»sorgt euch! …und hört auf, euch zu vereinbaren.«
Vereinbarkeit ist die Lösung! Wirklich? Ein kritischer Blick auf die aktuelle Vereinbarkeitsdebatte. Und ein Appell für mehr Care ...
Esther Konieczny und Lena Stoßberger gehen davon aus, es bestehe das Risiko, dass Vereinbarkeit die existierende Über- und Unterordnung stabilisiere, da Vereinbarkeitsinstrumente versuchten, „innerhalb des Systems zu optimieren, anstatt das Nebeneinander von Erwerb und Care als Ganzes neu zu denken.“ Diese „kühne Behauptung“ versuchen die Autorinnen im Magazin les enfants terrible – gutes neues arbeiten anhand von drei Thesen zu untermauern. Hierzu ein paar Anmerkungen verknüpft mit der Absicht den Kontext zu erweitern. Hierzu nehme ich Bezug auf soziologische Befunde sowie die relativ aktuellen Überlegungen Eva von Redeckers zu einem „radikal neuen Freiheitsbegriff“.
Ihre Ausgangsthese fassen Esther Konieczny und Lena Stoßberger folgendermaßen zusammen:
„Erwerbsarbeit und Care-Arbeit konkurrieren um die knappe Ressource Zeit. Es ist ein Erbe der Industrialisierung, dass produktiver (Erwerbs-)Arbeit ein höherer Wert beigemessen wird als reproduktiver Sorge-(Arbeit). Dieses Über- Unterordnungsverhältnis stabilisiert und manifestiert gleichermaßen unsere kapitalistische Wirtschaftsordnung wie auch die noch überwiegend patriarchalen Gesellschaftsstrukturen […] Die Globalisierung von Betreuungs- und Care-Aufgaben, die so genannte global care chain setzt das kapitalistische Prinzip der Über- und Unterordnung fort, produziert ein Care-Prekariat und ist letztlich eine Aussage darüber, welchen Wert wir Care als Gesellschaft zuschreiben.“
Esther Konieczny und Lena Stoßberger erweitern ihre kapitalismuskritische Grundhaltung folgerichtig mit der Aufforderung:
Die Frage, die wir stellen müssen, lautet vielmehr: Was ist das gute Leben?
Die nüchterne Analyse im Zusammenhang mit Globalisierungseffekten, zunehmenden Individualisierungsschüben und ihren Folgen ist ein alter Hut: Reflexartig kommt uns Richard Sennett in den Sinn (siehe auch hier eine eigenwillige Adaption durch Ulrich Beck - ich habe sie seinerzeit dankbar aufgenommen, um das eigene Driften in dieser Welt der Spätmoderne besser verstehen zu können). Allein der WiKipedia-Eintrag zu seiner These vom Flexiblen Menschen führt uns unmittelbar in medias res:
„In seinem Werk Der flexible Mensch (The Corrosion of Character), 1998, beschreibt Sennett die Auswirkungen des neuen Flexiblen Kapitalismus auf den Charakter. Durch die Flexibilisierung der Arbeitswelt verlieren Wertvorstellungen und Tugenden an Bedeutung: z. B. Treue, Verantwortungsbewusstsein und Arbeitsethos ebenso wie die Fähigkeit, auf sofortige Befriedigung von Wünschen zu verzichten und Ziele langfristig zu verfolgen. Gründe für diese Entwicklung sind für Sennett die Beschleunigung der Arbeitsorganisation, die stetig wachsenden Leistungsanforderungen, die zunehmende Unsicherheit der Arbeitsverhältnisse (Prekarisierung) sowie die Notwendigkeit, jederzeit aus beruflichen Gründen den Wohnort zu wechseln.“
Drei Jahre später - 2001 - erscheint bei Suhrkamp eine Sammlung von Aufsätzen unter dem Titel: Der neue Mensch (Frankfurt 2001). Das von dem Soziologen Karl Otto Hondrich verantwortete Inhaltsverzeichnis zu diesem Band liest sich wie eine Operationalisierung des Ansatzes von Richard Sennett (alle Hervorhebungen in der Folge werden von mir vorgenommen):
- Der individualisierte Mensch – und seine Bindungen
- Der flexible Mensch – und seine Sicherheiten
- Der sozialversicherte Mensch – und seine Solidaritäten
- Der solidarische Mensch – und seine Grenzen
- Der weltbürgerliche Mensch – und seine Nationalität
- Der friedfertige Mensch – und seine Feindbilder
- Der kommunizierende Mensch – und seine Missverständnisse
- Der genoptimierte Mensch – und sein soziales Erbe
- Der zukunftsgläubige Mensch – und seine Herkunftszwänge
Aus letzterem Aufsatz füge ich ein längeres Zitat an – auch in der Absicht, in der Folge die Begriffsverwendungen bei Konieczny/Stoßberger kritisch zu hinterfragen.
