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Das Ende der Geborgenheit – einem Bericht Helga Schuberts nachempfunden

„Es ist die Aufgabe der Friedfertigen dieser Erde, die Gewaltbereiten mit gutem Vorbild und Argumenten von der besseren Alternative (friedvolles Miteinander) zu überzeugen.“

Das schrieb mir heute ein Freund zum heutigen Tag (85 Jahre nach Beginn des Zeiten Weltkriegs). Es bedürfe einer Friedenskultur. Die beginne bekanntlich im Kleinen und könne sich dann im Idealfall nach dem Prinzip der konzentrischen Kreise weltweit ausdehnen. Der Idealist wird dem folgen können; der Realist wird darauf hinweisen, dass es dabei um nichts Geringeres gehen könne als Abstand zu nehmen von Weltbildern erster Ordnung. Mein Freund und ich waren Lehrer und sind uns einig, dass dies nicht denkbar ist ohne eine umfassende Bildung zu der auch Herzensbildung gehört.

Peter Sloterdijk weist darauf hin, dass jene,

„die für sich einen höheren Ernst reklamieren, weil sie als Fürsprecher einer Realität erster Ordnung auftreten“ – in der Regel distanzlos agieren. Eine distanzierte Grundhaltung – eingedenk unvermeidbarer blinder Flecken – fördere hingegen „eine Neigung zum Desengagement von fixen Meinungspositionen“. Hier komme zum Tragen, was Niklas Luhmann eine Haltung der Selbst-Desinteressierung nennt. Warum dies so ungemein wichtig ist, wird überdeutlich in der von Peter Sloterdijk vorgenommenen Unterscheidung von Weltbildern erster Ordnung auf der einen Seite und einer Haltung, die den Realitätsglauben als auswechselbare Größe begreift, auf der anderen Seite: „Denn es geht hier, möchte ich vermuten, um nichts Geringeres als das allen Weltbeschreibungen erster Ordnung inhärente Paranoia-Potential und die von ihm gebundene und entbundene Gewalt. Wo immer Menschen anfangen, ihre Weltbilder distanzlos zu bewohnen und ihre Einteilungen des Seienden im Ganzen als eine Arena realer Kämpfe zu erleben, dort sind sie der Versuchung ausgesetzt, für ihre Identitätskonstrukte bis zum bitteren Ende zu kämpfen und für ihre Fiktionen zu töten.“ (Peter Sloterdijk, in: Luhmann Lektüren, Berlin 2010, S. 153)

Ich möchte eine Geschichte erzählen – nachdem mich Plötzensee in meinen Träumen und Jugenderinnerungen wieder einholt. Ich entnehme sie: Helga Schubert (siehe auch hier), Judasfrauen – Zehn Fallstudien weiblicher Denunziation im Dritten Reich (1990 Aufbau-Verlag, Berlin und 1992 Deutscher Taschenbuch Verlag, München)

Ich wähle aus: Das Ende der Geborgenheit, Seite 85-91 – sechs Seiten reichen aus, um auf unfassbar unbegreifliche wie ergreifende Weise zu erzählen, warum der Pianist Karlrobert Kreiten am 7. September 1943 in der Hinrichtungsstätte Berlin-Plötzensee im Alter von 27 Jahren erhängt wurde. Er war in dieser Nacht einer von einhundertsechsundachtzig zum Tode Verurteilten, den „die schließlich völlig erschöpften Henker in Gruppen zu acht so schnell töteten, dass keine Zeit für einen Abschiedsbrief blieb und dem Gefängnisgeistlichen kaum Zeit für ein tröstliches Wort.“

Karlrobert Kreiten sprach den Geistlichen von sich aus an. Er notierte seine letzten Grüße, an die Eltern, an seine Grand’maman und Schwester. Er war erst vier Tage zuvor wegen Feindbegünstigung und Wehrkraftzersetzung vom Volksgerichtshof in Berlin zum Tode verurteilt worden. Weder Angehörige noch ein Rechtsbeistand wusste von diesem Gerichtstermin. Dies verhinderte ein Aufschub erwirkendes Gnadengesuch.

