch mich.“
Sina Poussets Mutter verstirbt mit 60 Jahren an Krebs. Sina Pousset ist 30 Jahre alt und trägt das Enkelkind ihrer Mutter unter ihrem Herzen:
„Vor der OP hat sie meinem Vater und mir eine Notiz geschrieben: >Meine Beiden, meine Liebe ist immer bei Euch.< - >Du hast mir genug Liebe für mein ganzes Leben mitgegeben<, sage ich ihr, bevor sie stirbt.“
Die ZEIT räumt Sina Pousset 1 ½ Seiten ein, um die Frage zu beantworten: „Wie lang darf dieser Zustand (der Trauer) anhalten?“ Sina Pousset begreift den Tod der Mutter mit Derrida als einzigartigen Riss in der Welt, ein Verlust, mit dem sie nicht fertig wird. Sie will nicht fertig werden. Sie fragt: „Ist meine Trauer überhaupt ein Zustand – etwas, das vorübergeht?“ Sie zweifelt an der Geltungskraft moderner Ideologie bzw. der Ideologie der Moderne, wonach ein Trauerprozess nur als gesund gilt, sofern er abgeschlossen ist.
Die kosmische Dimension einer alles überstrahlenden, alles bewahrenden, alles heilenden Liebe löst sich in Sina Poussets Schilderungen auf in so ungemein praktische Zwänge und Unlösbarkeiten, die letztlich eine anderes Bild zeichnen von einer so unfassbaren Verlorenheit in den brutalen Realitäten einer Moderne, die zuvorderst zeugen von einer zerreißenden Ortlosigkeit, einer Verlorenheit in Zeit und Raum. Und dazu passt zunächst einmal die wehmütige Klage:
„Sie fehlt überall. Meiner Tochter muss ich von ihr erzählen. Ich sage: Blau war ihre Lieblingsfarbe. Rosen waren ihre Lieblingsblumen. Ich will sagen: Omi hat dein Kicken gespürt, ihre Augen weit vor Freude. Sie hat dich geliebt, ohne dich zu kennen.“
Und es braucht Zeichen – reale Zeichen dieser Liebe:
„Nach ihrem Tod bringt ein Paketbote ein blau gestreiftes Babyset, einen Strampler, ein Lätzchen und eine Wickeltasche mit einem kleinen Segelboot. Ich finde den Katalog in ihrem Zimmer, ein Eselsohr auf einer Seite. >Weißt du, wer dir das gekauft hat?< frage ich meine Tochter später. >Die Omi.<
Ja, so sind Omis. Aber wenn dies alles so ist, und wenn Rainer Maria Rilke – wie so unfassbar oft – Sprache findet für das, was uns im Innersten berührt, dann scheint im kosmischen Strahlen vielleicht auch Trost auf: „Vergangenheiten sind dir eingepflanzt, um sich aus dir, wie Gärten, zu erheben.“
Auch Opis können hiervon Zeugnis ablegen:
Necdet Avunc - so schreibt seine Tochter, Esrin Korff-Avunc - wurde am 4. September 1939 in Manisa in der Türkei geboren und wuchs in Izmir auf. Er kam mit Mitte zwanzig als Gastarbeiter nach Deutschland. Er heiratete eine Deutsche, wurde Bankkaufmann; die beiden - Necdet und Uta - wurden Eltern dreier Töchter. Ich zitiere nun einen Abschnitt aus Esrin Korff-Avuncs Artikel, mit dem sie in der ZEIT (17/21, S. 60) anlässlich des Traueraktes für die Toten der Corona-Zeit am 18.4.2021 den Verlust ihres Vaters beschreibt:
"Leider weiß ich nicht viel über die Kindheit meines Vaters in der Türkei, er sprach kaum davon. Allerdings: Von meiner Tochter Clara erfuhr ich jetzt, dass ihr Opa ihr vorschwärmte, wie er als Kind im Meer mir rosa Delfinen schwamm. Zu seiner Enkelin hatte er eine ganz besondere Bindung und sagte mir noch vor seinem Tod, dass es keine Worte für seine Liebe zu ihr gebe."
Es ist wohl die Liebe, die unsere Liebsten nicht zu Anekdoten werden lässt, wie Sina Pousset fürchtet. Sich fürchtet sich aber auch vor den unausweichlichen Kinderfragen, auf die sie antworten muss/will:
„Ist Omi tot? Mami, wirst du sterben? Und ich?“
Ja, wir werden alle sterben! Aber die Liebe der Mutter Sina Poussets, und die Liebe Necdet Avuncs werden nicht sterben. Und Sina Poussets trotzige Forderung: „Ich will meine Mama“ wird sich zurechtrütteln in einer Welt, die uns so vielfach entgleitet.
Sie hat sich schon zurecht gerüttelt. Denn ihre Tochter beginnt mit bunten Klötzen zu bauen und die Mama sagt:
>„Das bist du, ich, Papa, deine Mama, deine Oma“. Sie (die Tochter) beginnt bunte Klötze zu stapeln: >Wir bauen ein Haus für deine Familie!< Ich schaue auf ihr zartes Haar, das der Ventilator ihr aus dem Nacken weht. Fühle eine endlose Liebe für sie, dieses neue Geschöpf, wie meine Mutter für mich. Vor dem Balkon Vögel, Zikadenzirpen. Genau das ist die Aufgabe, denke ich: uns allen ein Haus bauen, in dem wir leben können.“<
Ich will es nicht Traum nennen. Ich nenne es Vision – eine Vision, für die ich mein ganzes Leben lang (abgesehen von meinen kurzfristigen Irrungen und Wirrungen) kämpfe und einstehe. Und Sina Pousset mag ich zurufen: Ja, beginne zu bauen. Du hast alles, was du brauchst in dir: Die Liebe deiner Mutter, deines Vaters. Sie bilden einen vielleicht noch nicht formulierten weiteren – vielleicht den letzten Hauptsatz der Thermodynamik, wonach die Liebe, die man teilt, sich nicht nur verdoppelt, sondern als kosmisches Hintergrundstrahlen unauslöschlich bleibt. Aber nur für die, die zu lieben vermögen. Wladimir P. und seine Geistesbrüder – uns schwestern gehören nicht dazu, solange nicht, wie sie nicht jemand mit seiner Liebe aus ihrem Wahn, ihrer Hybris, ihrer Menschenverachtung erlöst.
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