„Heute, im Zeichen weltweiter ökonomischer und kultureller Vernetzung, erscheint die Option zum Weltbürger nicht nur als eine Entfaltungschance, sondern fast als eine Notwendigkeit: Das Individuum muß in vielen Fällen aus seinen engeren Herkunftsbindungen heraustreten, um in Zukunft bestehen zu können. Illusionär ist allerdings die Annahme, daß Herkunftsbindungen dadurch aufgehoben oder auch nur schwächer würden. Das Gegenteil ist der Fall. Denn nur in nicht selbstgewählten Primärbeziehungen, die gar nichts anderes sein können als Herkunftsbindungen an Familie, Sprach-, Wert- und Gewaltmonopolgemeinschaft, gewinnt das Individuum die Anerkennung und Selbst-Sicherheit, die nötig sind, um selbstgewählte Zukunftsbindungen – noch dazu mit Menschen anderer Sprache und Sozialisation – eingehen zu können.
Herkunftsbindungen im eng begrenzten und sicheren Rahmen sind die Voraussetzungen für erweiterte und selbstbestimmte Zukunftsbindungen. Und diese führen aus den Herkunftsbindungen nicht nur hinaus, sondern auch wieder in sie zurück. Denn alle Beziehungen, die wir den weltweiten Waren-, Arbeits-, Liebes- und Bekanntschaftsmärkten selbst wählen oder bestimmen können, können von uns selbst und – was viel schlimmer ist – von den anderen, also gegen unseren Willen, abgewählt werden. Jeder aktive Wahlakt an jedem Markt hat sein passives Pendant: das Nichtgewähltwerden, das Fallengelassenwerden. Wohin aber wenden wir uns, Schutz und Halt suchend, wenn wir früher oder später zu denjenigen gehören, die noch nicht oder nicht mehr gewählt werden und neue Wahlbindungen nicht aus dem Ärmel schütteln können? Es bleiben uns die Eltern, Geschwister, eigene Kinder, alte Freunde, der Sozialstaat: alles Herkunftsbindungen, die wir nicht selbst gewählt haben und die uns deshalb auch nicht abwählen und fallen lassen dürfen. Ohne sie wäre der Ausflug in die >reine Zukunft unserer Wahl<, so vielversprechend er zunächst beginnen mag, am Ende ein Horrortrip ins Niemandsland.“ (S. 198f.)
In Eva von Redeckers Bleibefreiheit findet sich im zweiten Kapitel Erfüllte Zeit ein Unterkapitel, das mit dem Titel überschrieben ist: Wir werden unfrei geboren. Selbst wer in günstige Umstände hineingeboren würde, sei deshalb noch lange nicht von Anfang an frei: „Von Anfang an sind alle, wirklich alle, eben genau nur das: Anfang.“ Sie zitiert die Denkerin Sophie Lewis mit einer Passage: „Sie schreibt wunderbar treffend über die Liebe, dass sie darin bestehe, für jemandes Freiheit zu kämpfen und sie mit Fürsorge zu überhäufen zu wollen.“ (S.99) Auch hier gilt wohl die Einschränkung, dass man schon in günstige Umstände hineingeboren werden muss, um im Sinne von Sophie Lewis und Eva von Redecker diesen Gedanken im Hinblick auf das Neugeborene noch zuspitzen zu können:
„Liebe besteht darin, für jemandes Freiheit zu kämpfen, indem man sie mit Fürsorge überhäuft. Die Zuwendung ist kein Hindernis der Freiheit, sie ist ihre Bedingung. Wir werden wirklich unfrei geboren.“ (S.99)
Und Erwachsen sein hat vornehmlich aus der Sicht Sophie Lewis‘ und Eva von Redeckers etwas damit zu tun, „zur Selbstbefreiung fähiger geworden zu sein“: Eine der grundlegenden Formen der Selbstbefreiung bestehe dann darin, selbst zu entscheiden, wessen und welche Zuwendung wir suchen.