Die Geschichte, die sich dahinter verbirgt möchte ich noch einmal meinem Freund ans Herz legen, um vielleicht noch einmal zu erwägen, idealistische Träumereien von realistischen Perspektiven zu unterscheiden. Wir haben uns immer an der Realität eines homo homini lupus est entlang gequält.

Die Umstände von Karlrobert Kreitens Verhaftung, Verurteilung und Hinrichtung führten zu der gleichermaßen unwürdigen wie erbarmungswürdigen kafkaesken Situation, dass Mutter und Schwester schließlich am 8. September zur Berliner Reichskanzlei vordringen konnten, wo man ihr Gnadengesuch entgegennahm und versprach, das Justizministerium über die vorgeschriebene vorläufige Aussetzung der Urteilsvollstreckung zu informieren: Karlrobert Kreiten war da bereits seite einem Tag tot!

Helga Schuberts Recherchen zufolge war eine Woche in der gleichgeschalteten Presse und an den Litfaßsäulen zu lesen:

„Am 7. September 1943 ist der 27 Jahre alte Pianist Karlrobert Kreiten aus Düsseldorf hingerichtet worden, den der Volksgerichtshof wegen Feindbegünstigung und Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt hat. Kreiten hat durch übelste Hetzereien, Verleumdungen und Übertreibungen eine Volksgenossin in ihrer treuen und zuversichtlichen Haltung zu beeinflussen gesucht und dabei eine Gesinnung an den Tag gelegt, die ihn aus  der deutschen Volksgemeinschaft ausschließt.“

Was hat Karlrobert Kreiten getan?

Helga Schubert geht der Frage nach, wer diese Volksgenossin war? Sie war eine Schulfreundin seiner Mutter. Gemeinsam mit ihr war sie Gesangsschülerin am Saarbrücker Konservatorium gewesen und lebte nun in Berlin. Sie hatte ihm den Musik- und Übungsraum in ihrer Wohnung angeboten. Aber der Reihe nach.

Wer war Karlrobert Kreiten?

„An Wohlwollen und Unterstützung war der 26jährige gewöhnt. 1916 in Bonn als Sohn eines später in Düsseldorf tätigen Konzertpianisten, Dozenten und Komponisten und einer Konzertsängerin geboren, war in einem sehr liebevollen und musischen Klima aufgewachsen. Seine Großmutter, von französischen Eltern stammend, in Spanien geboren, vielseitig gebildet und interessiert, früh verwitwet, liebte den Enkel über alles, überwachte den Klavier- und Geigenunterricht des Vorschulkindes, lehrte ihn die französische Sprache, das Einmaleins und das deutsche ABC. Später, als er schon als berühmter Pianist in Berlin lebte, führte sie ihm und seiner Schwester, einer Schauspielschülerin, die Wirtschaft und erledigte seine berufliche Korrespondenz.“

Karlrobert Kreiten war ein hochbegabtes Kind, das bereits mit elf Jahren Aufsehen erregte, als im Kaisersaal der Düsseldorfer Tonhalle Mozarts A-Dur-Klavierkonzert in einer Rundfunkübertragung spielte; schon mit 13 Jahren Studium an der Musikhochschule Köln. Mit 16 gewann er in Wien einen Wettbewerb, an dem 1000 Pianisten teilnahmen – im selben Jahr gewann der den „Großen Mendelssohn-Preis. Auf Anraten Wilhelm Furtwänglers Rat zog er nach Berlin – zusammen mit seiner Schwester und seiner Großmutter. Im März 1943 sollte der gemeinsame Umzug in eine größere Wohnung erfolgen:

„Das ruhige Musikzimmer bei der Freundin seiner Mutter war sicher eine Oase im Chaos von Einwickeln und Einpacken. (Und wieder war es eine mütterliche, kunstinteressierte Frau, die sich um Karlrobert Kreiten bemühte).“

Karlrobert Kreiten wusste nicht, dass diese Frau eine überzeugte Nationalsozialistin war. „Er gab der Versuchung nach, mit ihr über das Wesen des Nationalsozialismus, so wie er es sah, über Hitler und die Kriegslage zu reden.“

Er sagte – so gibt es Helga Schubert wieder:

  • Hitler sei krank, und einem solchen Wahnsinnigen sei nun das deutsche Volk ausgeliefert!...
  • In zwei bis drei Monaten werde Revolution sein, und dann würden Hitler, Göring, Goebbels und Frick einen Kopf kürzer gemacht.
  • Der Krieg sei praktisch verloren, was zum Untergang Deutschlands und seiner Kultur führen werde.