Wenn es für uns gut gelaufen ist – die Überhäufung mit liebevoller Fürsorge – dann werden die meisten von uns sich auf die von Karl Otto Hondrich in den Mittelpunkt gestellten Herkunftsbindungen besinnen. Bestätigen wird sich dies dann – aber natürlich auch nur bestenfalls – im Erleben der eigenen liebevollen Fürsorge für eigene (oder angenommene) Kinder.
Die von Konieczny und Stoßberger unter dem provokativen Titel: »sorgt euch! …und hört auf, euch zu vereinbaren.« angestellten Überlegungen passen in den aufgespannten argumentativen Kontext. Konieczny und Stoßberger entwickeln am Beispiel der care-Arbeit eine kapitalismuskritische Position:
„Erwerbsarbeit und Care-Arbeit konkurrieren um die knappe Ressource Zeit. Es ist ein Erbe der Industrialisierung, dass produktiver (Erwerbs-)Arbeit ein höherer Wert beigemessen wird als reproduktiver Sorge-(Arbeit). Dieses Über- Unterordnungsverhältnis stabilisiert und manifestiert gleichermaßen unsere kapitalistische Wirtschaftsordnung wie auch die noch überwiegend patriarchalen Gesellschaftsstrukturen […] Die Globalisierung von Betreuungs- und Care-Aufgaben, die so genannte global care chain setzt das kapitalistische Prinzip der Über- und Unterordnung fort, produziert ein Care-Prekariat und ist letztlich eine Aussage darüber, welchen Wert wir Care als Gesellschaft zuschreiben.“
Mehr noch: Mit ihrer Frage: „Was ist das gute Leben?“ und dem kritisierten Zeitbegriff fügt sich ihr Anliegen relativ nahtlos in die Überlegungen Eva von Redeckers ein. Auch sie markiert eine kapitalismuskritische Position, die den Ausgangsthesen Koniecznys und Stoßbergers weitgehend entspricht. Eva von Redecker rekurriert auf das vielbeachtete Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021, das feststellt, es sei unrechtmäßig, Klimaschutzmaßnahmen stark ungleichmäßig über die Zeit zu verteilen. Auch wenn damit konstatiert wird, dass wir unsere Freiheit aktuell auf Kosten der nachfolgenden Generationen ausleben, kritisiert von Redecker, das der Freiheitsbegriff, mit dem das Urteil operiere, weiterhin derjenige sei, in dessen Fokus vor allem die „gerechte Verteilung von Brennstoff-Besitz“ stehe. Klimaschutz werde als unbedingt notwendig behandelt, trete aber als Freiheitsblocker auf den Plan:
„Das Freiheit auch im Reichtum einer lebendigen, biodiversen Welt oder in der kollektiven Macht einer Neuerfindung unserer Lebensform liegen könnte: Das kommt nicht in den Blick.“ (S. 14)
Eva von Redecker geht es hingegen um eine vollständige Revision des verfassungsmäßigen Freiheitsverständnisses. Sie führt die in ihren Konsequenzen revolutionäre Idee einer Verzeitlichung der Freiheit ein:
„Eine tatsächliche Verzeitlichung der Freiheit würde aber sehr viel mehr umfassen, als dieselbe Reisefreiheit in die Zukunft hinüberzuretten. Es könnte heißen, Freiheit selbst anhand der verfügbaren, lebbaren Zeit zu bemessen. Nicht: Wie viel Raum darf ich nehmen? Sondern: Wie viel Zeit ist mir vergönnt? Jetzt, nachher, auf lange Sicht? Von Freiheit über die Zeit hinweg käme man auf Freiheit an Zeit. Der Begriff der Bleibefreiheit kann diese Facetten bündeln. Gönnen wir den zukünftig Lebenden diese Freiheit? Die Umstellung, sich Freiheit selbst als Zeit vorzustellen, vollzieht sich nicht leicht. Sie ist keine bloße gedankliche Operation, sie berührt alle unsere Impulse und Interessen.“ (S. 14f.)
Das radikal Neue an dem hier aufscheinenden Freiheitsbegriff bürstet unsere gewohnten Wahrnehmungsmuster genauso gegen den Strich, wie unsere gewohnten Handlungsmuster. Diese Umkehrung kommt einer Umwertung aller tradierten Werte gleich und knüpft eine Akzeptanz gleich an mehrere Bedingungen, die jedenfalls - setzt man globale Perspektiven voraus – nicht ansatzweise erkennbar sind. Das heißt, sie sind nicht gegeben – sie müssen durchgesetzt, erkämpft werden. Allein schon der folgende Hinweis enthält unabsehbares Spaltungspotential:
„Was, wenn Freiheit nicht heißt, Raum haben; wenn sie sich nicht in Bewegungsspielräumen bemisst? Lässt sich Freiheit sich dann zeitlich denken, fühlen und fordern.“
Eva von Redecker argumentiert dementsprechend für eine neue Figur, die sie Bleibefreiheit nennt: „Das >Bleiben< dehnt die Freiheit in die Zeit hinein aus.“ Zunächst sei Zeit einfach Dauer und – betrachtet aus der Perspektive des individuellen Lebens – eine endliche Spanne. Entsprechend beharre eine solche Bleibefreiheit auf dem Wert des sterblichen, irdischen Lebens. Dann aber dränge eine solche Facette der Freiheit auf die andauernde Sicherung bestmöglicher Lebensbedingungen für alle! (S. 107)
Der sich hier andeutende Freiheitsbegriff ist folgerichtig vollkommen unvereinbar mit Phantasien eines kapitalistischen Wachstums, das auf einen ewigen Zeitstrahl ziele:
„Haben, um mehr zu haben, investieren, um mehr investieren zu können: Die Akkumulation ist unendlich. Es ist die vielleicht kläglichste Unendlichkeit, in der Menschen sich je eingerichtet haben.“ (S. 70)
Eva von Redecker lässt uns ansatzweise erkennen, wie sehr ihr Gegenentwurf eingreift in tradierte, in der Regel habitualisierte Wahrnehmungs- und Handlungsmuster. Während der gängige Freiheitsbegriff uns tatsächlich einen Ausstieg aus der Zeit antrage , verweigere die Bleibefreiheit den Ausstieg aus der Zeit:
„Sie hält sich an die endliche, diesseitige Lebensspanne und bemisst Freiheit im ersten Schritt einfach an der Lebenszeit“ – versehen mit dem Hinweis, mehr Zeit an sich bedeute nicht schon mehr Freiheit.
„Und selbst wer von außen besehen mehr Muße genießt, kann unter Depressionen leiden, kann einsam, ausgebrannt oder gelangweilt sein, kann also Zeit haben, ohne dass diese erfüllt wäre. Bleibefreiheit ist Zeitfülle, und zugleich ist sie viel mehr […] Wenn man denkt, dass Freiheit hieße, mit seiner Zeit machen zu können, was man will, dann ändert man diese kapitalistische Zeitform nicht […] Eine leere, durchgetaktete, letztendlich abstrakte Zeit ist hingegen] die Voraussetzung dafür, im klassischen Lohnarbeitsverhältnis seine Arbeitskraft verkaufen zu können.“ (S. 66)
Eva von Redecker hat eine erfüllte Zeit im Sinn. Erfüllte Zeit ermögliche es uns, bleiben zu können, ohne unfrei zu werden: „Darum kommt es mir im Folgenden auf die Zeit selbst an, auf die Form, die wir ihr geben.“ (S. 67)
Die Bezüge, mit denen Eva von Redecker ihre Position ausdifferenziert, sind vielfältig. Ihre Argumentation ist so dicht, dass eine Lektüre des eben einmal 158 Seiten umfassenden Essays (oder wenigstens einer Zusammenfassung ihrer Argumentationslinie) alternativlos bleibt.