Ellen X. (so bei Helga Schubert benamt) sei entsetzt gewesen und habe sich ihren Freundinnen anvertraut:

„Die Anzeige wurde von allen dreien Mitte März 1943 bei der Reichsmusikkammer eingereicht“ – eine Woche vor einem geplanten Konzert Karlrobert Kreitens.

Helga Schubert vermerkt mit Blick auf die Anzeige:

„Aber nichts passierte. Die Reichsmusikkammer hatte die Denunziation nicht weitergeleitet.“

Und das geplante Konzert fand am 23. März 1943 statt. Die Frauen warteten vergeblich auf die Verhaftung Kreitens:

„Als sie sechs Wochen nach ihrer Anzeige, Ende April 1943, in der Zeitung lasen, dass Karlrobert Kreiten am 2. Mai 1943 zu einem Konzert nach Florenz verpflichtet sei, verloren sie die Geduld …] Sie erstatteten eine zweite Anzeige. Diese von Ellen X. ausgehende und von Annemarie Y. geschriebene Anzeige wurde von Tiny Z. an ihre frühere Dienststelle, das Propagandaministerium, geleitet und kam von dort zur Gestapo. Karlrobert Kreiten besuchte zu dieser Zeit seine Eltern in Düsseldorf, macht mit einem befreundeten Mädchen einen Ausflug ins Siebengebirge und wartete auf das Visum für Italien. Es wurde ihm nicht mehr erteilt.“

Kreiten bereitete sich auf eine Konzertreise vor, die in Heidelberg starten sollte.

„Aber als das Publikum am 3. Mai in das seit langem ausverkaufte Konzert im Großen Universitätssaal kam, hin an der Eingangstür ein kleiner Zettel: >Kreiten-Konzert fällt aus.< Die Gestapo hatte ihn morgens um 8 Uhr in seinem Heidelberger Hotel verhaftet. Nach zwei Wochen wurde er ins Gestapo- Gefängnis nach Berlin gebracht und dort seiner Verräterin gegenübergestellt. Was mochte die Frau empfunden haben, als sie in das hungrige und zerschlagene Gesicht des Sohnes ihrer Freundin blickte? Er glaubte an einen guten Ausgang, übte jeden Tag auf dem Tisch seine Sonaten, kam ins Untersuchungsgefängnis des Gerichts, schöpfte neuen Mut, übte, hungerte, schrieb Briefe, freute sich auf den Urlaub mit seiner Freundin, durfte Besuch von seinen Angehörigen empfangen, gab der Großmutter Ratschläge fürs Frühstück: sie solle zur Stärkung Haferflocken essen.

Am 3. September 1943 wurde er zum Tode verurteilt.“

Die geschilderten Ereignisse - im März 1943 - fallen im Übrigen mit der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad zusammen.

Dass Helga Schubert hier nur die Vornamen nennt und ansonsten die Nachnamen lediglich mit X Y Z anmerkt, soll uns vermutlich daran erinnern, dass die geschilderte Form der Denunziation in totalitären Regimes nahezu ein Allerweltsphänomen darstellt(e).

Und, lieber Freund, kann mir jemand den Unterschied zwischen Alexei Nawalny und Karlrobert Kreiten erklären? Du sprichst vom „Idealfall“. Wo existiert der Idealfall? Neben dem ermordeten Nawalny und den soeben Freigepressten gibt es in Russland, in Weißrussland, in China so unfassbar viele Namenlose, die Opfer von Realpolitik sind. Zeigt sich die Demokratie nicht wehrhaft, wird sie untergehen!

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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