Nehmen wir nur einmal jene Klammer, die im Rauschen eines globalisierten, dynamisierten Kapitalismus naturgemäß untergeht. Bezug nehmend auf Simone de Beauvoir und Hannah Arendt weist sie darauf hin, dass ein Schlüssel zur Freiheit im Vollzug des Handelns zu sehen sei:
„Dieser Vollzug kann gelingen, wenn er Verbindung zu den äußersten Punkten in unserem Leben aufnimmt: Geburt und Tod […] Vermittelt über die Sterblichkeit und die Gebürtlichkeit können wir alles, was wir tun, in ein Licht rücken, in dem es sinnvoll oder veränderbar wird. Wenn das gelingt, wird aus bloßem Leben Freiheit.“
Gleichwohl hört sich dies abstrakt an. Aus diesem Grund bleibt es eben alternativlos sich Eva von Redeckers Kompass ein Stück weit anzuvertrauen und zu lesen: „Den Tod sehen“ (S. 48) – „Hier bleiben, sterblich bleiben“ (S. 62) – „Die Geburt wiederholen“ (S. 83) „Wir werden unfrei geboren“ (S. 98) – „Ordnung der Mutter“ (S. 109) – „Welche Mutter und wie viele?“ (S. 113)
Im Gesamtkontext der Anliegen die Esther Konieczny/Lena Stoßberger, Eva von Redecker formulieren; auf dem Hintergrund der Analysen Richard Sennetts und Karl Otto Hondrichs liegt mir vor allem abschließend an einer Bemerkung, die sich mit der Begriffsverwendung bei Koniezcny/Stoßberger ergeben hat:
Sorgt euch! Man kann mit dem Begriff der Sorge im Sinne Heideggers ein grundlegendes Strukturelement des Daseins verbinden: Die Sorge als Sein des Daseins (Sechstes Kapitel in Martin Heideggers Sein und Zeit, Tübingen 1979, Erster Teil, Sechstes Kapitel, Seite 180-230). Bemerkenswert hier ist, dass in diesem sechsten Kapitel die Grundbefindlichkeit der Angst mit in der Vordergrund rückt. Hans Joachim Störig kommentiert dies in seiner Kleinen Weltgeschichte der Philosophie (Stuttgart 1999, S. 683f. - Hervorhebungen WR) folgendermaßen:
„Das Dasein in der Welt hat die Seinsart der Bekümmerung, wie Heidegger sagt, der Sorge. Es hat die Seinsart des Besorgt-Seins, des Besorgens. Diese Sorge des Menschen geht (zwar auch) auf anderes, ihn umgebendes Seiendes, auf die Dinge (das >Vorhandene<), und auf das >Zeug< oder >Zuhandene<, im Kern aber immer auf die eigene Seinsweise […] Die menschliche Grunderfahrung ist Angst. Die Angst ängstet sich nicht so sehr vor anderem Seienden, sondern um das In-der-Welt-Sein als solches, schärfer gefasst: um die Möglichkeit des eigenen Nicht-Seins. Die Angst ist die radikale Erfahrung, in der dem Menschen das Seiende im Ganzen entgleitet: Er begegnet seinem eigenen Tode. Der Tod begegnet aber dem Dasein nicht von außen her. Er gehört ihm zu: Dasein ist nur als Sein-zum-Tode. Aus dieser Begegnung mit dem eigenen Tod als der absoluten Grenze entspringt die eigentliche Bedeutsamkeit und Dringlichkeit des menschlichen Daseins. Verfügten wir über eine unendlich lange Zeit, so wäre nichts dringlich, nichts wichtig, nichts ‚wirklich’. Für gewöhnlich schließen wir die Augen vor diesem Sachverhalt. Wir vergessen, dass wir angesichts des Todes unser je eigenes, unverwechselbares Leben zu verwirklichen haben. Wir gleiten ab ins Uneigentliche, ins Unverbindliche, ins ‚man’. Besinnung aber lehrt uns erkennen, dass der Tod uns zur Übernahme der eigenen Existenz aufruft, er offenbart die Unwiderruflichkeit unserer Entscheidungen, ruft uns auf zum eigentlichen und eigenen (‚je meinen’) Leben in Freiheit und Selbstverantwortung […] Zeitlichkeit ist der Sinn der eigentlichen Sorge, Zeitlichkeit ist das Grundgeschehen des Daseins. Dasein >hat nicht ein Ende in der Zeit, sondern existiert endlich<.“
Das Dasein in der Welt hat die Seinsart der Bekümmerung, wie Heidegger sagt, der Sorge. Es kommt nicht von ungefähr, wenn Heidegger im Kapitel um die Sorge die Grundbefindlichkeit der Angst betont. Wir sorgen uns – nicht, und möglicherweise nicht zuvorderst um uns selbst. Es ist die Unmittelbarkeit der Sorge, die uns umtreibt, wenn wir Kinder haben, wenn wir alte Eltern begleiten, wenn Freunde in Not sind. Es ist mehr: Es ist der Modus der liebevollen Zuwendung, in dem wir Menschen sind, in dem wir Menschen werden, in dem wir Menschen bleiben – natürlich immer nur im besten aller Fälle. Und ich erinnere an den Horrortrip ins Niemandsland (Karl Otto Hondrich), der uns droht, wenn wir aus allen Herkunftsbindungen fallen – ihnen gar entfliehen wollen. Daher an dieser Stelle ein Werben um mehr Respekt. Es ist der Begriff der „gelangweilten Omis“, der mich irritiert. Es mag gelangweilte Omis geben; aber lange nicht so viele, wie engagierte, dankbare und liebevolle Omis und Opis! Wenn wir das nicht mehr sehen können/wollen stecken wir unumkehrbar in jenen Individualisierungsschüben, die eine ambivalente Seite spätkapitalistischer und postmoderner Lebensart kennzeichnet.
Die Frage, die wir mit Konieczny und Stoßberger (und so vielen anderen) stellen müssen, lautet vielmehr: Was ist das gute Leben? Das ist die richtige Frage. Und der Horizont, der gemalt wird, erscheint verheißungsvoll, und er ist erstrebenswert:
„Doch was wäre, wenn wir ein Wohlstandsverständnis zugrunde legen, das sich nicht ausschließlich aus der Sphäre Erwerb speist, sondern auch einen Wohlstand beschreibt, der in der Sphäre der Care-Arbeit produziert wird? Ein Wohlstand also, der entsteht, weil wir Zeit haben, um Beziehungen zu pflegen, Zeit für Begegnungen, Zeit, um uns zu engagieren für Menschen, für die Welt und für die Umwelt? Das Ergebnis wäre ein Begriff von (Zeit-)Wohlstand, der das ins Zentrum rückt, was uns im Kern als Menschen ausmacht: Die Sorge füreinander.“
Sie ist eingebettet in die Sorge umeinander! Aber bevor wir hier eine rosarote Welt malen, die nicht weiß, woher sie die rosarote Farbe nehmen soll, noch ein anderer Hinweis, zu der Antithese, die sich in der konfrontativen Überschrift des Beitrags von Esther Konieczny und Lena Stoßberger manifestiert:
»sorgt euch! …und hört auf, euch zu vereinbaren.«
Immanuel Kant wird der Aphorimus zugeschrieben: "Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden." ( Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht ). Der Misantroph Kant ermuntert die Menschen, wenn sie einander schon nicht lieben können, so sich doch immerhin zu achten. Geht auch dies nur noch bedingt – ach wir sind ja alle so kränkungsempfindliche Wesen –, dann empfiehlt Kant, um die eigene Triebhaftigkeit und daraus drohenden Kontrollverlust abzuwenden, Verträge zu schließen: Rechtsförmig gilt eine Vereinbarung zwischen zwei oder mehreren Parteien (auf mündlichem oder schriftlichem Weg) als Vertrag. Ohne Verträge fällt eine globalisierte und zutiefst dem Individualismus unterliegende (Welt-)Gesellschaft ins absolute Chaos.
Hieraus kann nur die Empfehlung folgen: Sorgt euch – und schließt Verträge.
Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als sei mir der Unterschied zwischen dem, was Konieczny/Stoßberger meinen, und dem hier eingeführten Vertragsbegriff entgangen. Zumindest will ich anmerken, dass ich dem Appell folgen kann, wenn er meint: Hört auf, euch unbotmäßig zu arrangieren mit Widersprüchen, die ihr nicht lösen könnt, die aber sehr wohl auf eurem Buckel ausgetragen werden!
Gewiss ist auch in diesem Sinne der gute Wille ein hohes Gut. Aber sich an seinen eigenen guten Willen zu erinnern und die Versprechen/Zusagen anderer einzufordern, dazu helfen rechtsförmige Vereinbarungen im Falle des Leugnens, des Vergessens – auch des Lügens. Zivilgesellschaften sind keine dem Gesetz des Blutes und des Bodens unterliegenden Zwangsgemeinschaften mehr (wonach sich heute gewisse Spacken offenkundig wieder sehnen. Sie sind aber auch keine Orte der Seligen. Wie gesagt gegen das Recht des Stärkeren helfen nur Verträge – und die im Übrigen auch nicht immer, wie der Kriegsverbrecher Wladimir Putin seit dem 22. Februar 2022 Tag für Tag unter Beweis stellt.
Karl Otto Hondrich – zugegeben bis zu seinem allzu frühen Tod 2007 ein junger Alter (weißer Mann) -sei einmal mehr mein Kronzeuge: Rauft euch zusammen – zur Not mit Hilfe von Verträgen!
Zwei Hinweise zur ungebrochenen Aktualität von Familie, die trotz allen dynamischen Wandels nicht kleinzukriegen ist: